Theaterkolumne

Wir brauchen ein antirassistisches Konzept der Bürgerlichkeit

04:22 Minuten
Uwe Rohbeck ,Caroline Hanke, Annou Reiners (unter Figur), Alida Bohnen, Max Ranft.
Der autoritäre Charakter als Kartoffel: das Stück "Familien gegen Nazis" am Schauspielhaus Dortmund. © Schauspielhaus Dortmund/ Birgit Hupfeld
Ein Kommentar von Ersan Mondtag und Olga Bach · 06.06.2020
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Die Gesellschaft ist eine andere geworden. Sie ist heterogen. Das mache sie spannend, meint der Regisseur Ersan Mondtag. Er leitet daraus die Verpflichtung ab, für diese Gesellschaft ein „ Gegenkonzept von Bürgerlichkeit“ zu entwerfen.
Ein schwarzer Mann liegt auf dem Bauch, das Gesicht auf den Asphalt gedrückt. Auf seinem Nacken kniet ein weißer Polizist. Der Mann am Boden ist wehrlos. Er ruft wiederholt: "I can’t breathe, please". Der Polizist nimmt sein Knie nicht weg. Drei weitere, ebenfalls weiße Polizisten schreiten nicht ein. Bis der Mann tot ist. Acht Minuten und 46 Sekunden Überlebenskampf, gefilmt von einer Passantin in Minneapolis im Bundesstaat Minnesota.

Wut, Trauer, Angst

Derek Chauvin und George Floyd. Mörder und Opfer. Ein konkreter Fall, der die "Ursünde der Vereinigten Staaten", wie Barack Obama es wenige Tage später in einer Ansprache beschreiben wird, schmerzhaft offenlegt.
Rassismus bedroht People of Color, ja, kann sie das Leben kosten. Sei es, weil sie mutmaßlich mit einem gefälschten Zwanzig-Dollarschein im Supermarkt einzukaufen versuchen. Oder weil sie sich bei der Arbeit als Busfahrerin in Harlem mit dem Coronavirus anstecken und dann im Gegensatz zu weißen Mitbürgerinnen keine angemessene gesundheitliche Versorgung erhalten.
Das Video geht um die Welt. Und zündet eine Bombe. Abertausende gehen überall in den USA auf die Straße. Es sind die größten antirassistischen Massenproteste seit den 60er-Jahren. Und das Neue dabei ist: Viele Weiße demonstrieren mit. Gemeinsam fordern sie Gerechtigkeit. Sie sind wütend, traurig, verängstigt und haben vor allem eines: die Schnauze voll. Wie oft wird noch gemordet werden, ohne dass etwas sich wirklich ändert?

Die Privilegien junger weißer Männer

Auch dieses zweite Bild - diesmal aus Berlin - hält eine gesellschaftliche Wirklichkeit fest:
Es bringt die Komplexität weißer Privilegien auf den Punkt. Zunächst trägt keiner der Feiernden einen Mundschutz oder sorgt für einen Sicherheitsabstand, während die Protestierenden in den USA hierfür gewissenhaft Sorge tragen. Anscheinend hat keiner der jungen weißen Männer wegen der Nichteinhaltung der Anordnungen von der Polizei Gewalt zu befürchten. Sie scheinen auch keine Corona-Erkrankten zu kennen, etwa die, die während der Kundgebung direkt gegenüber im Urban-Krankenhaus liegen

Dass diese im Endstadium der Krankheit nicht atmen können, scheint ihnen jedenfalls egal zu sein. Dass die Patienten ersticken. Womit wir bei dem Banner wären. Der Mord an George Floyd wird hier kurzerhand von denjenigen angeeignet, die das Privileg genießen, nicht aufgrund ihrer Hautfarbe in irgendeiner Weise benachteiligt zu werden. Um einen wiederum privilegierten Raum zu verteidigen. Auch die Berliner Clubkultur ist geprägt von strukturell rassistischer Benachteiligung von Nicht-weißen Hedonist’innen.

Die Berliner Clubs sind zwar insofern eine Parallelwelt, als wir hier exzessiv gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen können. Sie entsprechen aber auch der gesellschaftlichen Normalität einer strukturellen Ausgrenzung von People of Color.

Der Intendant als Türsteher der Kunst

Ich, Ersan, erinnere mich, unzählige Male von Türstehern nicht in Clubs reingelassen worden zu sein mit der Begründung, heute nicht, es gibt schon zu viele von euch hier drin. Das "Euch" sollen in dem Fall Türken oder Araber sein. Man möchte seinen fein säuberlich gepflegten weißen Partyraum nicht zu sehr vermischen. Nicht die Musikrichtungen, nicht das Booking, nicht die Gäste.

Damit kein Zweifel aufkommt: Von einem Polizisten nicht ermordet zu werden und in einen Club hereingelassen zu werden, sind zwei komplett verschiedene Dinge. Aber sie sind Ausdruck desselben Phänomens, nämlich des Privilegs von Weißen. Insbesondere weißen Männern.

Was bedeutet "Deutsch" im Deutschen Theater?

Es ist ein Phänomen, das auch die deutschen Theater und Opern prägt. Die allermeisten werden von weißen Männern über 50 geleitet. Der Intendant und seine Dramaturginnen entscheiden, welche Musik gespielt wird. Wobei diese Musik, also die Stücke, die Regie, das Schauspiel, von hauptsächlich weißen, hauptsächlich männlichen Künstlern stammt. Wie Türsteher entscheiden die Intendanten, wer Zugang bekommt. Und mit ihrem Programm sorgen sie wiederum für ein mehrheitlich weißes Publikum. Alles bezahlt mit den Steuergeldern einer viel diverseren Gesellschaft.
Bald steht am Berliner Deutschen Theater ein Türsteherwechsel an. Wäre es da nicht der richtige Augenblick, eine neue, zeitgemäße Antwort auf die Frage zu suchen, was das "Deutsch" bedeutet, das das Theater im Namen trägt? In seinen Ursprüngen fußt "Deutschsein" auf einem Konzept von Nation und Bürgerlichkeit in völkischer Hinsicht. Etwas Homogenes wurde konstruiert, auf dessen Grundlage Ausgrenzung und Benachteiligung bis heute stattfinden.

Neue Bürgerlichkeit für eine heterogene Gesellschaft

Die Gesellschaft ist aber längst eine andere geworden. Sie ist heterogen. Das macht sie spannend. Gerade in einer Zeit, in der die politische Rechte Begriffe wie Bürgerlichkeit besetzen will, ist es wichtig, ja sogar unsere Pflicht, ein Gegenkonzept von Bürgerlichkeit zu schaffen.
Das Deutsche Theater als Traditionsort des Bürgerlichen könnte ein Versuchsfeld für eine neue, partizipative Bürgerlichkeit sein. Ein Ort, an dem People of Color mitverhandeln, anstatt dass sie ignoriert werden oder dass nur über sie verhandelt wird.

Aggression, Nichtbeachtung, Nationalismus, Männlichkeit

Ein solcher Versuch wird in Dortmund bereits unternommen - mit dem Team um Julia Wissert - und könnte eine Vorbild-Wirkung für das DT in Berlin haben.

Auch dort könnte es eine nicht-weiße Türsteherin anstelle eines Türstehers geben. Und das "Deutsch" im Namen des Theaters könnte endlich für alle Bürgerinnen und Bürger stehen. In Bezug auf Publikum, Künsterlinnen und Programm. Ohne Angst vor Aggression, Nichtbeachtung, Nationalismus, Männlichkeit.
Es wird ein Kampf werden, so oder so.
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