Theologe Mitri Raheb

Streitbarer Anwalt der palästinensischen Sache

Porträt von Mitri Raheb.
Der evangelische Theologe Mitri Raheb © Mitri Raheb
Mitri Raheb im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 17.02.2019
Er ist Palästinenser, Pfarrer in Bethlehem, er arbeitet für Versöhnung und er vertritt auch Thesen, die Streit erzeugen: Der evangelische Pfarrer Mitri Raheb ist eine wichtige Stimme im Konflikt um die Zukunft der Palästinenser.
Kirsten Dietrich: Es gibt manche Interviewpartner, da überlegt man länger, ob man sie wirklich einlädt. Mitri Raheb ist so jemand. Einerseits ist der Theologe und evangelische Pfarrer eine wichtige Stimme unter den Christen im Nahen Osten. In Bethlehem betreibt er seit mehr als 30 Jahren ganz praktische Bildungs- und Versöhnungsarbeit. Andererseits ist da auch Mitri Raheb, der scharfe Kritiker der Politik Israels in den besetzten Gebieten. Raheb vertritt im Nahostkonflikt vehement die Seite der Palästinenser. Er schreckt vor Begriffen wie "Staatsterrorismus" nicht zurück und hat Israel auch schon mit dem südafrikanischen Apartheidsstaat verglichen – und ist dafür zu Recht kritisiert worden.
Aber er ist eben auch eine wichtige Stimme, vor allem als Vertreter der Christen unter den Palästinensern, und deswegen habe ich ihn vor dieser Sendung zum Interview getroffen. In der letzten Woche war Mitri Raheb auf Einladung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Er redete bei einer Veranstaltung zur Situation der palästinensischen Christen. Raheb hat zusammen mit der Adenauer-Stiftung dazu in den besetzten Gebieten wie auch in den autonomen Palästinensergebieten Umfragen gemacht. Ich wollte von ihm wissen, ob die ja doch sehr unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften und Kirchen in Israel und den palästinensischen Gebieten überhaupt etwas verbindet, ob sie am gleichen Strang ziehen.
Mitri Raheb: Natürlich haben sie ganz unterschiedliche Interessen, dennoch gibt es eine ökumenische Zusammenarbeit. Die funktioniert manchmal besser, manchmal nicht so gut, aber heute ist die Atmosphäre, würde ich sagen, besser als, ich sage mal, vor 30 Jahren.
Dietrich: Ich habe in einem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" die eher pessimistische Diagnose gelesen, dass der Nahostkonflikt auch die Christen spaltet. Das würden Sie so nicht sehen.
Raheb: Nein, würde ich so eigentlich nicht sehen. Also, ich glaube, was Politik angeht, die meisten Christen ziehen am gleichen Strang, es sei denn, es gibt ein paar andere, ganz kleine christliche Gruppen, die unter dem Einfluss von Netanjahu in Israel gelandet sind, und die versuchen, außerhalb der größeren Zusammenarbeit zu stehen.

In Bethlehem ist jeder Vierte arbeitslos

Dietrich: Sie selber leben und arbeiten in Bethlehem, das ein bisschen eine Ausnahmesituation hat, wenn man sich die Christen anschaut, weil da ein gutes Viertel der Bevölkerung noch christlich ist. Wie sieht denn da die Lage aus?
Raheb: Also, die Lage ist natürlich nicht so einfach, weil Bethlehem sozusagen umgeben ist von 22 israelischen Siedlungen. Die haben uns das ganze Land von Bethlehem weggenommen. Betlehem ist von drei Seiten von einer hohen Mauer umzingelt. Die Menschen haben wenig Bewegungsfreiheit. Bethlehem hat dadurch die höchste Arbeitslosenquote – 24,6 Prozent, also jeder Vierte ist eigentlich arbeitslos. Das macht die Lage nicht so ganz einfach.
Pfarrer Mitri Raheb aus Bethlehem bei der Predigt
Mitri Raheb beim Gottesdienst in der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche von Bethlehem © imago/epd
Dietrich: Sie haben zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung vor anderthalb Jahren Zahlen erhoben zur Situation. Da sind Sie zu dem Ergebnis gekommen, dass ein gutes Viertel der Christen und ein knappes Viertel der Muslime in Bethlehem mit Auswanderungs-, Abwanderungsgedanken spielen.
Raheb: Also es war nicht nur Bethlehem, diese Studie hat West Bank und Gaza eigentlich erfasst, und in der Tat, 28 Prozent der befragten Christen, 24 Prozent der befragten Muslime haben gesagt, sie würden auswandern, wenn sie dazu die Möglichkeit heute hätten.
Dietrich: Warum? Was sind die Gründe dafür, die sie angeben?

Ein Viertel will gehen

Raheb: Die zwei Gründe, die vor allem genannt wurden, einmal die israelische Besatzung, keine Freiheit et cetera und die wirtschaftliche Lage, weil natürlich heute in dieser globalisierten Welt sieht man, wie man leben könnte im Ausland und viele dann sagen, also wieso da bleiben. Wenn mein Großvater und mein Vater und ich unter unterschiedlichen Besatzungen leben, ob osmanisch, britisch, israelisch, und ein Ende ist nicht in Sicht, dann sagt man sich, also warum hierbleiben. Das, leider, betrifft fast ein Viertel der Bevölkerung.
Dietrich: Arbeiten Sie aktiv dagegen an?
Raheb: Natürlich ist es sehr schwierig, dagegen aktiv zu arbeiten, denn weil eine politische Alternative fehlt, weil eigentlich kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist, ist es sehr schwierig heute, den Menschen zu sagen: bleibt. Das einzige, was ich machen kann, A, ist selbst zu bleiben – das ist wichtig –, und zweitens mit den Menschen zu reden, wenigstens damit sie wissen, dass auch im Ausland nicht alles so rosig aussieht, wie man es sich vielleicht vorstellen könnte.
Dietrich: Sie sind selber ja durchaus auch jemand, der Wirtschaftskraft in Bethlehem vertritt. Also Sie haben das Dar Al-Kalima-Kolleg gegründet. Dazu gehören eine Schule, eine Gesundheitsstation, ein Restaurant, eine Universität für Kunst und Kultur. Was ist das für ein Projekt?

Kirchliche Einrichtung ist drittgrößter Arbeitgeber vor Ort

Raheb: Also die Idee war, dass wir als Christen da uns einfach in der Zivilgesellschaft engagieren sollen im Bereich Bildung, Ausbildung, Weiterbildung, um den Menschen wirklich Lebensperspektiven zu geben. Also, ich bin gerne Prediger, aber ich meine, die Menschen wollen mehr als Worte, und wenn man diese Predigten nicht wirklich in Taten umsetzen könnte, verliert man da wirklich an Vertrauen. Deshalb haben wir all diese Institutionen in den letzten 25 Jahren gegründet. Wir sind in der Tat heute der drittgrößte Arbeitsgeber in der Bethlehemer Region, und vor allem: Es gelang uns wirklich, nicht nur den Menschen eine Lebensperspektive zu geben, sondern auch sehr viele von den gut ausgebildeten Christen, aber auch Muslime nicht nur im Land zu behalten, sondern sogar einige aus dem Ausland zurückzuholen, dass sie an diesem interessanten Projekt arbeiten.
Dietrich: Sie arbeiten mit der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen, sie sind hochausgezeichnet mit Preisen – Aachener Friedenspreis 2008, deutscher Medienpreis 2011 –, und gleichzeitig begleiten Sie immer wieder Vorwürfe einer latenten Judenfeindlichkeit, dass Sie in Ihrem Aktivismus für die palästinensischen Christen, für die Palästinenser überhaupt über das Ziel hinausschießen, in dem Sie zum Beispiel Israel mit dem Apartheidsregime in Südafrika vergleichen. Wie gehen Sie mit diesem widersprüchlichen Bild um? Wie erklären Sie sich das?

Versöhner oder Spalter?

Raheb: Das ist überhaupt kein Widerspruch. Also erstens, das sind Vorwürfe von einigen, entweder Leute, die zu sehr von der israelischen Propaganda sozusagen beeinflusst sind oder von ganz rechtsradikalen Evangelikalen, die sozusagen glauben, dass das, was dort geschieht, eine Erfüllung der Verheißung ist. Meine Aufgabe besteht darin, einmal für Hoffnung in Palästina zu sorgen. Das ist sehr wichtig. Zweitens, dass die Bibel nicht gegen uns gebraucht wird. Also wir sind nicht sozusagen die Kanaaniter, die da einfach geschlachtet werden sollen, um Platz für Israel zu machen. Das darf theologisch so nicht stehenbleiben.
Und drittens, indem ich mich an das internationale Menschenrecht halte, das sagt, ein Palästinenser hat genauso Recht wie ein Israeli. Das Leben eines Palästinensers ist nicht weniger wert vor Gott oder vor den Menschen als das von einem Juden. Also, ein Unrecht nenne ich bewusst Unrecht. Und ich denke, wenn man etwas vom Holocaust gelernt hat, von der deutschen Geschichte: man soll nicht schweigen, und das versuche ich zu machen. Die Leute, die sozusagen mich zum Schweigen bringen wollen, die haben von der Geschichte nichts gelernt.
Dietrich: Trotzdem machen Sie das aus einer sehr deutlichen klaren Perspektive, die zumindest, finde ich, manchmal sehr einseitig ist. Also ich habe mir in der Vorbereitung das sogenannte Kairos-Palästina-Papier noch mal angeschaut, das haben Sie mit anderen christlichen Gemeinschaften 2009, also vor zehn Jahren, maßgeblich mitveröffentlicht. Und da geht es um die schwierige, um die bedrückende Lage der palästinensischen Christen in Israel, in den besetzten Gebieten. Wenn man sich das so durchschaut, dann, finde ich, ist schon eine gewisse Einseitigkeit des Blickes erkennbar. Also Gewalt wird nur von Seiten Israels thematisiert, und Bedrohung zum Beispiel durch Antisemitismus kommt eigentlich gar nicht wirklich vor.

Gewalt gegen Unrecht muss im Rahmen des Völkerrechts bleiben

Raheb: Also einseitig kann man es nicht bezeichnen. Wenn man in Palästina lebt, da sind das die Fragen, die die Menschen dort beschäftigen. Damit sollen wir uns beschäftigen. Wir leben dort nicht in Deutschland, sondern wir leben dort in Palästina. Wir leben unter der israelischen Besatzung. 86 Prozent unsres Landes in Bethlehem wurde enteignet von Israel. Das muss man beim Namen nennen. Wenn man da nicht klare Worte sagt, denke ich, dann wird man eigentlich schuldig.
Dietrich: Welchen Platz hat darin die Gewalt, die von palästinensischer Seite gegen israelische Juden und Jüdinnen ausgeht?
Raheb: Also ich meine, auch in diesem Kairos-Dokument unterscheiden wir da zwischen unterschiedlichen Sachen. Also, wir sagen, unterdrückte Völker, besetzte Länder haben das Recht, sich zu wehren, aber zu wehren nur mit Mitteln, die nach internationalem Recht bewilligt sind. Wir sind ganz klar gegen Selbstmordattentate oder Leute, die auf die Zivilgesellschaft gerichtet sind, weil wir sagen, Gewalt ist eine Kultur, und wir möchten, dass diese Kultur sich nicht breitmacht in Palästina.
Dietrich: "Hope is what we do", also frei übersetzt: Hoffnung ist unser Geschäft, das ist das Motto Ihrer Fundraising-Organisation für Ihre Universität. Was heißt denn in so einer Situation Hoffnung für Sie konkret?
Raheb: Also, das heißt, ich unterscheide zwischen Hoffnung und Optimismus. Optimismus heißt, morgen wird es besser werden. Aber wenn man die politische Lage sieht, kann man das leider so nicht sagen. Die Lage wird immer schlechter. Hoffnung wird am besten mit den Worten vielleicht Luthers wiedergegeben. Also er sagt: Auch wenn ich wüsste, dass die Welt morgen untergeht – und das ist das Gefühl leider vieler Menschen in Palästina –, dass man heute die einzige Möglichkeit hat, heute in den Garten zu gehen, in die Gesellschaft und ganz konkrete Projekte anzugehen, also Olivenbäume zu pflanzen, auch wenn ein Olivenbaum manchmal viele Jahrzehnte braucht, um wirklich ein gutes Öl herzugeben. Aber wenn man heute keine Olivenbäume pflanzt, wird es morgen kein Öl geben, um die Wunden zu heilen. Es wird keinen Schatten geben, wo die Kinder spielen, und es wird auch keine Äste geben, mit denen man winken kann, wenn der Friede soweit ist.
Dietrich: Eine friedliche Zukunftsvision von einem, der für seine scharfe Kritik an Israel auch umstritten ist. Ich sprach mit dem evangelischen Pfarrer Mitri Raheb aus Bethlehem.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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