Theologe Friedrich Wilhelm Graf

"Wir haben Religion notorisch unterschätzt"

Ein Mann liest im Koran
"Wir haben allen Anlass, unser Bild des Islam zu differenzieren", sagt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf. © imago / Westend61
16.02.2015
Immer neue Schreckensmeldungen über islamistischen Terror erschüttern die Welt. Dennoch plädiert der Theologe Friedrich Wilhelm Graf für einen differenzierten Blick auf den Islam - und erinnert an die demokratische Traditionslinie dieser Religion.
Der protestantische Theologe und Publizist Friederich Wilhelm Graf plädiert für ein differenziertes Islam-Bild. Der emeritierte Professor für Systematische Theologie und Ethik forderte im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur, die Vielfalt und die demokratischen Traditionen im Islam sichtbar zu machen. Es gebe auch einen moderaten, an Aufklärung orientierten und demokratiekompatiblen Islam. Auf den Philippinen gebe es beispielsweise eine Demokratie mit islamischer Prägung: "Insofern haben wir allen Anlass, unser Bild des Islam zu differenzieren."
Graf kritisiert "Autoritätskultur" in den christlichen Kirchen
Genauso wie es Vielfalt in der Gesellschaft gebe, gebe es diese auch in den Religionen: "Begriffe wie das Christentum, das Judentum, der Islam sind im Kern wenig hilfreich." Alle drei Religionen seien in sich hochgradig differenziert. "Es gibt nicht das Christentum, es gibt viele Christentümer. Und dasselbe gilt für das Judentum und den Islam", so der Theologe.
Mit Blick auf die christlichen Kirchen sprach Graf von einer "Autoritätskultur", die den Einzelnen bevormunde. "Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir in vielen Formen Freiheitsansprüche und Freiheitsrechte institutionalisiert haben. Wir erleben aber zugleich sehr viel Autoritätskultur in den religiösen Organisationen und Institutionen. Und das ist ein Widerspruch, den viele Menschen nicht ertragen", sagte der Theologe. So wollten Bischöfe beispielsweise den Menschen vorschreiben, wie sie zu sterben hätten. "Das passt einfach nicht in eine freie Gesellschaft", sagte Graf. Jeder sei in den entscheidenden Fragen des Lebens für sich selbst verantwortlich, so Graf. Damit müsse man klarkommen. Mit autoritären Positionen könne im Übrigen keine Beliebigkeit verhindert werden, betonte er.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: In Zeiten, wo Karnevalsumzüge abgesagt werden wie gestern in Braunschweig, weil in diesem Falle wohl offensichtlich Islamisten das nicht ertragen in Deutschland und in Kopenhagen Veranstaltungen und eine Synagoge beschossen werden, muss man sich vielleicht erst recht über das große Thema Religion und Liberalität aussprechen.
Das Thema für ihren Kongress hatten die Veranstalter der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft lange im Voraus geplant, wohl nicht wissend wollen, dass die Aktualität sie damit einholen wird. Ernst Troeltsch war ein großer deutscher Theologe, evangelischer Theologe, 150 Jahre wäre er alt geworden, und er hat sein Leben lang um Liberalität gerungen. Und ähnlich auch sein Nachfahre, Friedrich Wilhelm Graf, emeritierter Theologieprofessor aus München, der auch die christlichen Kirchen mahnt, mehr innerkirchliche Vielfalt zuzulassen - also das, was wir immer vom Islam fordern.
Guten Morgen, Herr Graf!
Friederich Wilhelm Graf: Einen schönen guten Morgen!
Brink: Wo brauchen wir denn mehr Vielfalt?
Graf: Na ja, wir haben sehr viel Vielfalt in der Gesellschaft, aber wir haben Vielfalt auch in den religiösen Organisationen. Begriffe wie das Christentum, das Judentum, der Islam sind im Kern wenig hilfreich, weil alle drei großen monotheistischen Religionen in sich hochgradig differenziert sind. Es gibt nicht das Christentum, es gibt viele Christentümer, und dasselbe gilt für Judentum und Islam.
Brink: Und wo vermissen dann viele Gläubige Ihres Erachtens mehr Freiheit? Das ist ja Ihr großes Thema auch auf diesem Kongress.
Graf: Na gut, wir leben in einer Gesellschaft, in der wir in vielen Formen Freiheitsansprüche und Freiheitsrechte institutionalisiert haben, wir erleben aber zugleich sehr viel Autoritätskultur in den religiösen Organisationen und Institutionen, und das ist ein Widerspruch, den viele Menschen nicht ertragen. Da gibt es Bischöfe, die sagen plötzlich, wie wir zu sterben haben, die uns vorschreiben wollen, dass wir dies und jenes und folgendes zu tun haben, und das passt einfach nicht in eine freie Gesellschaft.
Brink: Besteht denn nicht die Gefahr, wenn man sozusagen diese, ja, wirklich - wenn Sie das Thema Sterben nehmen, zum Beispiel Selbstmord ist ein ganz großes Thema in der katholischen Kirche -, besteht nicht die Gefahr, wenn man das aufgibt, dass auch eine Art von Beliebigkeit um sich greift?
Mit Vielfalt umgehen
Graf: Also der Vorwurf, dass mehr Freiheit mehr Beliebigkeit bedeutet, über diesen Vorwurf wird in unseren Gesellschaften seit mehr als 200 Jahren gestritten. Aber ich schreibe Ihnen doch nicht vor, ob Sie morgens Müsli oder lieber ein Brötchen zum Frühstück essen, da würden Sie auch nicht von Beliebigkeit reden, wenn der eine dies tut und die andere jenes.
Nein, wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die entscheidenden Überlegungen, Optionen mit Blick auf unser Leben vom Einzelnen oder von der Einzelnen selbst zu treffen sind, und dies gilt auch mit Blick auf Religionen. Dass es für religiöse Organisationen und Institutionen dann schwieriger wird, mit dieser Vielfalt umzugehen, das bestreite ich überhaupt nicht, aber ich glaube nicht, dass mit klaren, autoritär definierten eindeutigen Positionen Beliebigkeit verhindert werden kann.
Ich weiß nicht, warum Beliebigkeit so etwas Schlimmes oder Schlechtes sein soll. Wir müssen einfach mit der Tatsache klarkommen und dies akzeptieren lernen, dass in den entscheidenden Fragen unseres Lebens jeder für sich selbst oder jede für sich selbst verantwortlich ist.
Brink: Geben Sie mir doch mal ein Beispiel, gerade in den christlichen Religionen - über den Islam, der auch Thema bei Ihnen auf der Konferenz ist, will ich dann gleich noch zu sprechen kommen.
Formen von Christentum
Graf: Das Christentum hat sich in der Moderne seit 1800 tiefgreifend gewandelt. Früher hatten wir konfessionelle Christentümer: das Alt-Luthertum, den Alt-Calvinismus, also den reformierten Protestantismus, den Katholizismus. In der Moderne seit 1800 hat sich das vielfältig differenziert, und es sind ganz unterschiedliche Formen von Christentum entstanden. Ein bürgerlich-volkschristliches Christentum, das eher in distanzierter Christlichkeit oder Kirchlichkeit gelebt wird - die Menschen gehen Weihnachten in die Kirche, die Menschen nehmen die Passageriten der großen Kirchen in Anspruch.
Das ist eine Form von moderierter bürgerlicher Religion. Ich halte es für eine legitime Form von Christlichkeit. Daneben haben wir sehr strenge Formen des Christentums, alles das, was wir im Moment im Islam erleben - Politisierung der Religion, leider auch gewalttätige oder gewaltbereite Politisierung der Religion, das alles kennen wir auch aus den Christentumsgeschichten der Moderne.
Brink: Ist das heute noch virulent, also so virulent wie im islamischen Glauben?
Graf: Na ja, wir erleben in der Gegenwart nicht nur Europa, aber außerhalb Europas durchaus gewaltbereite Christentümer. Wir haben aber auch religiös motivierte Gewalt in Europa erlebt, denken Sie nur an die Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland.
Brink: Auf Ihrem Kongress, ich hab's schon erwähnt, beschäftigen Sie sich ja auch mit dem Thema "Liberalismus und Islam". Welche positiven Entwicklungen gibt es da? Gibt es sie?
Fraktionen des Islam
Graf: Ja, also es gibt einen Streit unter Islamwissenschaftler, der auch auf dem Kongress ausgetragen werden soll noch einmal, ob es im Islam überhaupt eine Aufklärung gegeben hat. Da gibt es Leute, die sagen, das hat es im 18. Jahrhundert gegeben, andere bestreiten das. Es gibt aber durchaus funktionierende Demokratien mit islamischer Prägung - denken Sie an die Philippinen. Insofern haben wir allen Anlass, auch unser Bild des Islam zu differenzierten.
Wir denken an die gescheiterten islamischen Demokratien, wir denken an das Scheitern des Arabischen Frühlings, wir erleben brutale, widerliche religiöse Gewalt, aber das ist nicht der Islam, der Islam ist in sich hochgradig differenziert, und das Absurde ist oder das Traurige ist, dass Muslime in ihrer Religionsgewalt sich gar nicht richten gegen andere oder vor allem gegen Juden richten, sondern auch unterschiedliche Fraktionen des Islam einander hart bekriegen.
Brink: Wie kann man denn solche Art von Liberalität auch oder diese Diskussion, die Sie auf Ihrem Kongress haben, wie kann man das befördern in Deutschland?
Graf: Na ja, man befördert es zunächst dadurch, dass man Vielfalt sichtbar macht, dass man fragt, wo demokratiekompatible theologische Traditionen im Islam zu finden sind, indem man danach fragt, wer denn mögliche Träger sind, also welche Leute sind das überhaupt, die einen moderaten, demokratiekompatiblen, aufklärungsorientierten Islam befördern wollen.
Da muss man sich unterschiedliche Strömungen anschauen. Das Wichtige ist, überhaupt erst einmal solche Traditionen transparent zu machen. Wir reden in Europa vom Euro-Islam, wir reden von einem demokratiefähigen Islam - wer sind die Leute, die so etwas können und wollen.
Brink: Haben wir uns zu wenig damit beschäftigt in der Vergangenheit?
Graf: Ja natürlich, wir haben Religion notorisch unterschätzt. Wir sind davon ausgegangen, dass wir in einer säkularen, religionsfernen Gesellschaft leben, das hat sich in vielfältiger Weise nicht bewahrheitet.
Brink: Vielen Dank, Friedrich Wilhelm Graf, emeritierter Theologieprofessor aus München. Danke für Ihre Zeit und die Einschätzung!
Graf: Danke sehr!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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