Stilbildende Pophelden der Arbeiterklasse
Von 1977 bis zu ihrer Auflösung 1982 waren The Jam eine der erfolgreichsten Bands der Postpunk-Ära und gelten auch heute noch als stilbildend. Die hohe Kunst des Sängers Paul Weller bestand darin, Alltagserfahrungen in Drei-Minuten-Songs zu packen. Eine große Retrospektive in London würdigt jetzt diese Stilikonen der Working Class.
1977: Wie ein Orkan fegt der "Song In The City" des gerade mal 18-jährigen Paul Weller und seiner Band The Jam über die boomende Punkszene Englands. The JAM, drei Jugendlichen aus dem gesichtslosen Londoner Vorort Woking, wollen bei der britischen Punk Revolution mitmachen – aber nur zu ihren eigenen Bedingungen.
Songwriter und Sänger Paul Weller, Bassist Bruce Foxton und Schlagzeuger Rick Buckler spielen mit der gleichen überschäumenden Energie wie die Sex Pistols, aber von dem gewollten musikalischen Dilettantismus ihrer Altersgenossen halten sie wenig. "Fire and Skill" liest sich ein Aufkleber auf Paul Wellers Verstärker – The Jams Aufbegehrten zeichnet "Leidenschaft und Können" aus, aber auch intelligente Texte und Stilbewusstsein.
Der Funke springt sofort auf das Publikum über. Die Musik der Band gibt den Jugendlichen Fans die Kraft, um aufrechten Hauptes den Alltag im Großbritannien der späten 70er-Jahre zu überstehen, der für sie nicht viel mehr als Zumutungen und Perspektivlosigkeit bereithält.
Eine Fundgrube persönlicher Erinnerungen
Jon aus einem Londoner Vorort war damals einer von ihnen. Mittlerweile ist er Anfang 50 und trägt Glatzkopf.
In Bomberjacke und Jeans geht er verzückt zwischen den Exponaten der JAM-Retrospektive im altehrwürdigen Somerset House in London hin und her: Originalgitarren, Briefe, private Fotos, seltene Filmaufnahmen, Konzertvideos und Kleidung erzählen hier die Geschichte von drei begabten Londoner Teenagern aus ärmlichen Verhältnissen, die zur erfolgreichsten britischen Band der Nach-Punk-Ära wurden.
John: "Es ging um die Musik und was sie den Leuten bedeutete. Wir waren im gleichen Alter und wir Jungen identifizierten uns mit ihr. The Jam brachten unsere Lebenshaltung auf den Punkt. Und es ging natürlich darum, worüber Paul Weller sang. Er ist einfach ein Genie!"
Über fünf Jahre sollen sich die Vorbereitungen und Recherchen für die Ausstellung hingezogen haben.
Für Jon ist das Ergebnis eine Fundgrube persönlicher Erinnerungen, aber auch ein Zeichen, wie relevant das Erbe von The Jam geblieben ist.
"Das ist fabelhaft. Es bringt mich in die Zeit zurück, als ich 17, 18, 19 Jahre alt war und die Band zu ihrer besten Zeit erleben konnte. Das ist die beste Band, die es jemals gab. Punkt!
Wenn man bedenkt, dass sie sich vor 33 Jahren getrennt haben, beweist diese Ausstellung doch die nachhaltige Wirkung der Band. Manchmal sind Erinnerungen leider das einzige, was uns übrig bleibt. Das hier ist wirklich toll. Ich bin so glücklich, dass ich gekommen bin!"
Jenseits schwelgerischer Jugenderinnerungen zieht die Ausstellung aber auch jüngere Zuschauer an, die dank des thematischen und chronologischen Aufbaus sowie der mit Licht, Videos und Musik effektvoll präsentierten Schau in den damaligen Zeitgeist und die Geschichte der Band eintauchen können.
Mit Aufklebern Coolness suggerieren
Paul Weller wächst in einer intakten Familie, allerdings in kargen Verhältnissen ohne Heizung und mit Außenklo auf. 58 Pfund bezahlte sein Vater und lebenslanger Manager John 1974 beim örtlichen Musikalienhändler für Pauls Gitarre, so zeigt es eine handschriftliche Quittung in einer der Glasvitrinen.
Eine andere Vitrine dokumentiert, wie The Jam zu Beginn ihrer Karriere die Billiglabel ihrer Gitarren durch den viel cooleren Schriftzug des legendären Herstellers Rickenbacker ersetzen.
Steve ist aus Brighton angereist. Seine Kinder sind bald erwachsen. Die Mode und Frisuren aus der Jam-Ära begeistern ihn aber bis heute.
"Wir konnten uns die Mode leisten und wie unsere Helden aussehen mit Fred Perries, Jeans und Turnschuhe. Ich habe mich auch lange an Paul Wellers Frisur orientiert und das lange kopiert. Heute zwar nicht mehr, aber er hat immer einen guten Einfluss auf mich gehabt."
Nachhaltig beeindruckt sind aber auch weibliche Fans – und das aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ananya etwa ist Tochter einer indisch-stämmigen Familie:
"Ich war total verknallt in Bruce, den Bassisten. Ich liebte sein Aussehen, seine Frisur. Aber es war auch für mich als jemand aus der Arbeiterklasse großartig, dass die Band politisch für die gleichen Dinge stand, an die ich auch glaube. Außerdem war die Band für mich eine Chance, aus der Rolle als unterdrückte indische Frau auszubrechen. Ich habe das einfach gelebt. Und hier kann ich mich an all diese fantastischen Zeiten erinnern. Toll, toll, toll!"
Produzent Coppersmith-Heaven wird nicht erwähnt
Fans und Interessierte kommen bei der Jam-Retrospektive voll auf ihre Kosten. In der Fülle des Materials tut sich nur eine offenkundige Lücke auf: Die bahnbrechende, kongeniale Produktionsarbeit des Jam-Produzenten Vic Coppersmith-Heaven wird nicht gewürdigt. Ähnlich wie bei den Beatles der Produzent George Martin als "fünter Beatle" galt, könnte man Coppersmith-Heaven als "George Martin der New Wave Ära" beschreiben. Ohne sein Können wären wahrscheinlich kaum 18 Jam-Singles in sechs Jahren in den britischen Charts gelandet.
Das musikalische Erbe der Band wirkt bis heute nach: Der energetische Sound von The Jam, gepaart mit musikalischer Raffinesse und Virtuosität ihres Produzenten wurde zur Blaupause für Bands wie Blur, Oasis und Franz Ferdinand.
Paul Weller war gerade einmal 24 Jahre jung, als er The Jam auflöste. In dieser Zeit ist es den drei Musikern gelungen, sich nachhaltig in die Herzen vieler Fans und das kollektive britische Gedächtnis einzubrennen – und das vor allem dank der Musik, die, wie es Oasis Mann Noel Gallagher empfindet, "touched by the hand of genius" ist. Was der streitfreudige Gallagher ja nun nicht mal einfach so behaupten würde.