Theatralische Inszenierungen

Von Anette Schneider · 12.11.2008
Das Bucerius Kunst Forum zeigt eine umfangreiche Ausstellung über den Manierismus: Erstmals widmet sich damit hierzulande eine Ausstellung dieser Epoche: 120 Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphik sowie einige Bronzeskulpturen aus den Budapester Kunstsammlungen präsentieren die Zeit zwischen 1520 und 1620.
Nichts ist hier still. Jedes Bild buhlt lautstark um die Aufmerksamkeit der Betrachter, lockt mit theatralischen Inszenierungen, dramatischen Gesten, exaltierten Haltungen und schrillen Farben. Um 1520, ausgehend von Italien, beginnt sich der Manierismus dank Grafik und reisender Künstler schnell in Europa zu verbreiten. So entdeckt man unter den ausgestellten Werken Bilder von Tintoretto, El Greco, Vasari, Jan van Horst und Bartholomäus Spranger.

Kurator Michael Philipp: "Es hat in Deutschland noch keine Ausstellung gegeben, die den Manierismus als Epoche darstellt. Das andere ist, dass der Manierismus bisher in der Kunstgeschichte immer etwas schlecht weggekommen ist, weil er eingeklemmt war in der Betrachtung zwischen Renaissance und Barock. Und wir möchten ihn gern als eigenständige Kunstperiode würdigen, und diese Würdigung verdient er absolut."
Neue Formen, neue Inhalte, neue Farben. Der Maniersimus bricht mit so ziemlich allem, was die Renaissance ausmachte: harmonische Ausgewogenheit und optimistisches Weltbild, dessen Mittelpunkt der selbstbewusste Mensch bildete, wichen dramatischer Bewegung, Dynamik, Unruhe. Und ob christliche oder mythologische Geschichten: jedes Bild ist mit großer Geste inszeniert.
"Das Prinzip der Hochrenaissance, die Zentralperspektive, wurde aufgegeben und der Raum wurde belebt. Dann gibt es ein Stilmerkmal, das ist die übersteigerte Gestik, das heißt, dass entweder mit besonderer Grazie, besonderer Eleganz die Figuren gemalt wurden oder aber mit einem affektgelanden Pathos. Und ein letztes Stilmerkmal ist die unnatürliche Farbigkeit, das heißt, dass die Gemälde mit sehr schrillen, kontrastreichen, dissonanten Farben gestaltet werden konnten oder mit völlig neuen Farben wie ein hässliches Lila, ein verblichenes Blau, ein schrilles Rosa - all das war auf einmal möglich."
Warum all das "auf einmal möglich war" erklärt die Ausstellung mit keinem Wort. Weshalb die Künstler plötzlich so anders malten, erfährt der Besucher nicht. Die Ursachen liegen in der gesellschaftlichen Entwicklung: im 16. Jahrhundert herrschten ökonomische Krisen, ständige Kriege, die Gegenreformation, frönten Kirche und Adel der Prunksucht.

Gleichzeitig begründeten fortschrittliche Kräfte neue Wissenschaften, machten Entdeckungen. Doch die gesellschaftlichen Widersprüche zwischen aufstrebenden frühbürgerlichen Patriziern und den feudalen Mächten wurde vorerst zugunsten letzterer entschieden. Das frühbürgerliche optimistische Welt- und Menschenbild der Renaissance zerfiel.

Damit schien die Welt aus den Fugen geraten und bot keinen Halt mehr. Diese tiefe gesellschaftliche Verunsicherung spiegelt sich in waghalsigen Bildräumen ohne Mittelpunkt und Halt, in irrwitzigen Raumkonstruktionen und Perspektiven. Denis Calvaert etwa lässt Saulus mit dramatischer Geste vom Pferderücken auf die harte - wirkliche - Erde stürzen. Und in Frans Floris' "Anbetung der Hirten" wie in Aurelio Lomis "Bathseba im Bad" bilden die Protagonisten eine große chaotische Wirbelbewegung.
"Eines der für den Manierismus ganz typischen Kompositionsprinzipien ist die Auflösung der Zentralperspektive. Auflösung in eine Kreisform, in Elypsen. - Das Bildgeschehen bewegt sich, der Betrachter wird hineingezogen in das Bildgeschehen, und das bringt eine Beunruhigung mit sich. Die Zeitgenossen damals müssen diese Bilder als massive Provokation, als Beunruhigung, als Irritation empfinden."

Gleichzeitig verlangten die feudalen Auftraggeber immer prächtigere und ausgefallenere Bilder. Erstmals wird die subjektive Fähigkeit des Künstlers gefordert, der Themen ungewöhnlich inszenieren und neue Bildideen entwickeln soll.

Da der Manierismus keine verbindenden Ideale mehr kennt, wie es die Renaissance tat, zählen vor allem Äußerlichkeiten: effektvolle Räume, theatrale Auftritte, gezierte Gesten. So lässt El Greco den Verkündigungsengel nicht nur auf einer Wolke einschweben, sondern auch noch exaltiert seine Hände verdrehen. Je mehr die Auftraggeber jedoch originelles fordern, desto leerer und - manierierter werden die Gesten.

Doch, so Michael Philipp: "Der Manierismus hat mindestens drei Elemente hervorgebracht in seiner Kunstauffassung, die auch für heutige Auffassungen von Kunst wieder gültig sind seit der klassischen Moderne vor 1900. Das ist, dass das Kunstwerk eben nicht mehr Ausdruck einer Wahrheit ist, sondern ein Objekt der Wahrnehmung.

Das Zweite ist die Auffassung vom Künstler als individuelle Schöpferpersönlichkeit. Und der dritte Punkt ist, das Kunstwerk entsteht weil der Künstler bestimmte Entscheidungen getroffen hat, weil er in seinem Stilwollen sich von seinen Vorgängern abgrenzt und etwas völlig neues schafft. Und diese drei Dinge gelten seit dem Manierismus für alle Kunst."
Der neue achteckige Raum im Obergeschoss des Bucerius Kunst Forums ist erotischer Malerei vorbehalten. Dabei dienen mythologische Geschichten oder Allegorien als Vorwand, um dem Feudalherren das gewünschte nackte Fleisch präsentieren zu können: Ob "Susanna und die Alten" oder eine dem Betrachter frech ihre nackten Brüste präsentierende Diana - hier frönte Mann seiner Lust am Voyeurismus.

So führt die Ausstellung durchaus anschaulich die inhaltlichen und formalen Neuerungen des Manierismus vor. Dass sie dabei jedoch die sozialen und gesellschaftspolitischen Voraussetzungen dieser Malerei völlig außer Acht lässt, ganz so, als sei sie eine mal eben ersponnene Idee einiger Künstler, enthüllt ein Verständnis von Kunstgeschichte, das seit Durchsetzung der politischen Ikonographie - und also der Berücksichtigung sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen bei der Interpretation von Kunst - der Vergangenheit angehören sollte.