Tel Aviv

Sommer, Sonne, Schabbatsegen

Schabbat-Feier im Hafen von Tel Aviv
Schabbat-Feier im Hafen von Tel Aviv © Beit Tefilah / Facebook
Von Lissy Kaufmann · 03.08.2018
Ein "liberaler Schabbat" am Meer lockt jeden Freitagabend hunderte Besucher in den Hafen von Tel Aviv. Die Feier begeistert nicht nur Gläubige, sondern auch Säkulare und Touristen.
Auf den ersten Blick scheint es wie ein kleines Open-Air-Konzert: Eine Band spielt hier am Hafen von Tel Aviv, kurz vor Sonnenuntergang. Hunderte Zuschauer auf roten Plastikstühlen wippen mit, Passanten bleiben stehen, tanzen und singen. Doch das hier ist Kabbalat Schabbat, die Begrüßung des Schabbats. An jedem Freitagabend im Sommer feiert die Gemeinde "Beit Tefillah" diesen Gottesdienst im Freien mit Blick auf das Mittelmeer. Der Open-Air-Gottesdienst ist offen für alle und kommt gut an, erklärt Rabbiner Esteban Gottfried bei der Begrüßung:
"Wir sind sehr glücklich über die mittlerweile zwölfjährige Kollaboration mit dem Hafen von Tel Aviv. Wir sind stolz und ich glaube, die Stadt Tel Aviv und der Hafen sind eine Art Flaggschiff des liberalen Judentums, das hier sehr laut und präsent ist. Was wir hier tun, ist typisch Tel Aviv. Also, lasst uns das Gesicht des Schabbats empfangen. Doch zuvor lasst uns gegenseitig ein Schabbat Schalom wünschen."
Ein bisschen Englisch und ein bisschen Hebräisch spricht Rabbiner Esteban Gottfried, der Mitgründer von Beit Tefillah. Schließlich sollen ihn auch die ausländischen Besucher verstehen. Viele Amerikaner sind heute gekommen. Gottfried selbst stammt aus Argentinien. Als er nach Israel einwanderte, suchte er eine moderne, offene Gemeinde. Doch die meisten waren zu orthodox, der Rest des Landes zu säkular. Esteban Gottfried aber suchte den Mittelweg:
"Unser Erfolg ist, dass wir es geschafft haben, eine Sprache zu kreieren, die sowohl religiös als auch säkular ist. Viele kommen wegen der Kinder, für die Musik, die Atmosphäre oder für die gute Stimmung. Und andere kommen, um zu beten, tief und spirituell. Und beide haben sie eine spirituelle Erfahrung hier, zusammen, obwohl sie ganz unterschiedlich sind."

Kippa, Röcke und Kleider

Manche Besucher tragen Kippa, haben sich schick gemacht. Andere kommen in Freizeitoutfits, in kurzen Hosen, knappen Röcken und Turnschuhen. Eine Kleiderordnung oder andere religiöse Vorschriften gibt es nicht. Hier am Hafen wird gar mit Verstärker musiziert, Besucher dürfen ihre Handys auspacken, und eine Frau mit luftigem Sommerkleid ist die Leadsängerin der Band.
Es ist ein Gottesdienst, der auch all jene anzieht, die ansonsten nicht in die Synagoge gehen. Wie Revital und Drorit. Im Sommer sind sie immer hier draußen:
"Wir sind hier mal vorbeigekommen und haben es gesehen, niemand hat uns davon erzählt. Und wir haben uns gleich sehr verbunden gefühlt. Auch mit der Musik, hier gibt es mehrere Musiker. Die Lieder und das Meer, es wird getanzt. Gut, getanzt wird manchmal auch in der Synagoge, aber hier ist das anders, es ist draußen in der Natur."
"Es ist ein anderes Judentum, ein gesundes Judentum, das nicht ausgrenzt, das vereint, nicht nur in Israel, auf der ganzen Welt, die Orthodoxen trennen, dieses Judentum nimmt alle an."

Große Neugier, keine Anfeindungen

Wenn hier gleich die warme Sommersonne im Mittelmeer versinkt, beginnt für Juden die Schabbatruhe. Musik machen ist dann für die Orthodoxen tabu, ebenso die Verwendung von elektrischen Geräten. In den orthodoxen Synagogen sitzen Männer und Frauen getrennt, Frauen sollen nicht laut singen. Anders hier am Hafen.
Immer wieder bleiben Menschen stehen: Touristen, Menschen auf dem Weg ins Restaurant, Jogger, Hundebesitzer mit Vierbeinern. Die Neugier ist groß. Anfeindungen von Orthodoxen gäbe es hier nicht, erklärt Esteban Gottfried. Und doch weiß der Rabbiner sehr wohl, dass sie mit ihrem offenen Gottesdienst nicht überall willkommen sind. Vor einigen Jahren wollte eine Reformgemeinde aus den USA den Gottesdienst mitfeiern. Der fand damals noch im kleinen Gemeindehaus statt. Rabbi Esteban Gottfried suchte verzweifelt nach einem größeren Raum:
"Ich bin in das Hotel gegangen, in dem die Gruppe übernachtete, und habe gefragt, ob wir einen Veranstaltungsraum für unser musikalisches Kabbalat Schabbat bekommen. Sie meinten, nein, denn sonst würde ihnen die Koscher-Lizenz entzogen. Ich war sehr wütend, bin weiter, von Hotel zu Hotel, überall die gleiche Antwort, bis ich hier am Hafen ankam. Und als ich das sah, dachte ich: Was für ein wunderbarer Ort, vielleicht können wir es hier machen."

Eine politische Predigt

Und so geschah es, nicht nur dieses eine Mal: Zu groß war der Erfolg schon damals. Statt der geplanten 160 Menschen feierten am Ende 300, erzählt der Rabbiner. Heute sind es bis zu 1000 Besucher jeden Freitag. Das Konzept des Open-Air-Gottesdienstes geht auf, nicht nur in Tel Aviv, mittlerweile auch in Herzliya. Doch das moderne Judentum wird von den streng Gläubigen nicht anerkannt.
So sagte Kulturministerin Miri Regev, sie hätte zwar nette Reformjuden in Argentinien kennengelernt. Hier in Israel sollten sie sich aber benehmen. Soll heißen: Sich an die orthodoxen Regeln halten. Auch wegen Vorfällen wie diesen fällt die Predigt von Esteban Gottfried politisch aus:
"Wenn wir hören, dass Menschen und Rabbiner sich erlauben, zu spalten, anzustacheln und im Namen des Judentums eine ganze Bevölkerung zu verletzen, müssen wir uns daran erinnern, dass hier, neben all diesen anderen, ein anderes Judentum wächst. Ein moderates, das vereint, liebt, umarmt, demokratisch ist, das seine Werte erneuert, wie schon seit Tausenden von Jahren, zeit- und ortsgemäß. Hand in Hand mit der Demokratie, nicht gegen sie."
Trotz aller Offenheit bleibt Kabbalat Schabbat ein Gottesdienst – mit religiösen Zeremonien. Als die Sonne schon untergegangen ist, sagen alle zusammen das Gebet Shma Israel. Plötzlich wird es ruhig, nur die leisen Stimmen der Gemeinde sind zu hören. Manche drehen sich für das Gebet Richtung Klagemauer in Jerusalem, halten die Hände vor die Augen, wie die Tradition es verlangt. Die meisten blicken gen Meer.
Und so ist der Kabbalat Schabbat hier am Hafen von Tel Aviv eben auch spirituell und für viele ein wichtiges Ritual zum Auftakt des Ruhetags.
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