Temporäre Theaterakademie "Panorama Sur"

Von Anne Phillips-Krug · 15.08.2011
Um einen Erfahrungsaustausch in der Theaterszene zu etablieren, trafen sich Theatermacher aus Lateinamerika, Europa und dem Nahen Osten in Buenos Aires. Die Theaterakademie Panorama Sur wurde zum zweiten Mal von der Siemens Stiftung und der Associación para el Teatro Latinoaméricano organisiert.
Draußen dröhnt der Verkehr der Avenida Corrientes im Zentrum von Buenos Aires. Drinnen wird gelesen und diskutiert.

Im Rahmen der Autorenwerkstatt trafen junge Dramatiker aus Chile, Argentinien, Mexiko, Kolumbien, Uruguay, Peru und Spanien auf lokale Theatermacher wie Romina Paula und Rafael Spregelburd. Sie erarbeiteten eigene Stücktexte und besuchten jeden Abend eine andere Inszenierung. Aufführungen verschiedenster Formate und Inhalte an ganz unterschiedlichen und zum Teil ungewöhnlichen Spielstätten. Cynthia Edul vom Leitungsteam von Panorama Sur:

"Man sagt, Buenos Aires sei die Theaterhauptstadt Lateinamerikas. Derzeit laufen rund 400 Inszenierungen, es gibt über 200 Spielstätten in der Stadt, aber bisher nicht eine einzige Initiative, die auf politischer oder administrativer Ebene in konkreter Weise darauf reagiert hätte."

Diese Theaterszene zu inspirieren, argentinische und vor allem innerhalb Lateinamerikas einen langfristigen Erfahrungs- und Wissensaustausch zu etablieren – darum ging es bei der Theaterakademie Panorama Sur, gemeinsam initiiert und organisiert von der Siemens Stiftung und der Associación para el Teatro Latinoaméricano. Kurator Joachim Gerstmeier:

"Natürlich hat das auch mit der wirtschaftlichen Situation zu tun, dass Argentinien sich jetzt doch ein bisschen mehr auch in Lateinamerika umtut, mehr wahrnimmt, was in den anderen Ländern stattfindet, insofern hab ich auch das Gefühl, das ist auch ein richtiger Zeitpunkt, so ein Forum anzubieten."

Im Mittelpunkt der diesjährigen Theaterakademie standen Fragen nach dem politischen Verständnis von Theater und der künstlerischen Auseinandersetzung mit der eigenen gesellschaftlichen Situation in unterschiedlichen kulturellen Kontexten.

Die Performance "Void Story" der britischen Gruppe Forced Entertainment um Tim Etchells erzählt von der Reise eines jungen Paars durch eine postapokalyptische Welt aus Krieg, Gewalt, mutierten Insekten und mordenden Geistern. An Schreibtischen sitzen vier Performer, die den beiden Haupt- und wechselnden Nebenrollen ihre Stimmen leihen, während die Handlung in unbeweglichen Comicbildern über die Leinwand läuft.

Die Theaterszene von Buenos Aires spielt sich in zwar sehr unterschiedlichen, oft aber sehr kleinen Räumen ab. Die Inszenierungen verhandeln meist individuelle Familiengeschichten und Lebensalltag argentinischer Großstädter. Ästhetiken und Repräsentationsformen zu zeigen, die in Buenos Aires sonst nicht zu sehen sind, sollte anregen, sich kritisch mit der eigenen Arbeitweise auseinanderzusetzen, so Alejandro Tantanian, künstlerischer Leiter von Panorama Sur:

"Die Arbeiten von Tim Etchells und Rabih Mroué setzen sich sehr eindringlich mit der Erfahrung der Gegenwart und dem Erlebnis des Zuschauers auseinander, beinhalten also sehr konkret die Reflexion über die eigene Praxis. Und das könnte hier was aufbrechen. Also da ein bisschen von der Idee der Figur, des Konflikts, der Situation wegzukommen, und die Repräsentation und das Theater auch als Ort der Reflexion zu begreifen."

Die Lecture Performance "The Inhabitants of Images" des libanesischen Regisseurs Rabih Mroué beleuchtet den Umgang mit Bildern im Libanon und zeigt eindrücklich, welche Rolle diese bei der Konstruktion von individueller und offizieller Geschichtsschreibung spielen.

Im Dunkeln an einem kleinen Tisch sitzend, analysiert Mroué in einem Fotovortrag unter anderem Porträts der Märtyrer des letzten Bürgerkriegs, die plötzlich wieder in den Straßen Beiruts auftauchten.
Eine besondere Wirkung hatten Mroués Arbeiten in Buenos Aires nicht nur wegen der ganz eigenen Ästhetik, sondern vor allem aufgrund der ihnen zugrunde liegenden Diskurse über Bürgerkrieg und Verschwundene im Libanon.

Cynthia Edul: " Argentinien hat 30.000 Verschwundene, da gibt es natürlich riesige Bezüge. Wir hier in Argentinien beschäftigen uns noch immer sehr intensiv damit, wie wir uns in unserer Gegenwart künstlerisch dem Thema der Vergangenheit und der Erfahrung der Militärdiktatur annähern können. Und ich glaube, die Arbeit von Rabih Mroué kann uns da Werkzeuge an die Hand geben." "

Besonders intensiv wurde die Frage diskutiert, auf welche Weise politische Erfahrungen dargestellt werden können.

"Diese Ebene der Reflektion, wie Mroué sie zeigt, wird in argentinischen Inszenierungen bisher nicht erzeugt. Es kommt mir so vor, als habe man noch nicht ganz die richtige Form gefunden, um das Politische zu inszenieren. Oft steht da die Idee oder eine ganz bestimmte Überzeugung zu offensichtlich im Vordergrund, während Mroué nie Überzeugungen vermittelt. Das, was er macht, ist Fragen stellen."

Dabei geht es nicht um die Übernahme von Arbeitsmethoden, sondern um Anregungen: Panorama Sur entwickelte vor allem einen Dialog, der zu einer selbstbewussteren und selbstkritischeren Theaterarbeit in Argentinien und Lateinamerika insgesamt führen kann. Erik Leyton, Dramatiker aus Bogotá und Teilnehmer der Autorenwerkstatt.

"Die Stücke, die wir gesehen haben und zu erleben, wie in verschiedenen, auch unkonventionellen Räumen ganz spontan etwas Theatrales entsteht – das alles war für mich sehr wichtig und sehr neu. Und vor allem auch, dass Theater so ein selbstverständlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens ist – in Bogotá gibt es einfach kein Publikum. Da ist Theater immer noch etwas sehr elitäres, es gibt wenige Regisseure und ein sehr kleines Angebot. Was ich hier erlebt habe, ist ein ganz neuer Spiegel für den eigenen kreativen Prozess. Da sind Sachen passiert, wo man sich notwendigerweise fragen muss, wo man steht und wie man sich zu den anderen in Bezug setzt."

Für das nächste Jahr planen einige Teilnehmer der Autorenwerkstatt bereits gemeinsame Projekte. Die Siemens Stiftung will zudem weitere Sommerakademien in Kolumbien und Chile ins Leben rufen. Langfristig allerdings sollen diese drei Initiativen selbstständig miteinander arbeiten.