Terror - Der Fall Breivik

Lernen von Norwegens Rechtsstaat

Kerzen vor dem französichen Konsulat in Shanghai erinnern an die Opfer des Terrors in Paris.
Kerzen erinnern an die Opfer des Terrors in Paris. © dpa / picture alliance / Stringer
Von Martin Tschechne · 17.11.2015
Wie reagiert man auf Terroranschläge wie jene in Paris? Der Psychologe Martin Tschechne erinnert an den Fall des Massenmörders Breivik. Norwegens Justiz habe ihm einen fairen Prozess gemacht, seine politische Selbstinszenierung aber ins Leere laufen lassen.
Am Anfang musste der Verteidiger sich verteidigen. "Warum sitzt er nicht in einem Käfig?", hätten die Reporter aus aller Welt ihn gefragt, erinnert sich der Norweger Geir Lippestad, als er den Fall des rechtsradikalen Massenmörders Anders Behring Breivik übernahm.
"Warum darf er reden? Warum behandelt Ihr ihn mit solchem Respekt? Die Antwort", so Lippestad in seinen Erinnerungen an den wohl heikelsten und für das Leben in einer demokratischen Gesellschaft wichtigsten Prozess in der Rechtsgeschichte seines Landes, "die Antwort war einfach: Weil es bei uns so üblich ist."
77 Menschen, die meisten von ihnen Kinder und Jugendliche, hatte Breivik in einem minutiös geplanten und eiskalt ausgeführten Akt des Terrors ermordet, zunächst in Oslo, dann auf der Ferieninsel Utøya. Als er fertig war, ließ er sich bereitwillig festnehmen. Ein Monster, da war die Öffentlichkeit sich schnell einig; einer, der jedes Recht auf ein Leben unter Menschen verwirkt hatte.
Tun, was nach Regeln des Rechtsstaats üblich ist
Aber genau darauf hatte er es angelegt: die Gemeinschaft zu zwingen, ihre eigenen Werte zu verraten. Durch eine Tat von maßloser Grausamkeit jedes Maß von Recht und Gesetz außer Geltung zu setzen. Und dann stellt sich dieser Rechtsanwalt Lippestad vor die Öffentlichkeit und verkündet: Er werde diesen Mann verteidigen, nach allen Regeln des Rechtsstaats. Und Breivik werde einen fairen Prozess bekommen. "Weil es bei uns so üblich ist."
In Paris sind mehr als 130 Menschen dem Terror zum Opfer gefallen; sie wurden erschossen, von Bomben zerrissen, mehrere hundert schwer verletzt, viele kämpfen noch um ihr Leben. Freitagabend, sie saßen zum Essen im Restaurant, unterhielten sich in einer Bar oder einem Café, besuchten ein Rock-Konzert oder das Fußball-Länderspiel Frankreich gegen Deutschland. Ein Freundschaftsspiel.
Ein friedlicher Abend, bis Schüsse und Explosionen deutlich machten, dass der Frieden nur eine Illusion war. Seit Freitagabend, spätestens, ist der Verteidigungsfall eingetreten. Und die Menschen nicht nur in Paris erkennen, dass ihre Unbekümmertheit, ihr Wohlstand, auch ihre Orientierungslosigkeit oder sogar Dekadenz einem Muster aus Traditionen und Werten entspringen, das nun umsichtige Anwälte braucht: Verteidiger.
Erst im vergangenen Jahr hatte ein Sprecher des sogenannten Islamischen Staates, Abu Mohammed al-Adnani, seinen Fluch gegen alle vermeintlich Ungläubigen erneuert; allein auf sein Wort greifen Islamisten zwischen Melbourne, Ottawa und Paris zu den Waffen und schießen. Eine komplizierte Fernsteuerung ist gar nicht nötig, und als Anlass genügt, dass Menschen sich sicher und geborgen fühlen und ohne Arg ihr Leben genießen.
Nicht zulassen, dass Terror seinen Zweck erfüllt
Sobald aber daraus folgt, dass die Bewohner von Sydney, Brüssel oder Passau eben dies nicht mehr tun, dass sie ihre Freiheit und die anderer einschränken, Hilfsbedürftige zurückweisen, Fußballspiele absagen oder Restaurants meiden – hätte der Terror seinen Zweck erfüllt.
Genau deshalb hatte Geir Lippestad das undankbare Mandat übernommen; genau dies wäre die Lehre, die aus dem Beispiel Norwegen zu ziehen wäre: Zur Disposition steht ein Leben, wie es bei uns üblich ist.
Der frühere norwegische Ministerpräsident Stolenberg legt auf Utøya einen Kranz nieder.
Der frühere norwegische Ministerpräsident Stolenberg legt auf Utøya einen Kranz nieder.© Fredrik Varfjell / NTB SCANPIX / AFP
Auch Anders Breivik war ein Fundamentalist: Er behauptete, mit seiner Bluttat gegen eine Gesellschaft zu kämpfen, die ihre Werte und ihre Identität auf dem Altar einer falschen Idee von Offenheit und Toleranz zum Opfer bringe. Aber das Gericht in Oslo ließ sich auf die Provokation nicht ein.
Und es mag paradox klingen, aber für den Mörder von Utøya hätte es ungünstiger kaum ausgehen können. Ein Held hatte er sein wollen, Soldat einer imaginären Armee gegen die Werte einer freien und humanen Gesellschaft. Später vielleicht ein Märtyrer, dessen Schicksal auf ewig die Brüchigkeit dieser Werte bestätigt.
Was bekam er stattdessen? Einen anständigen Verteidiger und einen fairen Prozess. Wie jeder stinknormale Verbrecher. Der Geist der Gemeinschaft hatte sich durchgesetzt. Was blieb, war das Bild einer kläglichen, verlorenen Existenz.
Martin Tschechne ist promovierte Psychologe, arbeitet als Journalist und lebt in Hamburg. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie DGPs zeichnete ihn kürzlich mit ihrem Preis für Wissenschaftspublizistik aus. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).

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