Theater im Aufwind
Im Osten was Neues. In einer Region, in der gescheiterte Großprojekte wie der Lausitzer Ring oder eingestellte Braunkohletagebaue nicht gerade für gute Stimmung sorgen, zieht ein Theater mit „Glückauf-Festen“ neue Besucher an. Die Neue Bühne Senftenberg hat seit einem Jahr einen neuen Intendanten, und der gab dem Haus ein völlig neues Profil.
Senftenberg, September 2004. Am Theater herrscht Aufbruchsstimmung. Der neue Intendant Sewan Latchinian beginnt seine erste Saison mit einem „Glückauf-Fest“.
(Glocke) „... Und nun beginnt die Tagschicht. Es geht weiter auf der Bühne mit „Senftenberger Erzählungen“, im Studio mit „Schatzinsel“ ...“
Elf Stücke laufen an einem Abend, teilweise parallel. Die Besucher können sich ihr Programm selbst zusammenstellen ...
„... Bitte finden Sie sich nun wieder beim Treffpunkt ein. Danke.“
... zu den entlegeneren Spielorten werden die Zuschauer geleitet. Das ganze Haus ist Bühne. Im Malsaal, im Keller, in den Foyers – überall wird Theater gespielt. Und selbst in den Pausen geht das Programm weiter. Schauspieler singen Schlager, Getränke und Snacks werden verkauft, im Hof lodert ein Lagerfeuer.
Die Idee ist an sich nicht neu. Seit Benno Besson in den 70er Jahren an der Volksbühne in Ostberlin zu Spektakeln einlud, hat es solche Theaterfeste immer wieder gegeben, doch noch nie in einer so kleinen Stadt wie Senftenberg. Die Einwohnerzahl liegt unter 30.000 mit sinkender Tendenz. Vor allem junge Leute ziehen weg, weil sie keine Arbeit finden. Zurück bleiben vor allem Rentner und Arbeitslose, und denen fehlt für Kulturveranstaltungen oft das Geld. Seit 2001 gibt es in Senftenberg nicht einmal mehr ein Kino. Doch all das konnte den neuen Theaterintendanten Sewan Latchinian nicht entmutigen.
Latchinian: „Hier steckt ein riesiges Potential in diesem so genannten Armenhaus. Das sind hier ganz interessierte Menschen, auch was Theater betrifft gut geprägte Menschen. Es war ja eine Art Bochum der DDR. Auch durch 20-jährige Patenschaft mit dem Deutschen Theater Berlin ist hier ein sehr gut geprägtes Publikum und eine gut geprägte Theatermannschaft, so dass das für mich gar keine Frage ist, dass das ein glücklicher Ort ist für Theater. "
Die Bilanz des ersten Glückauf-Festes gibt Sewan Latchinian Recht. Es wurde in der vorigen Spielzeit insgesamt zehn Mal veranstaltet und lockte 3000 Zuschauer ins Theater. Viele kamen sogar mehrmals, um auch die Stücke sehen zu können, die sie beim ersten Besuch verpasst hatten. Und das, obwohl beileibe nicht nur Unterhaltung geboten wurde. Auf dem Programm standen u.a. die Uraufführung der „Senftenberger Erzählungen“ von Hartmut Lange, eine moderne Adaption des Wedekind-Klassikers „Frühlings Erwachen“ und eine Bühnenfassung des Romans „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann.
Szene aus „Franziska Linkerhand“:
„Ich hoffe, Sie haben hinsichtlich Ihrer Arbeitsaufgaben keine zu großen Erwartungen. Sollten Sie die überspannte Vorstellung haben, Neustadt ist ein Experimentierfeld, sollten Sie diese sofort revidieren. Wir haben nur die eine Aufgabe, Wohnungen für unsere Werktätigen zu bauen: Sehr schnell, sehr viele und so billig wie möglich. "
Worte eines Chefs an seine neue Mitarbeiterin. Franziska Linkerhand ist Architektin und will beim Aufbau einer sozialistischen Stadt helfen. Das Stück erzählt die Geschichte ihres Scheiterns. Für Kreativität gab es im DDR-Wohnungsbau keinen Raum. „Arbeiterwohnregale“ hießen die Plattenbauten im Volksmund. Sie stehen auch in Senftenberg. Im so genannten Südgebiet wurde in den 70er Jahren ein ganzer Stadtteil aus dem Boden gestampft, so unwirtlich, dass heute kaum noch jemand dort wohnen will. Das Theater beschäftigt sich mit Problemen, die die Menschen angehen. Meinungen aus einer Umfrage am Rande des Glückauf-Fests.
„Die Inszenierungen sind hervorragend. Schauspieler Klasse. Erstaunlich, was die hier alles an einem Abend durchspielen können. Es sind aktuelle Themen.
Gefällt mir sehr gut. Bin das zweite Mal heute hier und denke, ich gehe auch noch das dritte Mal, um das zu sehen, was ich noch nicht gesehen habe. Es sind dolle Sachen, die hier entstanden sind – vielfältig.
Es ist ein großes Angebot und es sind schöne Stücke – ich habe ja erst drei gesehen. Und es ist ein großes Engagement. Ich hoffe ja, dass es noch einen Aufschwung gibt für Senftenberg und Umgebung.“
Theater als Hoffnungszeichen zwischen Bergen von Problemen – genau diese Wirkung wollte Sewan Latchinian erreichen. Er hat dem Spektakel den Titel „Glückauf-Fest“ gegeben, um an die Senftenberger Bergbautradition zu erinnern, und um all denen Glück zu wünschen, die nach dem Ende des Braunkohleabbaus eine neue Zukunft suchen. Auch der Glockenjingle, mit dem beim Fest der Beginn der Vorstellungen angekündigt wird, hat eine symbolische Bedeutung.
Latchinian: „Es war eine Glocke, die in einer so genannten Waschkaue hing – das ist der Trakt, wo sich Braunkohlenarbeiter umgezogen haben, den Staub abgewaschen haben, darüber hing eine Glocke, die den Rhythmus der Schichtwechsel angezeigt hat. Und diese Glocke aus der Waschkaue zu Brieske haben wir auf unser Theaterdach geholt, weil diese Glocke 15 Jahre nicht mehr geläutet hat. Wir haben uns gedacht, das wäre ein Symbol, die Glocke aufs Dach zu holen, um die Identität der Region immer wieder zu versinnlichen. "
Und das versteht jeder – auch die, die mit Bergbau nie etwas zu tun hatten. Das Theater will kein Elfenbeinturm sein, sondern bekennt sich zur Region. Senftenberg ist von stillgelegten Braunkohlentagebauen umgeben, die nach und nach geflutet werden und sich so in eine Seenlandschaft verwandeln, wo Touristen die „Kohle“, sprich Arbeitsplätze, bringen sollen.
Das Theater jedenfalls nennt sich seit 1990 nicht mehr „Theater der Bergarbeiter“, sondern schlicht und sachlich „Neue Bühne“. Gegründet wurde es 1946 auf Anregung des sowjetischen Stadtkommandanten. Da den Werktätigen der Kohleindustrie nur das Beste geboten werden sollte, wurde die Provinzbühne per Kooperationsvertrag mit dem renommierten Deutschen Theater in Ostberlin verbunden.
Viele bekannte Schauspieler und Regisseure kamen nach Senftenberg – nicht alle freiwillig. Doch für manche war das Theater der Bergarbeiter ein Karrieresprungbrett. Vor allem für junge Schauspieler. An dem Haus spielten Annekatrin Bürger, Angelica Domröse und Armin Müller-Stahl; Regisseure wie Horst Schönemann oder später Frank Castorf zeichneten für die Inszenierungen verantwortlich.
Provinzmief konnte so kaum entstehen – zumindest nicht im Schauspiel. Bei Oper und Ballett, die es an dem Haus ebenfalls gab, sah es weniger gut aus, und bühnentechnisch war das Theater eine reine Katastrophe. Heinz Klevenow, der 1990 in Senftenberg Intendant wurde, erinnert sich:
„Das war ein so marodes Haus, das hätte eigentlich lange feuerpolizeilich gesperrt werden müssen. Und dann fiel die Entscheidung, dass 1990 die Arbeiterfestspiele im Bezirk Cottbus stattfinden sollten. Und da hat man sich entschieden, eine ziemlich aufwändige Rekonstruktion durchzuführen und 1990 dieses Haus neu zu präsentieren. Da kam der Schnürboden dazu. Die Veränderung war total, was da passiert ist. "
Die baulichen Voraussetzungen für den Theaterbetrieb waren auf einmal wunderbar, doch nun musste das Ensemble verkleinert werden. Orchester, Chor und Ballett wurden 1993 abgeschafft, das Schauspiel konzentrierte sich auf Kinder- und Jugendtheater. Ohne diese Beschränkung gäbe es das Haus wahrscheinlich nicht mehr. In den 90er Jahren wurden die Sparzwänge im Land Brandenburg so groß, dass viele Kulturinstitutionen kurzerhand geschlossen oder mit anderen zusammengelegt wurden.
Die Neue Bühne Senftenberg überlebte auch deshalb, weil sich die Stadt und der Landkreis zu ihrem Theater bekannten. Heute bezuschussen sie den Spielbetrieb gemeinsam mit knapp 2 Millionen Euro. Das Land gibt dieselbe Summe noch einmal dazu. Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wurde nie die Schließung des Theaters gefordert, betont der Senftenberger Bürgermeister Klaus-Jürgen Graßhoff.
„Das Theater ist ein Faktor, der den Leuten Mut macht, in der Region, wie andere Dinge. Wir haben gesagt: Wir müssen den Kopf ganz nach oben strecken. Wir müssen Optimismus verbreiten, so schwer, wie es auch manchmal ist, bei 25 % Arbeitslosigkeit. "
Senftenberg ist eine Hochburg der Montagsdemonstrationen. Als im Rest der Bundesrepublik die Proteste gegen Hartz IV abebbten, gingen die Aktionen in der Bergarbeiterstadt weiter – bis heute.
Die Demonstranten kamen auch ins Theater, um für Arbeitslose freien Eintritt zu erreichen. Der Intendant hieß sie herzlich willkommen.
Latchinian: „Wir haben ein Agreement gefunden, wie die Arbeitslosen in unsere öffentlichen Generalproben kommen können, ohne dafür zahlen zu müssen. Andererseits ist Freikarte eine wirtschaftlich heikle Angelegenheit. Aber ich vertrete das gern. Jeder Zuschauer ist besser als keiner. Auch das sind wieder Multiplikatoren für zahlungskräftige Zuschauer.“
Und außerdem möchte Sewan Latchinian „Theater für alle“ machen – für alle gesellschaftlichen Schichten und alle Altersgruppen. Gespielt wird heute alles – vom Märchenstück bis zum klassischen Drama, von Komödien bis zum zeitbezogenen Problemstück.
Ein besonderer Coup in der letzten Spielzeit war die Uraufführung des Stücks „Was wollt ihr denn“ von Volker Braun. Der schwer zu erfassende, bildreiche Text, der sich mit Problemen der Globalisierung auseinandersetzt, war eigentlich ein Auftragswerk für das Berliner Ensemble. Doch der dortige Intendant Claus Peymann traute sich an das Stück nicht heran und überließ es Sewan Latchinian – sehr zum Vorteil des Senftenberger Theaters. Die Uraufführung machte Schlagzeilen in den überregionalen Feuilletons.
Die Senftenberger fühlten sich geehrt. In der Stadt gibt es viele Menschen, die ins Theater gehen, weil es einfach zu ihrem Leben dazu gehört.
Besucherin: „Mein erstes Stück hier war eine Oper „La Traviata“. Da war ich in der 7. Klasse. Ich sag jetzt nicht, wann das war. (lacht) Es war toll. Es war mein erstes hier. Seitdem, ja, gehört das Theater dazu.“
Solche Zuschauer kann sich ein Intendant nur wünschen. Doch Sewan Latchinian belässt es nicht dabei. Er wirbt auch um die anderen, die Problemstücken aus dem Weg gehen und vom Theater in erster Linie Unterhaltung erwarten. Im Sommer organisierte er ein Komödienfestival, während der Saison lud er bekannte Kabarettisten nach Senftenberg ein. Großen Anklang fand auch seine Idee, mit Gästen auf der Bühne zu kochen – frei nach dem Modell Biolek. Eingeladen werden vor allem Schauspieler, die früher einmal in Senftenberg engagiert waren – sehr zur Freude des älteren Publikums.
Besucherin: „Wie Annekatrin Bürger hier war, hat jemand gerufen: Sie haben nicht in der Hausnummer gewohnt, sondern in der. Ich wohnte gegenüber. Das ist eine ungeheure Verbundenheit.“
Und der Intendant versteht es, diese Verbundenheit zu nähren. Er holt nicht nur Gäste ins Haus, sondern schickt seine Schauspieler auch auf den Markt, um für Vorstellungen zu werben. Das Theater ist in der Stadt präsent, wie nie zuvor.
Zum Saisonauftakt wird es nun ein neues „Glückauf-Fest“ geben – diesmal mit zwölf Premieren: Goethes „Faust“ ist dabei, „Iphigenie auf Tauris“ und eine neue Version der „Räuber“ von Schiller – alles keine kleinen Produktionen.
Die Bühnenarbeiter stöhnen, Schauspieler proben bis zur Erschöpfung, Überstunden werden nicht mehr aufgeschrieben. Doch niemand rebelliert. Alle wissen, dass das Theater etwas bieten muss, wenn es auf Dauer überleben will, und der Intendant geht mit gutem Beispiel voran. Er organisiert, inszeniert und steht bei einigen Produktionen auch als Schauspieler auf der Bühne.
Latchinians Enthusiasmus reißt viele mit. Hannes Schindler von der Band Wallahalla, die bei einigen Senftenberger Produktionen live Musik macht, hat ihn bei den Proben beobachtet.
„Ich glaube, er verlangt alles von jedem. Der Einsatz ist sehr hoch. Jeder ist komplett dabei. Dienst nach Vorschrift gibt es hier eigentlich nicht. Das macht sich schon bemerkbar. Er ist aber – wie ich ihn erlebe – nicht der Chef, der sagt, wie es langgeht, sondern er ist offen für Ideen. "
Und das motiviert. Latchinian schreibt seinen Mitarbeitern nicht alles vor, sondern denkt gemeinsam mit ihnen über Probleme nach. Die Stimmung an dem Haus ist so gut, dass Latchinian momentan trotz seines knappen Budgets keine Mühe hat, renommierte Gäste zu engagieren.
Latchinian: „Es gibt eine große Lust bei gestandenen Theaterleuten, bei uns mitzumachen ... Nur so erkläre ich es mir, dass Regisseure bei Verhandlungen nicht ihren Marktwert nennen, sondern sagen: Gebt mir einfach, was ihr habt. Darüber bin ich froh, und nur so ist es möglich. Ich denke, dass viele auch gern mitkämpfen, dass ein kleines Theater in der so genannten Provinz nicht auch geschlossen wird. ... Die Liste von Regisseuren ist noch viel länger, als ich hier produktiv machen kann: Es gibt ein Interesse von Peter Sodann hier zu inszenieren, Friedo Solter, Alejandro Quintana, um nur drei zu nennen. "
Der Schwung des Anfangs ist also noch lange nicht verbraucht. Die Bergbauglocke auf dem Dach des Senftenberger Theaters wird noch viele Vorstellungen einläuten.
(Glocke) „... Und nun beginnt die Tagschicht. Es geht weiter auf der Bühne mit „Senftenberger Erzählungen“, im Studio mit „Schatzinsel“ ...“
Elf Stücke laufen an einem Abend, teilweise parallel. Die Besucher können sich ihr Programm selbst zusammenstellen ...
„... Bitte finden Sie sich nun wieder beim Treffpunkt ein. Danke.“
... zu den entlegeneren Spielorten werden die Zuschauer geleitet. Das ganze Haus ist Bühne. Im Malsaal, im Keller, in den Foyers – überall wird Theater gespielt. Und selbst in den Pausen geht das Programm weiter. Schauspieler singen Schlager, Getränke und Snacks werden verkauft, im Hof lodert ein Lagerfeuer.
Die Idee ist an sich nicht neu. Seit Benno Besson in den 70er Jahren an der Volksbühne in Ostberlin zu Spektakeln einlud, hat es solche Theaterfeste immer wieder gegeben, doch noch nie in einer so kleinen Stadt wie Senftenberg. Die Einwohnerzahl liegt unter 30.000 mit sinkender Tendenz. Vor allem junge Leute ziehen weg, weil sie keine Arbeit finden. Zurück bleiben vor allem Rentner und Arbeitslose, und denen fehlt für Kulturveranstaltungen oft das Geld. Seit 2001 gibt es in Senftenberg nicht einmal mehr ein Kino. Doch all das konnte den neuen Theaterintendanten Sewan Latchinian nicht entmutigen.
Latchinian: „Hier steckt ein riesiges Potential in diesem so genannten Armenhaus. Das sind hier ganz interessierte Menschen, auch was Theater betrifft gut geprägte Menschen. Es war ja eine Art Bochum der DDR. Auch durch 20-jährige Patenschaft mit dem Deutschen Theater Berlin ist hier ein sehr gut geprägtes Publikum und eine gut geprägte Theatermannschaft, so dass das für mich gar keine Frage ist, dass das ein glücklicher Ort ist für Theater. "
Die Bilanz des ersten Glückauf-Festes gibt Sewan Latchinian Recht. Es wurde in der vorigen Spielzeit insgesamt zehn Mal veranstaltet und lockte 3000 Zuschauer ins Theater. Viele kamen sogar mehrmals, um auch die Stücke sehen zu können, die sie beim ersten Besuch verpasst hatten. Und das, obwohl beileibe nicht nur Unterhaltung geboten wurde. Auf dem Programm standen u.a. die Uraufführung der „Senftenberger Erzählungen“ von Hartmut Lange, eine moderne Adaption des Wedekind-Klassikers „Frühlings Erwachen“ und eine Bühnenfassung des Romans „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann.
Szene aus „Franziska Linkerhand“:
„Ich hoffe, Sie haben hinsichtlich Ihrer Arbeitsaufgaben keine zu großen Erwartungen. Sollten Sie die überspannte Vorstellung haben, Neustadt ist ein Experimentierfeld, sollten Sie diese sofort revidieren. Wir haben nur die eine Aufgabe, Wohnungen für unsere Werktätigen zu bauen: Sehr schnell, sehr viele und so billig wie möglich. "
Worte eines Chefs an seine neue Mitarbeiterin. Franziska Linkerhand ist Architektin und will beim Aufbau einer sozialistischen Stadt helfen. Das Stück erzählt die Geschichte ihres Scheiterns. Für Kreativität gab es im DDR-Wohnungsbau keinen Raum. „Arbeiterwohnregale“ hießen die Plattenbauten im Volksmund. Sie stehen auch in Senftenberg. Im so genannten Südgebiet wurde in den 70er Jahren ein ganzer Stadtteil aus dem Boden gestampft, so unwirtlich, dass heute kaum noch jemand dort wohnen will. Das Theater beschäftigt sich mit Problemen, die die Menschen angehen. Meinungen aus einer Umfrage am Rande des Glückauf-Fests.
„Die Inszenierungen sind hervorragend. Schauspieler Klasse. Erstaunlich, was die hier alles an einem Abend durchspielen können. Es sind aktuelle Themen.
Gefällt mir sehr gut. Bin das zweite Mal heute hier und denke, ich gehe auch noch das dritte Mal, um das zu sehen, was ich noch nicht gesehen habe. Es sind dolle Sachen, die hier entstanden sind – vielfältig.
Es ist ein großes Angebot und es sind schöne Stücke – ich habe ja erst drei gesehen. Und es ist ein großes Engagement. Ich hoffe ja, dass es noch einen Aufschwung gibt für Senftenberg und Umgebung.“
Theater als Hoffnungszeichen zwischen Bergen von Problemen – genau diese Wirkung wollte Sewan Latchinian erreichen. Er hat dem Spektakel den Titel „Glückauf-Fest“ gegeben, um an die Senftenberger Bergbautradition zu erinnern, und um all denen Glück zu wünschen, die nach dem Ende des Braunkohleabbaus eine neue Zukunft suchen. Auch der Glockenjingle, mit dem beim Fest der Beginn der Vorstellungen angekündigt wird, hat eine symbolische Bedeutung.
Latchinian: „Es war eine Glocke, die in einer so genannten Waschkaue hing – das ist der Trakt, wo sich Braunkohlenarbeiter umgezogen haben, den Staub abgewaschen haben, darüber hing eine Glocke, die den Rhythmus der Schichtwechsel angezeigt hat. Und diese Glocke aus der Waschkaue zu Brieske haben wir auf unser Theaterdach geholt, weil diese Glocke 15 Jahre nicht mehr geläutet hat. Wir haben uns gedacht, das wäre ein Symbol, die Glocke aufs Dach zu holen, um die Identität der Region immer wieder zu versinnlichen. "
Und das versteht jeder – auch die, die mit Bergbau nie etwas zu tun hatten. Das Theater will kein Elfenbeinturm sein, sondern bekennt sich zur Region. Senftenberg ist von stillgelegten Braunkohlentagebauen umgeben, die nach und nach geflutet werden und sich so in eine Seenlandschaft verwandeln, wo Touristen die „Kohle“, sprich Arbeitsplätze, bringen sollen.
Das Theater jedenfalls nennt sich seit 1990 nicht mehr „Theater der Bergarbeiter“, sondern schlicht und sachlich „Neue Bühne“. Gegründet wurde es 1946 auf Anregung des sowjetischen Stadtkommandanten. Da den Werktätigen der Kohleindustrie nur das Beste geboten werden sollte, wurde die Provinzbühne per Kooperationsvertrag mit dem renommierten Deutschen Theater in Ostberlin verbunden.
Viele bekannte Schauspieler und Regisseure kamen nach Senftenberg – nicht alle freiwillig. Doch für manche war das Theater der Bergarbeiter ein Karrieresprungbrett. Vor allem für junge Schauspieler. An dem Haus spielten Annekatrin Bürger, Angelica Domröse und Armin Müller-Stahl; Regisseure wie Horst Schönemann oder später Frank Castorf zeichneten für die Inszenierungen verantwortlich.
Provinzmief konnte so kaum entstehen – zumindest nicht im Schauspiel. Bei Oper und Ballett, die es an dem Haus ebenfalls gab, sah es weniger gut aus, und bühnentechnisch war das Theater eine reine Katastrophe. Heinz Klevenow, der 1990 in Senftenberg Intendant wurde, erinnert sich:
„Das war ein so marodes Haus, das hätte eigentlich lange feuerpolizeilich gesperrt werden müssen. Und dann fiel die Entscheidung, dass 1990 die Arbeiterfestspiele im Bezirk Cottbus stattfinden sollten. Und da hat man sich entschieden, eine ziemlich aufwändige Rekonstruktion durchzuführen und 1990 dieses Haus neu zu präsentieren. Da kam der Schnürboden dazu. Die Veränderung war total, was da passiert ist. "
Die baulichen Voraussetzungen für den Theaterbetrieb waren auf einmal wunderbar, doch nun musste das Ensemble verkleinert werden. Orchester, Chor und Ballett wurden 1993 abgeschafft, das Schauspiel konzentrierte sich auf Kinder- und Jugendtheater. Ohne diese Beschränkung gäbe es das Haus wahrscheinlich nicht mehr. In den 90er Jahren wurden die Sparzwänge im Land Brandenburg so groß, dass viele Kulturinstitutionen kurzerhand geschlossen oder mit anderen zusammengelegt wurden.
Die Neue Bühne Senftenberg überlebte auch deshalb, weil sich die Stadt und der Landkreis zu ihrem Theater bekannten. Heute bezuschussen sie den Spielbetrieb gemeinsam mit knapp 2 Millionen Euro. Das Land gibt dieselbe Summe noch einmal dazu. Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wurde nie die Schließung des Theaters gefordert, betont der Senftenberger Bürgermeister Klaus-Jürgen Graßhoff.
„Das Theater ist ein Faktor, der den Leuten Mut macht, in der Region, wie andere Dinge. Wir haben gesagt: Wir müssen den Kopf ganz nach oben strecken. Wir müssen Optimismus verbreiten, so schwer, wie es auch manchmal ist, bei 25 % Arbeitslosigkeit. "
Senftenberg ist eine Hochburg der Montagsdemonstrationen. Als im Rest der Bundesrepublik die Proteste gegen Hartz IV abebbten, gingen die Aktionen in der Bergarbeiterstadt weiter – bis heute.
Die Demonstranten kamen auch ins Theater, um für Arbeitslose freien Eintritt zu erreichen. Der Intendant hieß sie herzlich willkommen.
Latchinian: „Wir haben ein Agreement gefunden, wie die Arbeitslosen in unsere öffentlichen Generalproben kommen können, ohne dafür zahlen zu müssen. Andererseits ist Freikarte eine wirtschaftlich heikle Angelegenheit. Aber ich vertrete das gern. Jeder Zuschauer ist besser als keiner. Auch das sind wieder Multiplikatoren für zahlungskräftige Zuschauer.“
Und außerdem möchte Sewan Latchinian „Theater für alle“ machen – für alle gesellschaftlichen Schichten und alle Altersgruppen. Gespielt wird heute alles – vom Märchenstück bis zum klassischen Drama, von Komödien bis zum zeitbezogenen Problemstück.
Ein besonderer Coup in der letzten Spielzeit war die Uraufführung des Stücks „Was wollt ihr denn“ von Volker Braun. Der schwer zu erfassende, bildreiche Text, der sich mit Problemen der Globalisierung auseinandersetzt, war eigentlich ein Auftragswerk für das Berliner Ensemble. Doch der dortige Intendant Claus Peymann traute sich an das Stück nicht heran und überließ es Sewan Latchinian – sehr zum Vorteil des Senftenberger Theaters. Die Uraufführung machte Schlagzeilen in den überregionalen Feuilletons.
Die Senftenberger fühlten sich geehrt. In der Stadt gibt es viele Menschen, die ins Theater gehen, weil es einfach zu ihrem Leben dazu gehört.
Besucherin: „Mein erstes Stück hier war eine Oper „La Traviata“. Da war ich in der 7. Klasse. Ich sag jetzt nicht, wann das war. (lacht) Es war toll. Es war mein erstes hier. Seitdem, ja, gehört das Theater dazu.“
Solche Zuschauer kann sich ein Intendant nur wünschen. Doch Sewan Latchinian belässt es nicht dabei. Er wirbt auch um die anderen, die Problemstücken aus dem Weg gehen und vom Theater in erster Linie Unterhaltung erwarten. Im Sommer organisierte er ein Komödienfestival, während der Saison lud er bekannte Kabarettisten nach Senftenberg ein. Großen Anklang fand auch seine Idee, mit Gästen auf der Bühne zu kochen – frei nach dem Modell Biolek. Eingeladen werden vor allem Schauspieler, die früher einmal in Senftenberg engagiert waren – sehr zur Freude des älteren Publikums.
Besucherin: „Wie Annekatrin Bürger hier war, hat jemand gerufen: Sie haben nicht in der Hausnummer gewohnt, sondern in der. Ich wohnte gegenüber. Das ist eine ungeheure Verbundenheit.“
Und der Intendant versteht es, diese Verbundenheit zu nähren. Er holt nicht nur Gäste ins Haus, sondern schickt seine Schauspieler auch auf den Markt, um für Vorstellungen zu werben. Das Theater ist in der Stadt präsent, wie nie zuvor.
Zum Saisonauftakt wird es nun ein neues „Glückauf-Fest“ geben – diesmal mit zwölf Premieren: Goethes „Faust“ ist dabei, „Iphigenie auf Tauris“ und eine neue Version der „Räuber“ von Schiller – alles keine kleinen Produktionen.
Die Bühnenarbeiter stöhnen, Schauspieler proben bis zur Erschöpfung, Überstunden werden nicht mehr aufgeschrieben. Doch niemand rebelliert. Alle wissen, dass das Theater etwas bieten muss, wenn es auf Dauer überleben will, und der Intendant geht mit gutem Beispiel voran. Er organisiert, inszeniert und steht bei einigen Produktionen auch als Schauspieler auf der Bühne.
Latchinians Enthusiasmus reißt viele mit. Hannes Schindler von der Band Wallahalla, die bei einigen Senftenberger Produktionen live Musik macht, hat ihn bei den Proben beobachtet.
„Ich glaube, er verlangt alles von jedem. Der Einsatz ist sehr hoch. Jeder ist komplett dabei. Dienst nach Vorschrift gibt es hier eigentlich nicht. Das macht sich schon bemerkbar. Er ist aber – wie ich ihn erlebe – nicht der Chef, der sagt, wie es langgeht, sondern er ist offen für Ideen. "
Und das motiviert. Latchinian schreibt seinen Mitarbeitern nicht alles vor, sondern denkt gemeinsam mit ihnen über Probleme nach. Die Stimmung an dem Haus ist so gut, dass Latchinian momentan trotz seines knappen Budgets keine Mühe hat, renommierte Gäste zu engagieren.
Latchinian: „Es gibt eine große Lust bei gestandenen Theaterleuten, bei uns mitzumachen ... Nur so erkläre ich es mir, dass Regisseure bei Verhandlungen nicht ihren Marktwert nennen, sondern sagen: Gebt mir einfach, was ihr habt. Darüber bin ich froh, und nur so ist es möglich. Ich denke, dass viele auch gern mitkämpfen, dass ein kleines Theater in der so genannten Provinz nicht auch geschlossen wird. ... Die Liste von Regisseuren ist noch viel länger, als ich hier produktiv machen kann: Es gibt ein Interesse von Peter Sodann hier zu inszenieren, Friedo Solter, Alejandro Quintana, um nur drei zu nennen. "
Der Schwung des Anfangs ist also noch lange nicht verbraucht. Die Bergbauglocke auf dem Dach des Senftenberger Theaters wird noch viele Vorstellungen einläuten.