Theater unter dem Motto 9/11

Von Elske Brault · 05.09.2011
In diesem Jahr war das Theaterfestival "Spieltriebe" zugleich der Arbeitsbeginn des neuen Intendanten in Osnabrück, Ralf Waldschmidt. Der hat das Festival erstmals unter ein Motto gestellt: "Zehn Jahre nach 9/11". So kamen unter anderem die Erinnerungen von Osnabrückern an diesen Tag auf die Bühne.
"Aber dieses Bild vom stahlblauen Himmel. Und die Sonne, die scheint. Und die beiden Türme, die rauchen."

In den Interviews des Journalisten Dirk Schneider beschwören die Menschen noch einmal die Bilder jenes Tages, aber auch ihre ganz persönliche innere Beteiligung: Der Organist sprang bei einem spontan angesetzten Gottesdienst ein, das Ehepaar auf dem Flug nach Washington glaubte in den kreideweißen Gesichtern der Crew zu lesen, dass jetzt der Absturz bevorsteht, den Feuerwehrmann unterbrach die Nachricht bei einer Brandübung.

"Ich dachte nur: Scheiße. Also wenn es in einem Hochhaus brennt, müssen Sie hochlaufen. Müssen den ganzen Kram hochschleppen, Punkt Nr. 1. Punkt Nr. 2: WTC. 25.000 Leute müssen Sie aus dem Turm kriegen. Und mit einer brennenden Etage mittendrin."

Vier junge Schauspieler sprechen diese Erinnerungen, unprätentiös, eindringlich. Als Bühnenbild genügen Regisseur Frank Abt zwei Stuhlreihen, das Publikum sitzt auf Bierkisten im ehemaligen Mannschaftskasino des Kasernengeländes am Limberg. Vor zwei Jahren haben die britischen Truppen das Gelände geräumt, das einst den Nazis als Munitionsfabrik diente.

Symmetrisch sind einstöckige Baracken mit vergitterten Fenstern längs der Teerstraßen aufgereiht. Alle verlassen. Eine Geisterstadt hinter hohen Stacheldrahtzäunen– vor allem nachts gespenstisch. Was der Kalte Krieg zurückgelassen und dem Verfall preisgegeben hat, das füllen jetzt die "Spieltriebe" mit neuen Kriegsszenen: In der ehemaligen Übungshalle für Scharfschützen läuft "Blogosphere Iraq", die beklemmende Dramatisierung von Tagebuchnotizen aus dem Irakkrieg. Und natürlich kommt auch in dem Stück von Frank Abt und Dirk Schneider eine Soldatin in Afghanistan zu Wort.

"Wie sich so was anfühlt, das kam erst im Einsatz, wo wir Situationen hatten, wo wir mit Glück überlebt hatten. Also ein Problem war, dass wir im Patrouillendienst eingesetzt wurden. Und gerade im Raum Kundus, da war es ja bekannt, dass man mit Sprengstoffanschlägen und Ähnlichem rechnen muss. Und da hat es alliierte Kräfte getroffen, die im Fahrzeug vor uns fuhren."

"Das erschüttert ja nicht nur Politik und Systeme, das erschüttert vor allem den Menschen, die Individuen. Denn letztendlich ist jeder einzelne Mensch derjenige, der in ein Verhältnis dazu gerät. Darunter zu leiden hat. Und das ist genau der Punkt, wo Theater ansetzt und wo es auf ne andere Weise in die Herzen, die Seelen der Menschen hineinblicken kann, als das andere Medien könnten."

Osnabrücks neuer Intendant Ralf Waldschmidt hat in Augsburg die Opernsparte geleitet. Somit gibt es bei den Spieltrieben zum ersten Mal auch Musikuraufführungen, sechs Kompositionsstudenten hat er 15-minütige Kurzopern in Auftrag gegeben. Doch die Neuausrichtung des Theaters zeigt sich vor allem im Bereich Schauspiel: Einerseits mit der Thematik von Krieg und Frieden beim Festival, andererseits mit vier weiteren Uraufführungen im kommenden Spielplan.

"Theater war immer aktuell. Und Theater kann nur aktuell sein, kann nur heutig sein. Sonst funktioniert es gar nicht, sonst bleibt es Papier."

Hier bei den Spieltrieben ergreift es die Stadt: Zu Beginn jedes Festivalabends balanciert ein langhaariger Lederrocker auf der Balustrade des Domhof-Theaters, in 30 Metern Höhe, und brüllt aus den Lautsprechern über den Platz und bis in die Einkaufszone, dass man ihm seine Stadt zerstört habe. Auftakt zum Antikenprojekt, das sich dann im Theater fortsetzt: Texte von Euripides, 2.500 Jahre alt, mischen sich mit zeitgenössischen von Dea Loher. Der Lederrocker ist der Gott Poseidon - und mit seiner früheren Erzfeindin Athene verzockt er, was von Troja übrig ist, wie heutige Anführer von Supermächten die Bodenschätze in Afrika aufteilen.

"So soll es sein. – So soll es sein. Töricht der Sterbliche, der Städte schleift, Tempel und Gräber, heilige Ruhestätten der Toten verehrt und selber später zugrunde geht."

Ja, da hat sich doch gar nicht so viel verändert. Mit dem Unterschied, dass die meisten von uns Kriegsgräuel nur aus dem Fernsehen kennen. Und genau da, in einem Fernsehstudio, siedelt Autorin Theresia Walser ihre Komödie über den Krieg in Afghanistan an.

"Man kann auch auf einem Sofa sitzen und zeigen, wie widerlich es ist, gerade jetzt auf diesem Sofa sitzen zu müssen. Wir sind zum Sofa verurteilt. Das ist unsere Tragödie."

Ändern kann Moderatorin Hilda Ludowsky im Walser-Stück nichts an der bevorstehenden Steinigung von Frau Schirakesch auf dem Marktplatz von Tschundakar. Aber doch ein Zeichen setzen mit einer Schweigeminute – und anschließender Gesprächssendung. Dazu hat sie sich einen Bundeswehrgeneral eingeladen, eine Soldatin und deren Vater, zwei Schönheitsköniginnen, die mit einer Miss-Bikini-Wahl in Tschundakar für die Rechte der Frau eingetreten sind. Jeder probt seine Positur, den passenden Gesichtsausdruck für den großen Moment.

"Wir schauen hin, aber nicht zu, das ist ein Unterschied. Man könnte sogar sagen, dass wir mit unserer Stille für einen Augenblick die Welt anhalten."

Gegenpart zu diesem Showbetrieb ist die Soldatin Rose. Ihre Erlebnisse passen so wenig in die Talkrunde wie die Afghanistan-Heimkehrer in die deutsche Wohlstandsgesellschaft.

"Das müsst ihr sehen, sagt er. Und wir schauen auch durch Rips‘ Fernrohr. Da kriecht ein Mann übern Berg und sucht sein Bein. – Was?"

Osnabrücks neue Schauspieldirektorin Annette Pullen hat geradezu eine Screwball-Comedy inszeniert, so rasant verläuft der verbale Schlagabtausch. Und so rasch wechseln auch die Stimmungen. Ihre sechs Hochleistungs-Schauspieler lassen in den grotesken Figuren unser aller Hilflosigkeit sichtbar werden angesichts der Frage, ob man die Menschenrechte in andere Länder "hineinbomben" soll, wie es im Stück heißt. "Eine Stille für Frau Schirakesch" war der Höhepunkt des Festivals – und wird sicher nachgespielt.

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