Theaterschaffende schreiben an Grütters

"Neustart"-Förderung in der Kritik

05:26 Minuten
Eine Tänzerin im Rollstuhl performt im Lichtkegel einer sonst dunklen Bühne und streckt ihre Hände in die Höhe.
Bei den Coronahilfen sei keine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Künstlerinnen und Künstler gegeben, so das Netzwerk nicht-behinderter und behinderter Tanz-und Theaterschaffender. © picture alliance / Anadolu Agency / Mehmet Emin Menguarslan
Von Natalja Joselewitsch · 20.02.2021
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Es wurden Milliarden für die Rettung der Kultur bereitgestellt, etwa im Programm „Neustart Kultur“. Kunstschaffende mit Behinderung kritisieren, sie seien davon weitgehend ausgeschlossen. Nun gibt es einen offenen Brief an die Kulturstaatsministerin.
Zwei Tänzerinnen bewegen sich Rücken an Rücken auf dem hellen Bühnenboden. Ihre Arme sind verschränkt. Im Hintergrund steht ein umgekippter Rollstuhl mit drehenden Rädern. "Bordering nenne ich meine selbst entdeckte Methode, wie ich zunächst die Grenzen meines Körpers erfahre, um sie dann im zweiten Schritt mit Konzentration und voller Hingabe immer wieder ein kleines Stück erweitern zu können", so eine Stimme aus dem Stück.
‚Birds‘ heißt die Performance von Carolin Hartmann, die durch eine chronische Krankheit seit ihrer Jugend auf den Rollstuhl angewiesen ist:
"Ich wurde mit Friedreich-Ataxie diagnostiziert. Das ist eine chronische Nervenerkrankung, die einen Defekt im Kleinhirn auslöst und für Probleme bei der Motorik sorgt. Ich brauche Assistenz sowohl bei der Ausführung meiner künstlerischen Projekte als auch im Alltag."
Ihre Krankheit hindert Carolin Hartmann aber nicht bei ihrer Kunst. Sie bringt Performances auf die Bühne, produziert Dokumentarfilme und hat ein Buch geschrieben. Für die Fördermittel der ‚Neustart Kultur‘-Hilfe konnte sie sich trotzdem nicht bewerben:
"Es war Voraussetzung für den Antrag, dass man mindestens 50 Prozent seines Einkommens aus künstlerischen Projekten verdient. Das ist für mich nicht möglich, da ich Grundsicherung beziehe, die wiederum sehr strikte Regelungen hat, was den Zuverdienst angeht."

Keine Vorlesefunktion bei Antragsformularen

Diese strikten Regelungen der Sozialleistungen erlauben Künstlerinnen und Künstlern wie Carolin gar nicht erst, 50 Prozent ihres Einkommens über die Kunst zu erwirtschaften. Damit werden sie von vornherein von den Förderungen ausgeschlossen.
Aber auch Kunstschaffende, die ohne staatliche Unterstützung gut leben können, haben es schwer, sich zu bewerben. So zum Beispiel auch Performerin Sophia Neises, die mit einer Sehbehinderung lebt.
"Ich konnte mich auf die ‚Take Care Residenz‘ nicht bewerben, weil ich an meinem Laptop einen starken Zoom benutze und eine Vorlesefunktion und das Formular damit nicht erfasst werden konnte für mich. Wenn es darum geht, zum Beispiel Kontoauszüge zu schwärzen oder verschiedene Tabellen auszufüllen, brauche ich auf jeden Fall viel Unterstützung von sehenden Menschen."
Die Antragsformulare sind weder auf sehbehinderte noch auf taube Menschen ausgerichtet, und die Kosten, die dadurch für Assistentinnen oder Assistenten entstehen, werden auch nicht übernommen. Sophia Neises konnte sich am Ende doch bewerben, unterstützt wurde sie vom Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt:
"Ich habe eigentlich eher schon aufgegeben und gesagt, nee, da bewerbe ich mich einfach gar nicht drauf. Dann hat aber der Mousonturm in Frankfurt mich noch mal angesprochen. Und dann hat eine Person, die von dort dafür bezahlt wird, Menschen dabei zu unterstützen, mir von A bis Z geholfen."

Kleiner Anteil für Barrierefreiheit

Damit Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung nicht weiter auf Hilfe von A bis Z angewiesen sind, hat das Netzwerk nicht-behinderter und behinderter Tanz-und Theaterschaffender einen offenen Brief an Monika Grütters geschrieben. Darin fordern die Mitglieder umfassende Änderungen der Förderprogramme, erklärt Dramaturgin Noa Winter, die den Brief mit verfasst hat:
"Wir fordern als Netzwerk, dass Kulturförderprogramme für alle Menschen zugänglich gemacht werden. Das bedeutet, dass alle Informationen in verschiedenen Formaten barrierefrei zugänglich sein müssen, und es bedeutet auch, dass Barrierefreiheitskosten aus einem separaten Budget gedeckt werden und nicht mit künstlerischen Kosten vermischt werden."
Ein weiteres Problem bei den Förderprogrammen: Nur zehn Prozent des Geldes darf für Materialkosten wie Bühne und Kostüme und für Barrierefreiheit ausgegeben werden. Viel zu wenig, meint Noa Winter.
"Im Fall der ‚Take Care Residenzen‘ sprechen wir da von maximal 500 Euro." Aber die tatsächlichen Kosten zum Beispiel für Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher lägen deutlich höher, so Winter. Dazu komme auch, dass taube und behinderte Kunstschaffende plötzlich zwischen ihrem Barrierefreiheitsbedarf und Materialanschaffung entscheiden müssten.

"Es geht um Menschenrechtsverletzungen"

Es gäbe für Monika Grütters und ihr Bundesministerium also viel zu tun, um die Förderbedingungen wirklich gerecht und barrierefrei zu gestalten. Zumal sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet hat. Das möchte auch Noa Winter unterstreichen:
"Ich finde es wichtig, noch einmal zu betonen, dass es hier wirklich um Menschenrechtsverletzungen geht und nicht um irgendwelche Luxusforderungen oder Ähnliches." Es gehe letztendlich um eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter und tauber Künstlerinnen und Künstler.
Eine gleichberechtigte Teilhabe, damit Künstlerinnen wie Carolin Hartmann oder Sophia Neises unsere vielfältige Kulturlandschaft ohne Hindernisse bereichern können.
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