Theater-Enzyklopädie

Von Michael Laages |
Einen Schauspielführer, sozusagen eine Enzyklopädie dieser zweieinhalb Jahrtausende, hat wohl jede Theatergängerin und jeder Theatergänger irgendwo im Bücherschrank. Und sehr oft war es der erstmals 1953 erschienene von Reclam – jetzt ist in diesem Verlag ein „Neuer Schauspielführer“ erschienen.
Praktisch alles ist neu – außer, dass die Präsentation von gut 600 im Detail beschriebenen Stücken immer noch der Chronologie der Geburtsdaten von über 300 Autorinnen und Autoren folgt. Ansonsten aber hat der Verlag nach 21 mal mehr, mal weniger gründlich überarbeiteten Auflagen ein vollständig neues Herausgeber-Gremium mit der Arbeit an der Rundumerneuerung des Schauspielführers betraut; unter der Leitung von Marion Siems sind Literatur- und Theaterwissenschaftler, Journalisten und Theaterpraktiker aus den Dramaturgien mit der kompletten Neufassung praktisch aller Teile des Buches befasst gewesen.

Und auch mit den vertrauten STRUKTUREN der Auflagen zuvor hat das Team gebrochen. Dass das so ist, wird schon beim ersten Hinlesen deutlich.

So folgte dem knappen Vorwort stets die erste theaterhistorische Übersicht: von der Antike bis 1900. Dreigeteilt war die Geschichte – diesem ersten großen Abschnitt folgten die Zeiträume „von 1900 bis 1945“ und „von 1945 bis heute“; jeweils auch mit einleitenden Texten versehen. Dieser zuweilen ja tatsächlich arg akademische und mit den Bruch- und Wendepunkten 1900 und 1945 sicher nicht unbedingte zwingende Aufbau wurde jetzt völlig aufgegeben – aber er fehlt auch, vor allem der zeitgeschichtlichen Verweise in den früheren Zwischentexten wegen; Entwicklungen von Politik und Gesellschaft müssen nun vollständig von den Autoren- und Stück-Porträts geleistet werden: von Aischylos bis zu Marius von Mayenburg.

Stets waren diese Texte, über die Autoren wie über die Stücke, auch vom jeweiligen THEATER-GEIST DER ZEIT geprägt, speziell in der Frage des Weglassens: Was wird gerade viel gespielt, was nicht? Was also muss rein in den Führer, was kann auch draußen bleiben, am Rande nur gestreift oder gänzlich unerwähnt? Quer durch die Zeiten konzentrieren sich die Neuen stärker als die Alten auf die Theaterpraxis. BEISPIEL Euripides – der kam kaum vor in älteren Ausgaben; weil die Antike-Spezialisten stets Aischylos, Sophokles und Aristophanes bevorzugten und den morbide-zynischen Satiriker Euripides gering schätzten, der aber heute, dem Geist der Zeit geschuldet, viel höher im Kurs steht. BEISPIEL Hans Henny Jahnn – zwar ist in den früheren Ausgaben keines der Stücke des homophilen Sonderlings und Orgelbauers aus Hamburg richtig gross, dafür sind aber alle ganz kurz und knapp vorgestellt; im neuen kommt im Detail nur noch die gelegentlich gespielte „Medea“ vor.

BEISPIEL Henrik Ibsen – parallel zur Aufführungspraxis lässt das neue Team etwa in der viel gespielten „Hedda Gabler“ wichtige Details unter den Tisch fallen; und „Brand“, eines der fundamentalsten Stücke des Dramatikers ist im Führer fast so vergessen wie auf den Bühnen.

BEISPIEL aber vor allem: die Gegenwart der Zeitgenossen. Der neue Schauspielführer ist eher ein Schauspielführer durch die Neuigkeiten. Der von 1990 endete bei Thomas Bernhard – der neue rückt das Spektrum bis fast an die aktuellen Uraufführungen heran: mit Mayenburg und Moritz Rinke, Dea Loher und Lukas Bärfuss, Gesine Danckwart und Falk Richter, Martin McDonagh und Biljana Srbljanovic, Jon Fosse und Sarah Kane. Erstaunlicherweise fehlt allerdings immer noch der meistbeschäftigte deutsche Gegenwartsautor: Lutz Hübner; wohl weil seine Stücke als Jugendtheater gelten.

Und selbst der Regisseur Christoph Marthaler kommt als Autor vor – obwohl nun gerade er überhaupt nicht schreibt, aber sehr wohl vorgefundene Texte in eigenen Montagen als neues Theatermaterial erfindet.

Ähnliches gilt für den Regie-Kollegen Christoph Schlingensief, dessen „Schreiben“ vor allem in der Improvisation begründet liegt – und der allemal „Autor“ ist. Erstaunlicherweise nicht mehr als Autor (wie noch zuvor), sondern nur noch als Regisseur findet Robert Wilson Erwähnung, endlich auch als Autor wahr genommen wird Einar Schleef. Wirklich konsequent aber ist das nicht – dabei reserviert die Herausgeberin Siems die ganze verbliebene Einführung für eine ausführliche Debatte über Regietheater und Autorenschaft, also letztlich über den Streit um den „WERKTREUE“-Begriff. Mit pointierten Fragen und Antworten zwar; etwa: Wie Goethe, der gewiefte Theaterdirektor, heute die eigenen Stücke inszenieren würde – doch nicht wort- und werkgetreu wie damals! Aber als Entree zum Schauspielführer nimmt sich dieser Diskurs schon etwas absonderlich aus – wie praktisch auch immer er gemeint ist.

Fazit: Der Neue ersetzt den alten Schauspielführer nicht, er ergänzt ihn. Da war viel Mühe um Aktualität & Praxis; aber wenig, ja zu wenig Sorge & Pflege historischer Kenntnis. Wem es also nicht vornehmlich um junge, zeitgenössische Autorinnen und Autoren zu tun ist, der sollte neben dem Neuen auch immer noch einen der Alten Reclam-Schauspielführer in Reserve haben.