Theater als abgründiges, rauschendes Fest

Von Susanne Burkhardt · 20.10.2013
Er war einer der letzten außergewöhnlichen Regisseure unserer Theaterlandschaft. Und einer ihrer letzten "Gläubigen" - sein Hausheiliger war der Dramatiker Heiner Müller, ohne dessen Bühnenwerke die Karriere des gebürtigen Bulgaren Dimiter Gotscheff nicht denkbar gewesen wäre. In der Nacht zum Sonntag ist er im Alter von 70 Jahren gestorben.
Nimmt man die Worte eines amerikanischen Komikers ernst, wonach man nicht sterben kann, weil man doch bereits gebucht ist, dann hätte Dimiter Gotscheff nicht sterben dürfen. Er stand doch längst im Wort: für verschiedene Beckett-Projekte: "Warten auf Godot" in Berlin, "Endspiel" in Wien, und dann noch Beckett-Texte für seine Partnerin Almut Zilcher und sich.

Noch vor einer Woche, da bereits im Krankenhaus, waren diese Projekte ganz realistisch. Jetzt hinterlässt Mitko – wie ihn seine Freunde nannten - eine trauernde Theaterfamilie, deren Schamane, deren Nukleus er so lange war: Almut Zilcher, Margit Bendokat, Samuel Finzi und Wolfram Koch – vier von vielen Namen, mit denen er über viele Jahre gearbeitet hat.

"Es ist keine Bequemlichkeit, dass ich mit diesen genannten Schauspielern arbeite – es gehört zum Ritual von Schweigen, Arbeiten oder Suche."

In seinen Ritualen des Arbeitens und Schweigens ähnelte er seiner "Ersatzheimat" – dem Dramatiker Heiner Müller. Er traf ihn 1964 in Berlin, wohin er kam, um Tiermedizin zu studieren. Die Begegnung veränderte sein Leben. Gotscheff wechselte zur Theaterwissenschaft, wurde Schüler von Benno Besson und Fritz Marquardt. Sein Theaterleben ist ohne Heiner Müller nicht denkbar. Es begann mit einer Müller-Inszenierung in Nordhausen und endete in diesem Jahr mit seiner letzten Arbeit: "Zement" in München.

"Ich möchte nicht ein Leben haben ohne Heiner Müller. Er hat eine Nabelschnur geworfen, ich hänge an ihr. Es gibt noch Texte, die ich noch nicht gemacht habe. Solange ich lebe, werde ich die versuchen in Wien oder Hamburg oder Berlin zu inszenieren. Ohne Müller geht nicht."

Aus dieser Nabelschnur-Beziehung entstanden seine besten Arbeiten wie die Müller-Fassung des Aischylos-Textes "Perser" am Deutschen Theater Berlin. Aber auch andere Autoren und ihre Utopien, ihre Sprachgenauigkeit begeisterten Gotscheff – wie Kleist, Shakespeare, Büchner oder Tschechow. Seine sensationelle "Iwanow"-Aufführung in der Berliner Volksbühne ist seit zehn Jahren ein Publikumsrenner. Denn für Gotscheff war das ideale Theater ein abgründiges, rauschendes, dionysisches Fest und Spielen: eine Religion.

"Ich finde, dass der Müller da einen tollen Satz gemacht hat: Theater hat mit dem Kopf nichts zu tun, Theater kommt aus der Ferse."

Ein anarchistisches Theater, das aus der Ferse kommt, aus dem Körper, geschaffen, in schmerzhaften Prozessen, bei dem das Ergebnis erst mal gar nicht wichtig war und das die Zuschauer auch mal ratlos hinterlassen konnte. Die Bühne meist leer oder gefüllt mit Schaum, Blütenblättern oder Nebel. Der Fokus: die Schauspieler. Ihnen schuf er Räume, in denen sie sich entfalten konnten, schaufelte ihnen eine Piste wie er es nannte:

"Für mich ist der Schauspieler wichtiger als ich. Viele sagen, dass ich die Schauspieler liebe und das ist auch so. Ja! Ich liebe sie, aber ich beneide sie auch, weil ich einfach nur unten sitze und so tun muss, als ob ich alles weiß, mach' ich aber nicht. Und deswegen geh' ich eben auch mal auf die Bühne. Ich bin – zumindest zu meinen Schauspielern - ein liebevoller Mensch."

Dimiter Gotscheff, der ungewöhnliche Probenmethoden nicht scheute, schwieg vor Jahren im griechischen Amphitheater in Epidaurus mit den jahrtausendealten Steinen. Er war sicher, dass die Aufführung danach genau deshalb so gut gelungen sei.

Er wäre, wie er noch vor kurzem sagte, gern so ein Stein in Epidaurus. Sein Verlust für die Theaterwelt ist mit dem Gedanken daran leichter zu ertragen, dass Dimiter Gotscheff jetzt vielleicht in einem der Steine wiederzufinden ist. Unter dem Himmel von Epidaurus. Nah an den Ursprüngen, und so weiterwirkt im Theaterlauf.