Brachiale Beats und ein flapsiger Mephisto
Martin Kušej hat "Faust" am Residenztheater in München auf eine Art inszeniert, der man den Willen zur großen Geste ansieht. Geboten werden Sexorgien, laute Musik und andere drastische Einfälle, die aber nicht wirklich überzeugen.
Man mag halten von dieser Inszenierung, was man will - eins steht außer Frage: München hat mit diesem "Faust" zum ersten Mal den Martin Kušej bekommen, den viele bereits erwartet hatten, als er vor knapp drei Jahren seine Intendanz am Residenztheater antrat. Davor hatte sich der Kärnter ja redlich den Ruf als kerniger Kraftkerl mit zupackender Regiepranke erworben. Umso mehr überraschte seine Ankündigung beim Dienstantritt 2011, ihn würden zunehmend psychologische Feinheiten interessieren. Kušej kam dem an die gediegene Theaterkost von Dieter Dorn gewohnten Publikum seither mit vorwiegend leisen Tönen entgegen. Dieser "Faust" ist nun erstmals der Gegenentwurf: eine Aufführung, der man den Willen zur großen Geste ansieht.
Es gibt Pyro-und Knalleffekte, kalte Elektronik-Klänge und brachiale Beats (Musik: Bert Wrede) und drastische Szenen - oder zumindest solche, die Drastik behaupten. Kušej zeigt eine kalte, kaputte Welt, voll von Schlägerhorden, Huren und Kriminellen, in der großartigen, düster beschienenen Kulisse von Aleksandar Denić, der eine stählern schwarze Variante seiner bewährten Gebäudeungetüme auf die Bühne des Münchner Residenztheaters gestellt hat, die verteilt auf zwei Stockwerke verschiedenste Orte und Räume anzitiert: Garage, Spelunke, Tanzschuppen, Bordell, Fabrik und im oberen Stockwerk ein mit mannshohem Maschendrahtzaun eingefasstes Großstadtghetto, wo sich Schlägertrupps prügeln und wüste Tanz-Sex-Sauforgien gefeiert werden. Und mitten drin der gefühlsverwahrloste Faust von Werner Wölbern, der zu Anfang nicht in der Studierstube hockt, sondern vorm Waschbecken (hinterm Spiegel blitzt schon mal Mephisto auf) unter Selbstmordgedanken mit der Tablettendose hantiert.
Allmachtsphantasie und Selbstüberhebung
Der ganze "Habe nun, ach!"-Anfang ist getilgt, auch so ziemlich alles davor, nur ein paar Versatzstücke bleiben übrig, neu montiert und mit einigen Samples aus dem "Faust II" kombiniert. Später freilich wird die Handlung von "Faust I" zwar gerafft, aber doch weitgehend linear abgewickelt. Gestrichen aber ist vor allem auch die Stimme des Herrn. In Ermangelung eines Gottes im Himmel, ist dieser Faust sein eigener Gott, ergo auf sich selbst gestellt. Woraus eine Mischung aus Allmachtsphantasie und Selbstüberhebung einerseits und verzweifelter Ohnmacht andererseits resultiert. Was wiederum dazu führt, das Faust hier ziemlich egoshooter-mäßig unterwegs ist, weil er keine Instanz über sich weiß, der er Rechenschaft schuldig wäre. Werner Wölbern spielt Goethes Tragödienhelden als ebenso verlorenen wie zornigen Zyniker, der skrupellos über Leichen geht. Weil ihm das eigene Leben nichts wert ist, achtet er auch das aller anderen nicht.
Diese Rollenanlage, zweifellos so von der Regie gefordert, macht es nicht leicht für Bibiana Beglau als Mephisto, der Faust bei Kušej nicht erst zum Bösen verführen muss. So gesehen ist Beglaus Mephisto ein armer Teufel, eher sarkastisch als diabolisch, mit einem fast schon flapsig ironischen Humor. Faust braucht Mephisto, weil er ein paar magische Tricks beherrscht, ansonsten trägt er Abgründe genug in sich selbst, in die ihn kein gefallener Engel erst noch mit hineinziehen müsste.
Was die Gretchen-Tragödie betrifft, so bewegt sich Kušej vor allem hier erstaunlich eng innerhalb der Bahnen der Inszenierungskonvention. Andrea Wenzl hat etwas Keckes, steckt aber in den gängigen Erwartungen an die Rolle fest, was auch daran liegt, das Kušej sie in einen reinweißen Raum gesperrt hat, der sich wie eine Oase der Unschuld im Parterre von Aleksandar Denićs Sündenbabelturm öffnet. Das Blut in Gretchens Schoß wirkt hier natürlich besonders stark, der Effekt (Blutrot auf Unschuldsweiß) hat aber auch etwas abgenutztes.
Grelle Effektmalerei mit herkömmlichen Farben
Das ist überhaupt die größte Schwäche von Martin Kušejs Starkstromtheater: dass er auch bei der grellsten Effektmalerei nur auf recht herkömmliche Farben zurückgreift, die schon etwas eingetrocknet und ausgebleicht wirken, nicht mehr ganz von heute. Sicher, man kann Goethes ewig strebenden Titelhelden so in die Gegenwart fortdenken, dass man bei einem Faust landet, der nicht mehr herausfinden will, was die Welt im Innersten Zusammenhält, weil er längst, weiß, dass da gar nichts ist im Innersten. Und zweifellos trifft das ein weit verbreitetes Zeitgefühl. Wenn nur die Mittel der Darstellung dabei ebenfalls auf der Höhe der Zeit wären. Am Residenztheater aber sind sie an diesem Abend bei aller Drastik erstaunlich bieder.
Dieser "Faust" ist auch ein versuchter Faust-Hieb in die Magengrube der Zuschauer, aber der Punch tut nicht wirklich wehtut. Er bleibt ein Stückweit: leere Drohgebärde. Aber es ist ein erster Schritt zur Rückkehr zum Krafttheater Martin Kušejs, auf das man in München bislang weitgehend vergeblich gewartet hat. Immerhin.