"The Kaiser" im neuen Licht

22.10.2008
Seit dem I. Weltkrieg wurde der deutsche Kaiser Wilhelm II. in den englischen Medien als politischer Hasardeur dargestellt. Der in England lehrende Australier Christopher Clark wagt nun einen neuen Blick auf "the Kaiser". Er zeichnet ihn nicht als Alleinverantwortlichen für die Katastrophen deutscher Politik, sondern als Teil einer Gesellschaft im Wandel.
Warum ist die Erforschung Wilhelm II. von Angelsachsen dominiert? Die Frage stellt sich unwillkürlich, wenn man die vielen Bücher, die über "the Kaiser", wie er im Englischen schlicht genannt wird, sieht. Die Antwort ist vergleichsweise einfach: Viel mehr als auf dem Kontinent und zumal in Deutschland ist in Großbritannien der 1. Weltkrieg bis heute als die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bewusst – und als Ursache dieser Urkatastrophe gilt eben ganz wesentlich Kaiser Wilhelm II. Schon vor dem Weltkrieg wurde er in den englischen Medien als politischer Hasardeur und Gefahr für den britischen Weltmachtanspruch dargestellt, nach dem Überfall Deutschlands auf das neutrale Belgien – dessen Unabhängigkeit unter anderem Großbritannien garantiert hatte – kam die Stilisierung als finsterem Barbaren und Kulturschänder hinzu. "Hang the Kaiser" war eine weit verbreitete Forderung, und bis heute ist die englische Perspektive auf das Kaiserreich von ihr geprägt.

Umso erstaunlicher ist die nun endlich auch in deutscher Sprache, in Großbritannien schon seit 2001, erhältliche Biografie Wilhelms II., die von dem in England lehrenden Australier Christopher Clark geschrieben wurde. Ursprünglich war das Buch handliche 400 Seiten stark, Teil einer Taschenbuchreihe, in der bedeutende Persönlichkeiten der Weltgeschichte vorgestellt werden sollten. Es ist also ausdrücklich, auch wenn die Anmerkungen wissenschaftliche Gründlichkeit nachweisen, für eine breitere Leserschicht geschrieben.

Es soll keineswegs neue Aktenfunde aufzeigen, ist also von vorneherein gar nicht gedacht als Forschungskonkurrenz zu der Monumentalbiografie des Kaisers, mit der der englische Historiker John C.G. Röhl seit drei Jahrzehnten die Fachwelt in Atem hält. Clark nutzt deswegen gerne und ausgiebig Röhls Funde, aber er hat eine andere Sicht auf den Kaiser. Zwar ist auch er der Meinung, dass Wilhelm II. denkbar ungeeignet war für seinen innen- und außenpolitischen Machtanspruch. Aber – grundsätzlich erscheint der Machtanspruch des deutschen Kaisers Clark als mögliche Option in einer politischen Landschaft, die geprägt war von der für Zeitgenossen oft hysterisch erscheinenden Angst Englands, Frankreichs und Russlands, die eigene Macht eingeschränkt zu sehen durch den Newcomer im Zentrum Europas. Innenpolitisch hat der Kaiser, so Clark, vor allem die vielen Lücken ausgenutzt, die die Reichsverfassung gelassen hatte, weil die Bundesfürsten und auch Bismarck eigentlich keinen Einheitsstaat wollten.

Dass Wilhelm II. wankelmütig war, selbstgerecht, eitel bis zur Unerträglichkeit – man erinnere sich an seinen zur Ikone der Monarchie gewordenen Zwirbelbart, an die im wahrsten Sinne hunderte von Uniformen, die er nutzte und selbst noch ins Exil nach Doorn mitnahm, oder an die bis ins letzte Detail durchgeplanten und von ihm selbst redigierten öffentlichen Auftritte – das beklagten schon die Zeitgenossen. Und zwar keineswegs nur Katholiken, Liberale und Sozialdemokraten, die schon aus ideologischen Gründen kaiserkritisch waren, sondern gerade jene konservativen altpreußischen Kreise, die der einfachen Selbstdarstellung Wilhelm I. nachtrauerten.

Andererseits – und das macht Clark so erfreulich deutlich – war gerade dies Laute, Farbenprächtige, Werbende auch die Reaktion auf eine neue, laute, starke Kontraste liebende Gesellschaft. Wilhelm II. war in vielem, das sahen seine Zeitgenossen schon so und Clark folgt ihnen da, der perfekte Ausdruck weiter Teile des Bürgertums jener Jahre. Auch wenn er zeitweilig eine ungewöhnlich starke Position im ständig neu justierten Machtgefüge des Reiches einnahm: Bei allen autokratischen Allüren musste sich auch Wilhelm II. mit einer starken und sehr freien Presse, mit dem selbstbewussten Reichstag, nicht zuletzt einer durchaus nicht immer devoten Verwaltung auseinandersetzen.

Das Besondere an Clark ist, dass er es wagt, nicht nur die Akten und die Reden zu lesen, sondern auch die realen Handlungen mit ihnen abzugleichen. Dadurch erscheint der Kaiser als Teil einer Gesellschaft im Wandel. Er hatte oft das letzte Wort – doch gesprochen werden konnte und sollte es nur, weil vorher viele andere bereits gesprochen hatten. Diese neue Sicht auf den Kaiser, die sich fundamental unterscheidet von der John C.G. Röhls, der den Kaiser als fast Alleinverantwortlichen für die Katastrophen der deutschen Politik sieht, wäre noch deutlicher geworden, wenn sich Clark auch der Kunst- und der Kulturpolitik gewidmet hätte, auch dort seinen scharfen "Gegenblick" hätte walten lassen. Aber wie bei Röhl wird sie – ganz im Gegensatz zur Technik- oder Mediengeschichte – nicht als Kampffeld der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wahrgenommen.

Historiker sind bilderfeindlich – hier wird ein altes Vorurteil bestätigt. Aber das mindert kaum den positiven Gesamteindruck dieses Werks über eine der wichtigsten Personen des frühen 20. Jahrhunderts, in gewisser Hinsicht sogar den ersten sehr modernen Staatschef Deutschlands. Christopher Clark ist Australier und hat deswegen vielleicht einen kritischeren Blick auf die britische Selbstinszenierung als Kämpfer für Sitte und Kultur als Röhl, vor allem aber ist er gut 30 Jahre jünger als Röhl und damit aufgewachsen in einer Zeit, in der die Kämpfe des 20. Jahrhunderts zunehmend anfangen, aus der Sphäre der aktuellen in die der historischen Betrachtung zu wechseln. Clark markiert einen Generationenwechsel: Er muss Wilhelm II. nicht mehr wie Röhl im Kontext der Nazi-Zeit sehen, um seine Bedeutung zu erklären.

Rezensiert von Nikolaus Bernau

Christopher Clark: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers,
DVA Verlag, München 2008,. 24,95 Euro
Mehr zum Thema