Theater und Realität

Von Ulrike Gondorf |
Ungefähr 2500 Jahre galt eine Spielregel auf der Bühne: von den antiken Heroen über Shakespeares Könige und Narren bis zu den Paaren, Eltern und Kindern in bürgerlichen Wohnzimmern des 19. Jahrhunderts war sie unangefochten, und selbst in den zersplitterten Wirklichkeiten des 20. Jahrhunderts konnte man sich noch lange darauf verlassen. Auf der Bühne ereignete sich Verwandlung: die Verwandlung eines Darstellers in eine Person, die Schaffung eines fiktiven Raums, einer Geschichte, die ihre eigene Wirklichkeit setzt.
"Die Bretter, die die Welt bedeuten" – diese klassische Umschreibung für die Bühne bringt es auf den Begriff: Das eine tritt für das andere ein, das Theater schafft Sinn nach seinen eigenen Gesetzen. Immer deutlicher und dichter werden in letzter Zeit die Anzeichen dafür, dass diese lange gültige Grundregel infrage gestellt wird. "Reality"–TV bringt Quoten, von Talkshows, in denen unscheinbare Zeitgenossen, wie Andy Warhol meinte, für 15 Minuten berühmt werden, bis "Big Brother" und Dschungelcamp.

Seit einigen Jahren sind "echte" Menschen und "richtiges" Leben immer häufiger gefragt bei den Theatermachern. Die inzwischen bekannte, mit vielen Preisen ausgezeichnete Gruppe "Rimini Protokoll" gehört zu denen, die das Prinzip in Deutschland vorantreiben. "Experten der Wirklichkeit" nennen sie ihre Protagonisten, die auf der Bühne vor dem Publikum genau darüber sprechen, was sie aus ihrem Alltag wissen. Journalisten und Fernsehtechniker über das Nachrichtengeschäft in "Breaking News" beispielsweise oder Gewerkschafter, Arbeitslose und Manager in dem Karl-Marx-Abend "Das Kapital". Andere Gruppen wie "Gob Squad" gehen sogar soweit, ihre Darsteller erst am Abend unter Zuschauern oder Passanten auf der Straße zu casten. Die meisten, die in Deutschland auf diesem Feld experimentieren, haben am Giessener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft studiert, wo das Dogma, dass Theater mit der Nachahmung der Wirklichkeit (und nicht mit der Wirklichkeit selber) arbeite, in Lehre und Forschung ausdrücklich außer kraft gesetzt wurde.

Das alles hat natürlich sein Wurzeln in der Theatergeschichte – etwa beim Brecht’schen Verfremdungseffekt oder im Dokumentartheater der Nachkriegszeit. Es ist aber dennoch etwas fundamental anderes als der Vorgang und das Erlebnis, das man gewöhnlich mit dem Begriff "Theater" bezeichnet und sollte vielleicht einen eignen Namen finden. Denn Theater wird definiert durch eine Reihe von Vorgaben, die hier alle nicht mehr gelten: das Schau-Spiel: die Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren, (die auch eine professionelle Unterscheidung zwischen Laien und Schauspielern ist); die Setzung eines eignen Sinn- und Zeitzusammenhangs auf der Bühne; die Wirkungsabsicht, die darin besteht, etwas "vorzuspiegeln", indem der Zuschauer - in welcher Weise und auf welcher Ebene auch immer - etwas von sich selber wieder erkennen kann. Die klassische Theorie aus der Poetik des Aristoteles spricht davon, mit "Furcht und Mitleid" zu bewegen. Das sind altmodische Begriffe, aber als Essenz bleibt der Anspruch, nicht nur intellektuelle, sondern auch emotionale Prozesse in Gang zu bringen. Und diese Komplexität verliert das "Reality"-Theater, dessen Autoren vieles durchleuchten, diskutieren, kritisieren, auch durchaus Vergnügen bereiten können. Identifikation mit fremden Menschen und Situationen, aus der wir im Idealfall ein bisschen mehr über uns selber erfahren, können sie nichts schaffen. Das macht nichts. Denn die Suche nach einer neuen Wirklichkeit auf der Bühne hat positive Aspekte genug. Sie rückt Themen in den Blick, die in der Dramenliteratur erst viel später und vielleicht auch weniger direkt ankommen, sie macht die Bühne zu einem Forum, einem öffentlichen Ort. Aber Theater ereignet sich eben nicht an solchen Abenden.