Tendenziell umstürzende Stahlkonstruktionen

Von Gregor Ziolkowski · 07.06.2005
Der amerikanische Bildhauer Richard Serra, der, um einst sein Studium zu finanzieren, in einem Stahlwerk arbeitete, hat ein besonderes Händchen für diesen Stoff. Seine riesigen, planvoll ins Unregelmäßige verformten Tonnen, die tendenziell umzustürzen scheinen, präsentiert das Guggenheim-Museum Bilbao.
Es gibt Momente in der Kunst, die kann man nur unter dem Begriff der Vollendung fassen. Richard Serras gigantische Skulpturen, die er jetzt im Guggenheim-Museum Bilbao präsentierte, vollenden gleichsam zwei autobiographische Linien. Da ist – zum einen – die weit zurückreichende Bekanntschaft des Künstlers mit der Stadt Bilbao selbst.

Richard Serra: " Ich war vor 25 Jahren zum ersten Mal hier, auch damals mit meiner Frau und Carmen Giménez, die mein jetziges Projekt kuratiert hat. Ich hatte schon damals einen Sinn entwickelt für die Stadt und die Industrieregion, in der sie liegt. Und ich muss sagen, dass ich mich hier immer zu Hause gefühlt habe. Ich kenne das Land, die Leute und die Kultur, vor allem die Geschichte der Bildhauer, die von hier stammen – Jorge Oteiza und Eduardo Chillida. Genau darüber habe ich vor einem knappen Vierteljahrhundert vor Studenten von hier gesprochen: die Wechselbeziehungen in den Werken von Julio González, Pablo Picasso, Oteiza und Chillida. Natürlich konnte ich damals nicht ahnen, dass hier einmal ein Guggenheim-Museum entstehen und dass von hier ein Auftrag an mich ergehen würde, den ich – zugegeben – überwältigend fand. Dieses Projekt ist das größte Ereignis in meinem Leben. Hier zu sein und zu arbeiten hat mir mehr bedeutet als alles, was ich bisher getan habe. "

Der Hintergrund der Industriestadt und die großen Bildhauer der Region, dazu die Erfahrungen des Künstlers selbst, der als junger Mann in einem Walzwerk arbeitete, um sein Studium der Literatur zu finanzieren – dies eine zweite autobiographische Linie –, ließen wohl von vornherein nur ein Material zu: Stahl.

Richard Serra: " Wären diese Stücke aus anderem Material hergestellt worden, dann hätten sie nicht diese gravitätische Ladung, sie hätten nicht dieses tendenziell Umstürzende verkörpert. Wären sie aus Glas, Plastik, Beton, Papier, Leder, Stein oder was auch immer – es wären völlig andere Skulpturen geworden. Diese Stücke handeln vom gravitätischen Vektor, von der Geschwindigkeit der Schwerkraft, vom haptischen und psychischen Druck, den der Betrachter empfindet, weil diese Ladung auf ihm zu lasten scheint. Und es ging mir um die Kontinuität der Kurvatur in ihrer scheinbar endlosen Bewegung und um die Beziehung des menschlichen Körpers zur Bewegung dieser Oberfläche."

Wie riesige, planvoll ins Unregelmäßige verformte Tonnen stehen sechs der sieben neuen Stahlkonstruktionen im größten, fast 140 Meter langen und 30 Meter breiten Saal des Museums. Jeweils um die vier Meter hoch, erreichen sie eine Breite zwischen acht und 15 Metern. Auf den ersten Blick meint man, zylinder- oder kegelförmige Gebilde zu sehen, je weiter man sich nähert, erkennt man das raffinierte Spiel der Verformungen, das Serra in das etwa fünf Zentimeter starke Stahlblech eingearbeitet hat. Denn die suggerierte Regelmäßigkeit geometrischer Körper erweist sich als Täuschung, als eine verwirrende Vielfalt von Formvariationen. Wölbt sich die stählerne Fassade wie ein Buckel mal nach außen, stellt sie sich an anderer Stelle schräg. Sanft, aber deutlich wahrnehmbar ist der Streifen Stahlblech in sich verdreht.

Geht man an dieser Tonnenfassade entlang, verliert sich der Eindruck der Regelmäßigkeit, jede dieser Konstruktionen sieht – je nachdem, von welchem Punkt aus man auf sie blickt – immer anders aus. So die Außenhaut erkundend, findet der Betrachter an einer Stelle Einlass. Er tritt ein, und die Verwirrung steigert sich. Denn er stellt fest, dass die von außen zunächst so kompakt wirkende Stahlblechhülle in ihrem Inneren als Spiralgang ihre Fortsetzung findet. Und dass die Unregelmäßigkeit der Stahlwände, an denen er entlanggeht, sich dort noch intensiviert. Denn hier geht er zwischen zwei Wänden entlang, deren Formen und Stellwinkel sich ständig verändern.
Die Grundstruktur dieser Innengänge ist dabei nicht durchweg eine runde, in mancher Skulptur ist sie elliptisch oder kombiniert aus Ecken und Rundungen angelegt. Das Begehen dieser Skulpturen zielt auf eine Erfahrung beim Betrachter.

Richard Serra: " Die Erfahrung ist eine unvermittelte, direkte, sie ist vielleicht verwirrend und desorientierend, man meint, man könnte sich verlieren. Aber wenn man einmal dieses Feld betreten hat, wenn man diesen Rundgang und das Spiel zwischen drinnen und draußen der Skulpturen begonnen hat, dann ist man wirklich drin in dieser Installation. Und dann offenbart sie hoffentlich ihr assoziatives Potenzial, das sich auf die Erfahrung von Leere und Stofflichkeit richtet, auf den Wechsel dieser beiden Zustände und auf den Vergleich der Dauer der Zeit, die dabei vergeht. "

Richard Serra hat hochkomplexe Erfahrungsgebilde aus Stahl konstruiert, die zu einem metaphysischen Spiel einladen: den Raum ausschreiten, um die Zeit sinnlich, beinahe stofflich erfahrbar zu machen.

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Museo Guggenheim Bilbao
Das Guggenheim-Museum in Bilbao
Das Guggenheim-Museum in Bilbao© AP Archiv