Terror mit begrenzten Mitteln

30.11.2006
Wenn heutzutage von Terrorismus die Rede ist, denkt man vor allem an den islamistischen Terror der jüngsten Vergangenheit. Dass auch der Linksterrorismus der 60er, 70er und 80er Jahre zahlreiche Opfer forderte, ruft Wolfgang Kraushaar mit seinem epochalen Werk "Die RAF und der linke Terrorismus" in Erinnerung. Zugleich zeigt die umfangreiche Studie zentrale Unterschiede zwischen politisch und religiös motiviertem Töten auf.
34 Menschen ermordete die RAF zwischen 1970 und 1993. "Wenn wir heute – die neue Herausforderung des gegenwärtigen Terrorismus vor Augen – auf die Zeit der RAF, der Roten Brigaden, der Weathermen usw. zurückblicken, liegt es fast nahe, nostalgische Gefühle zu entwickeln", schreibt Henner Hess, einer der Autoren des zweibändigen Werkes. Die beinahe nostalgischen Gefühle beziehen sich nicht nur auf die vergleichsweise niedrigen Opferzahlen, sondern mehr noch auf die Orientierung der Täter: "Die Ideale der Akteure waren, wenn auch in verschrobener Variation, letztlich noch die Ideale der Aufklärung: Fortschritt, Freiheit, Gerechtigkeit. Die Akteure versuchten, ihre Ziele mit möglichst geringen Kollateralschäden zu erreichen, weil sie Rücksicht auf die von ihnen zu mobilisierenden "Massen" nehmen mussten. Die Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, waren sehr begrenzt. Entsprechend begrenzt waren die tatsächlichen Gefahren, die von ihnen ausgingen."

Die von Wolfgang Kraushaar herausgegebene Beschreibung und Analyse dieses Terrorismus der begrenzten Mittel umfasst 1400 Seiten mit Beiträgen von 47 Autoren. Die meisten, aber nicht alle Beiträge sind neu. So ist auch der verstorbene Sebastian Haffner vertreten, der in einem hellsichtigen Essay schon 1966 Maos Guerillakrieg als neuen Krieg beschrieb, bei dem die schwächere Seite gewinne und die scheinbare Übermacht sich als Ohnmacht erweise. Was Haffner noch nicht begrifflich fassen kann ("…zugleich aber ist eine neue Art Krieg aufgekommen – von der herkömmlichen so verschieden, dass man eigentlich ein neues Wort dafür benötigt"), das bezeichnet Herfried Münkler heute als "asymmetrische Kriege".

Kraushaars zweibändiges Werk ist eine groß angelegte, ungemein gedankenreiche und detailgenaue Untersuchung dieser "neuen Art Krieg", in den die RAF und andere linksextreme Gruppen in den 70er Jahren zogen. Von Anfang an macht Kraushaar deutlich, dass es nicht um eine abgeschlossene Geschichte geht, auch wenn sich die RAF 1998 aufgelöst hat. Aus heutiger Sicht ist sie als eine Vorgeschichte des Schreckens zu begreifen, den wir heute erleben. Und die Autoren machen wenig Hoffnung, dass wir den Terrorismus besiegen können. Sie sehen ihn als Teil der globalisierten Welt.

Die Beschreibung und Analyse der Entwicklung zum heutigen Terrorismus bildet den Auftakt des Buches. Im Kern aber geht es, wie der Titel ausweist, um die RAF und den linken Terrorismus der vergangenen drei Jahrzehnte. Die Autoren porträtieren die RAF-Gründer, beschreiben die Generationswechsel der RAF, die anderen deutschen und internationale Terrorgruppen, Kraushaar selbst legt die antisemitische Dimension in der radikalen Linken offen. Der Umgang von Staat, Polizei, Justiz und Medien ist Gegenstand einer Reihe von Beiträgen. Schließlich wird die Frage untersucht, warum gerade die Achsenmächte des Zweiten Weltkrieges - Deutschland, Italien, Japan – besonders anfällig für den linksextremen Terrorismus waren.

Ungemein detailliert werden die linken Geschichten der 60er, 70er und 80er Jahre beschrieben. Dabei verlieren sich die Autoren nie im Anekdotischen, sondern erzählen kleinste Details stets mit Blick auf analytische Fragestellungen. Georg von Rauch und Thomas Weisbecker waren zwei "Ikonen des bewaffneten Kampfes", weil sie mit der Waffe in der Hand erschossen wurden. Karin König untersucht ihren Werdegang und ihre Familiengeschichte. Ihre Frage: Waren es wirklich die NS-belasteten Elternhäuser, die die 68er in die Radikalität gewaltsamen Protestes getrieben haben? Weisbecker und Rauch haben sich Ende der 60er Jahre auf ähnliche Weise radikalisiert. Rauch hat in der Tat einen schwer NS-belasteten Vater, Weisbecker hingegen einen Vater, der nur knapp das Konzentrationslager überlebt hat. Offenbar spielten andere Dinge eine wichtigere Rolle für ihren Weg in den Untergrund.

Der Vorzug Kraushaars und vieler seiner Autoren ist, dass sie selbst Zeugen dieser Zeit sind, sich aber die nötige Distanz zur nüchternen Analyse erarbeitet haben. So gelingt ihnen zuweilen mehr als Historikern möglich ist, die nur eine Fernsicht auf die Ereignisse haben. Die Darstellung der so genannten Mescalero-Affäre 1977 etwa vergegenwärtigt auf eindrucksvolle Weise, wie von den Medien mutwillig eine Hysterie geschürt wurde, die das öffentliche Klima in der Bundesrepublik vergiftete. Dass sich die Medien bis heute nicht selbstkritisch damit auseinandergesetzt haben, wirft kein gutes Licht auf Presse, Rundfunk und Fernsehen.

Überhaupt, die Medien: Sie waren und sind in "symbiotischer Beziehung" mit dem Terrorismus verbunden. Nicht die Gewalttat an sich macht die große Wirkung des Terrors aus, sondern der Schrecken, den die mediale Vermittlung in alle Welt verbreitet. Das Olympiaattentat von München 1972 war der erste große Mediencoup, den Terroristen landeten. "Je mehr mediale Aufmerksamkeit den Personen und Aktionen terroristischer Gruppierungen zuteil wird, desto eher ist es wahrscheinlich, dass der beschriebene Terror zu einem dauerhaften Begleitphänomen moderner Gesellschaften wird", schreibt Alexander Straßner in einem Beitrag.

Nach einer Reihe von Detailstudien hat Wolfgang Kraushaar jetzt eine epochale Aufarbeitung der RAF-Zeit vorgelegt, ein vorzügliches Handbuch und Nachschlagewerk über den Linksterrorismus, der aus der 68er Bewegung hervorging.

Rezensiert von Winfried Sträter

Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus
Hamburger Edition 2006
1415 Seiten, 78,00 Euro