Theologie

Warum flieht die heilige Familie nach Ägypten?

Darstellung der "Flucht nach Ägypten", Säulenkapitell aus dem 12. Jahrhundert an der Kathedrale von Autun im französischen Burgund
Darstellung der "Flucht nach Ägypten", Säulenkapitell aus dem 12. Jahrhundert an der Kathedrale von Autun im französischen Burgund © imago / INSADCO
Thomas Söding im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 25.12.2016
Weil König Herodes alle kleinen Jungen töten will, flieht die heilige Familie kurz nach Jesus' Geburt nach Ägypten. Das Matthäusevangelium erzählt davon, die Apokryphen schmücken die Geschichte aus. Der Theologe Thomas Söding über die religiöse und historische Bedeutung der "Flucht nach Ägypten".
Anne Françoise Weber: Im Matthäusevangelium gibt es diese Geschichte, in der ein Engel Josef im Traum erscheint. Er warnt ihn vor König Herodes und fordert ihn zur Flucht nach Ägypten auf. Diese Fluchtgeschichte wollen wir uns jetzt einmal genauer anschauen. Dazu habe ich vor der Sendung mit Thomas Söding gesprochen, Professor für Neues Testament an der katholisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Er hat zusammen mit seinem in Luzern lehrenden Kollegen Robert Vorholt ein Buch verfasst mit dem Titel: "Das Flüchtlingskind in Gottes Hand".
Im Grunde sind es im Matthäusevangelium nur wenige Verse, die diese Episode der Flucht nach Ägypten beschreiben, die anderen Evangelien erwähnen sie gar nicht. Auch wenn das theologisch sicher nicht die wichtigste Frage ist, fangen wir doch mal mit dem Blick auf die Fakten an: Für wie historisch gesichert halten Sie die Fluchtgeschichte, Herr Söding?
Thomas Söding: Ja, die Fluchtgeschichte ist so vieles wie in der Weihnachtsgeschichte historisch betrachtet grenzwertig. Denn das Interesse, hier etwas Wichtiges zu erzählen, was von Anfang an Gott und den Menschen Jesus ganz eng miteinander verbindet, ist sehr, sehr stark. Also, man muss sagen: Vom historischen Faktenkern sind wir hier unsicher. Es gibt aber so was wie eine Geschichte der zweiten Ordnung, weil einfach die Überlieferung eine eigene Geschichte ausgelöst hat, und die ist brisant.
Weber: Da kommen wir gleich drauf. Aber sagen Sie mir doch noch mal: Gibt es irgendwelche anderen Quellen, die diese Flucht erwähnen?

Ein historischer Kern der Geschichte ist heute nicht mehr zu erkennen

Söding: Es gibt eine interessante Debatte zwischen Juden und Christen in der Antike über den Flüchtling Jesus. Und der Kern dieser Debatte ist: Wenn Jesus wirklich Gottes Sohn gewesen wäre, dann hätte er nie und nimmer Flüchtling sein können, denn dann hätte ja Gott auf ihn aufgepasst. Und von christlicher Seite her ist dann gesagt worden: Nein, der Gottessohn ist Mensch geworden und auf eine menschliche Art gefährdet worden und auf eine menschliche Art gerettet worden. Und die Tatsache, dass es da eine solche Debatte gegeben hat, die lässt doch nachdenklich werden, einfach zu sagen: Diese ganzen Geschichten gehören ins Reich der Legende, in der Antike hat man mit einem historischen Kern gerechnet, den wir aber heute, müssen wir ehrlich sein, nicht mehr genau erkennen können.
Weber: Und warum jetzt ausgerechnet Ägypten? Also, hätte man sich auch vorstellen können, dass sie nach Norden vor Herodes fliehen? War das die nächstliegende geografische Variante oder hat das doch viel mit dem Alten Testament oder der hebräischen Bibel zu tun, wo sich ja wichtige Geschichten in Ägypten abspielen?
Söding: Ägypten ist brisant, denn Ägypten ist das Sklavenhaus, aus dem das Gottesvolk Israel befreit worden ist. Das ist die große Erzählung zu Beginn der hebräischen Bibel und auch des christlichen Alten Testaments. Aber es gibt immer auch im Alten Testament Zwischentöne, wo Ägypten eine Heimat für die Verfolgten gewesen ist, und an diese Geschichte knüpft jetzt hier das Neue Testament an. Sie haben gerade über Josef gesprochen, es gibt ja auch im Alten Testament den Josef, der nach Ägypten flieht, und in seiner Nachfolge sozusagen steht der neutestamentliche Josef, der jetzt auf einmal Ägypten nicht als Land der Feinde Gottes, sondern als das Land einer ganz interessanten Willkommenskultur entdeckt.
Weber: Im Matthäus-Evangelium gibt es ja auch einen ganz konkreten Verweis auf das Buch des Propheten Hosea wohl. Da steht dann eben: Denn es sollte sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. Wenn man jetzt aber nachliest bei Hosea, dann klingt das ein bisschen anders. Oder man hat jedenfalls nicht den Eindruck, dass sich das da auf einen Messias bezieht, sondern es heißt: Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten. Wieso kann man das auf Jesus beziehen?
Söding: Weil Jesus selber ein Jude ist, weil Jesus sich mit Israel identifiziert hat. Aber Sie haben vollkommen recht, der Rekurs im Neuen Testament auf das Alte Testament ist nicht so, dass einfach eins zu eins der buchstäbliche Ursprungssinn rekonstruiert werden könnte, sondern das ist eine Art kreativer Interpretation, so wie das auch für das zeitgenössische Judentum ganz typisch gewesen ist. Man versucht, die Aktualität eines alten Textes dadurch zu entdecken, dass man sie auf ein neues Ereignis bezieht, und das geschieht hier auch so. Das ist ein wechselseitiger Dialog, einerseits wird gesagt, ja, lies doch mal diese hoseanische Prophetie vor dem Hintergrund der Jesus-Geschichte und dann entdeckst du neue Dimensionen, und umgekehrt bezieh doch die Jesus-Geschichte mal auf diese alttestamentliche Erzählung, dann erkennst du, dass Jesus kein Solitär ist, sondern dass er mitten in das Gottesvolk Israel hinein gehört und dass er die großen Verheißungen personifiziert, die Gott jenseits aller Schuld und jenseits allen Krieges und jenseits aller Not diesem Volk mit auf den Weg gegeben hat.
Weber: Sie haben jetzt schon den alttestamentlichen Josef erwähnt. Mose ist doch auch eine ganz wichtige Gestalt, die Israel ja auch irgendwie erlöst aus dieser Unterdrückung in Ägypten. Wird da auch eine Parallele konstruiert von Mose zu Jesus?

Konflikt zwischen Ägypten und Israel

Söding: Ja, das wird es. Mose trägt ja interessanterweise einen ägyptischen Namen, Jesus trägt einen jüdischen Namen, der Name heißt auf Deutsch "Gott hilft". Aber Jesus ist - so wie Mose eben halt - aufgewachsen in Ägypten. Man kann also mit gewisser Zuspitzung sagen: Jesus, der Ägypter. Und die ägyptischen Christen, die verweisen ganz stark auf diese, wir würden sagen legendarischen, aber doch wichtigen Überlieferungen, weil sie sagen, Jesus gehört zu uns, wir gehören zu Jesus, das Land am Nil ist nicht sozusagen das fremde Exil, sondern ist die Heimat des Messias selbst. Also, da erweitern sich die Horizonte, da begegnen sich auch unterschiedliche Kulturen. Und der sublime Text dieser Weihnachtsgeschichte ist: Also, es ist möglich, von Gott her Frieden zu stiften zwischen Ägypten und Israel.
Weber: Sie sagten schon, die ägyptischen Christen beziehen sich sehr stark auf diese Geschichte. Es ist ja auch so, dass es in Ägypten viele Orte gibt, wo gesagt wird, hier hat Maria geruht oder hier haben sie den Nil überquert oder sonst was. Sind das denn Traditionen, die wirklich sehr weit zurückgehen, oder ist das in neuerer Zeit entstanden, dass man da so einzelne Geschichten noch dazu erfunden oder gefunden hat, sagen wir es mal so?
Söding: Jetzt sind wir in dem Bereich der sogenannten Apokryphenevangelien. Die vier neutestamentlichen Evangelien bilden ja nicht das Ende der Gattung Evangelium, sondern haben wie eine Initialzündung gewirkt, man hat immer neue Evangelien erzählt, historischer Quellenwert ist gegen null. Aber die Popularität dieser Geschichten ist sehr, sehr wichtig und ein wichtiges Thema waren die Kindheitsgeschichten. Und innerhalb dieser Kindheitsgeschichten ist in der Tat die Flucht nach Ägypten ein großes Thema. Und auf dieser Historizität zweiter Ordnung ist es jetzt interessant zu schauen: Wie wird Ägypten in diesen Apokryphen-Evangelien dargestellt, welches Verhältnis hat Jesus zu Ägypten? Und dann lässt sich eine interessante Gedächtnisspur aufzeichnen, nämlich dass Jesus jetzt nicht etwa wie so ein prophetischer Eiferer mit dem Flammenschwert zur Ägypten zieht und alles dort vernichtet, was sich also gegen Gott richten mag, sondern dass es da doch eine Fülle von Begegnung, von Segen und so weiter gibt. Und für die Christen in Ägypten ist das der Ausweis, dass sie in diese Landschaft hineingehören und dass für sie das Evangelium nicht irgendwie fremd ist, sondern Teil ihrer eigenen Heimat, ihrer Identität, zu ihrer Seele gehört.
Weber: Und dass da auch schon ein Kontakt mit anderen Religionen stattgefunden hat, der nicht unbedingt konfrontativ war.

Apokryphen berichten von der Gastfreundschaft der Ägypter

Söding: Der nicht nur konfrontativ war. Man muss sagen, dass also der – so heißt es in der Sprache –, der Götzendienst der Israeliten, das ist ja nicht die heutige religiöse Situation in Ägypten, dass der immer schon also auch wie ein Schatten über dieser Landschaft drohte, aber die Kräfte Gottes, Heil zu wirken, sind größer. Und das zeigt sich an zwei Stellen in diesen Apokryphenevangelien immer wieder. Erstens: Es gibt Gastfreundschaft, die heilige Familie wird aufgenommen, übrigens sehr oft von Armen, von Witwen; und zum Zweiten: Ägypten ist eine fruchtbare Landschaft in den Apokryphen-Evangelien, die reichen Segen spendet, natürlichen Segen, sodass sich die Familie unterwegs ernähren kann. Das ist jetzt kein Paradies auf Erden, aber doch nicht einfach sozusagen eine Todeszone, in der man überhaupt nicht überleben kann.
Weber: Jetzt ist ja die Frage: Was bedeutet das für uns hier in Europa heute? Der Brandenburger AfD-Landtagsabgeordnete Steffen Königer hat vor Kurzem in einer Auseinandersetzung mit der Kirche gesagt, Jesus sei kein Flüchtling gewesen, wie zur Weihnachtszeit doch häufig behauptet werde, sondern ein Dissident, der gegen die Mächtigen seiner Zeit gestanden habe. Fehlt es dem Herrn an theologischer Kenntnis oder ist das vielleicht auch so ein bisschen Abwehrreaktion, weil man den Eindruck hat, diese Flüchtlingsgeschichte aus dem Neuen Testament, daraus wird dann gleich eine ethische Haltung der Kirche abgeleitet?
Söding: Vielleicht ist das ja gar kein Widerspruch, einerseits ein Flüchtling zu sein und andererseits auch ein Dissident zu sein. Das Wort Dissident legt das ja durchaus nahe. Nein, also, ich würde in erster Linie jetzt mal Jesus nicht aus einer Antihaltung, sondern aus einer Prohaltung erklären. Die ganze Geschichte Jesu ist eine Geschichte für Gott und für die Menschen, dass Gottes Liebe und Nächstenliebe zusammengehören. Und diese Verbindung von Religiosität und Ethik, die prägt auch die Erinnerung und dann auch die Ausmalung dieser Kindheitsgeschichte. Ich würde nicht in erster Linie über Ethik gehen, ich würde zunächst mal sagen: Die Horizonte öffnen sich, in denen sich die Gottesgeschichte unter den Menschen, so ja das christliche Glaubenszeugnis abgespielt hat, die Heimat ist Israel, die Verbindung mit dem Judentum ist stark, aber sie ist nicht exklusiv zu verstehen, sondern sie ist so zu verstehen, dass alle Welt auf diese Gottesgeschichte hin angesprochen wird und sich dann eben halt überlegen kann, ob sie mitmachen will oder ob sie nicht mitmachen will. Und dass dann die Kirchen allerdings sagen, dass daraus die Notwendigkeit politischer Solidarität und auch karitativer Solidarität erwächst, das halte ich nun allerdings für unabweisbar, egal jetzt wie man sich auf das christliche Abendland beziehen mag oder nicht beziehen mag.
Weber: Vielen Dank, Thomas Söding, Professor für Neues Testament an der Ruhruniversität Bochum. Und zusammen mit Robert Vorholt Verfasser des Buches "Das Flüchtlingskind in Gottes Hand. Die Aktualität der Weihnachtsbotschaft", erschienen im Patmos-Verlag, 126 Seiten, knapp 13 Euro.
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