Theaterfestival im Livestream

Vielstimmige Demokratie mit "Democracy 2.0"

Von Tobias Krone · 20.02.2021
Audio herunterladen
Aischylos' "Orestie" gilt als Gründungstext der Demokratie. Das Theaterfestival "Democracy 2.0" hat ihn auf heute übertragen. Verbindendes Element ist der Theaterchor, der auch schon in der Antike das gemeine Volk auf die Bühne brachte.
Vier künstlerische Teams aus England, Nordmazedonien, Deutschland und Österreich wollen die griechische Tragödie der Orestie von Aischylos "überschreiben und neu erfinden". Beim internationalen Theaterfestival Democracy 2.0 stellen sie Fragen: Was ist der Chor heute? Was ist Demokratie? Welche demokratischen Grundwerte gilt es zu bewahren, zu verteidigen, weiterzuentwickeln oder einzufordern? Wem wollen wir eine Stimme verleihen?
Laiendarstellerinnen in München sind für den ersten Teil der Orestie zuständig. Hier sieht Aischylos Greise für den Chor vor, der die Handlung kommentiert. Doch um einen Chor zu bilden, muss man sich erst einmal finden – so, wie die Damen des Seniorenbeirats München bei der Diskussion des Textes der Orestie, der am ersten Abend des digitalen Festivals läuft.
Agamemnon, der siegreiche Feldherr der Griechen, kommt nach Hause und wird von seiner Frau umgebracht als Rache dafür, dass er die gemeinsame Tochter Iphigenie für den Sieg geopfert hat. In Teil zwei und drei wird der Sohn Orest die Mutter töten und am Ende vom göttlichen Tribunal freigesprochen.

Vier Städte – vier Interpretationen

Doch was ist eigentlich mit den weiblichen Stimmen, zum Beispiel mit der Schwester Elektra? Warum kommt sie so gut wie nicht vor? Diese Leerstelle hat sich der Münchner Teil des Projektes vorgenommen, Laientheatergruppen in Graz, Birmingham und Skopje präsentieren bei diesem Online-Festival des Pathos Theaters München ihre Interpretationen von Teilen der Orestie.
Wie in allen vier Projekten löst sich die Münchner Gruppe stark vom antiken Stoff und arbeitet mit den Seniorinnen und deren eigenen Erfahrungen von Demokratie. Die Darstellerin Katrin Deltgen erzählt im Film, wie sie als Kind an ihrer Klosterschule für einen Streich bestraft wurde: Niemand habe mit ihr reden dürfen.
"Und ich habe dann nach Tagen klein beigegeben, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Und habe mich dann entschuldigt bei der Nonne. Mich würde interessieren, wie wäre es denn ausgegangen, wenn die Mädchen darüber hätten abstimmen dürfen? Ich bin Elektra."
Elektra, das heißt in diesem Fall: eine Ungehörte. Im Münchner Teilprojekt wird diese weibliche Stimme gewissermaßen in den Chor der Demokratie integriert.

Darf Orest seine Mutter töten?

Demokratie ist auch das Stichwort für den Projektort des zweiten Teils: Das Jugendzentrum MKZ im nordmazedonischen Skopje vereinte Jugendliche zu einer Art Facebook-Chor – allerdings durchaus vielstimmig. Während des gestreamten Theaterstücks sollten sie spontan auf die großen Fragen der Tragödie antworten: Darf Orest seine Mutter töten?
Man kann in der filmischen Aufzeichnung die Diskussion mitverfolgen, die sich nach und nach verselbstständigt. Von zynischen Anmerkungen wie "Lasst sie sich doch abschlachten, das System bleibt ohnehin das gleiche" bis hin zur Aussage "Demokratie wohnt nicht in Mazedonien" sind alle möglichen Kommentare zu lesen, die ein ernüchtertes Bild vom Glauben an die gegenwärtige Demokratie Nordmazedoniens abgeben.
Spätestens nach fünf Minuten nehmen Katzenvideos überhand, wie der Regisseur Ivica Dimitrijevic in der Diskussionsschalte danach feststellt: "Man kann sehen, wie leicht man die demokratische Waffe wegwerfen kann. Von wegen Redefreiheit. Die Leute hängen alle nur noch auf Facebook rum."

Das Volk als Ankläger

Dieser Kulturpessimismus trifft inzwischen nicht mehr ganz zu. Spätestens seit dem Angriff auf das Kapitol in Washington sollte klar sein, dass die Demokratie der sozialen Medien zwar äußerst anfällig für Demagogie ist – aber mit Sicherheit selbst eine äußerst scharfe Waffe. Auch die Orestie zeigt diese Waffe der Demokratie, erklärt Tom Mansfield, Regisseur aus England:
"Orest wird nach Athen geführt und bittet dort die Göttin Athene um Asyl, und Athene hält dann ein Gericht ab. Und das ist das einzige Mal im griechischen Drama, wo man alle Bürgerinnen und Bürger auf der Bühne sieht. Nicht nur als Chor, der die Handlung begleitet – das war Standard in der athenischen Tragödie. Aber hier sind sie das handelnde Volk von Athen."
Das Volk treibt hier die Handlung voran, indem es Orest vor dem göttlichen Gericht anklagt. Tom Mansfield erarbeitete mit Menschen aus benachteiligten Stadtteilen Birminghams eine Anklage als Hörspiel in vielen Stimmen. Thema ist die Diskriminierung von Schwarzen.
Natürlich ist dieses Festival im Streaming-Format kein wirkliches Festival. Doch die Filme, die in den Projekten entstanden, verdeutlichen skizzenhaft, welch ermächtigende Kraft die Stimmen der Ungehörten bekommen, wenn sie sich zu einem Chor, einem Miteinander zusammenschließen. Ein Hoffnungsschimmer.
Mehr zum Thema