Teenager als Familienoberhaupt
In Südafrika hat in den vergangenen Jahren die Zahl der Haushalte zugenommen, in denen Kinder und Jugendliche ohne die Unterstützung durch Erwachsene leben. Ein wesentlicher Grund dafür ist die weite Verbreitung von HIV und AIDS. Traditionell werden zwar Waisen in afrikanischen Familien von Verwandten aufgenommen.
Die hohen Aidsraten führen aber dazu, dass sich immer weniger Erwachsene um die verbliebenen Kinder kümmern können. Ohne den Schutz der Älteren sind die Waisen der Gewalt und Kriminalität ausgeliefert.
5 Uhr 30. Sonnenaufgang über Dambuza, einem Township bei Pietermaritzburg. Mit Eimern und Schüsseln sind Frauen auf dem Weg zum öffentlichen Wasserhahn. Morgendliche Routine in vielen Teilen Südafrikas, denn fließend Wasser hat noch längst nicht jeder.
Auf dem Rückweg balancieren die Frauen die gefüllten Kanister auf dem Kopf und passieren dabei ein baufälliges Haus, das direkt vor dem gemeinsam genutzten Wasserhahn liegt. Vor dem Eingang scharren ein paar Hühner im Staub, drinnen brennt ein schwaches Licht. Die 17-jährige Sizani ist schon wach.
"Ich stehe jeden Morgen um halb sechs auf und mache mich für die Schule fertig. Gegen sechs Uhr wecke ich meine Geschwister. Bevor wir aufbrechen, versuchen wir ein paar Dinge im Haushalt zu erledigen, fegen den Boden und räumen ein bisschen auf, damit wir nach der Schule nicht mehr so viel zu tun haben."
Inzwischen hat sich das gut eingespielt, meint Sizani, streicht ihre Schuluniform glatt. Ihre ältere Schwester Ntombiyenkosi gießt ihr Tee in eine Tasse aus abgesplitterten, hellblauen Emaille.
"An manchen Tagen fällt es uns nicht leicht zu entscheiden, wer die Arbeit im Haushalt übernimmt. Zum Beispiel, wer kocht. Darüber gibt es ab und zu Streit. Denn wir haben natürlich nicht immer Lust dazu, manchmal ist man einfach müde und hofft, dass die anderen einspringen."
Aber letztendlich finden wir immer einen Kompromiss, fügt die 15-jährige Busi hinzu, lacht und läuft aus dem Haus, denn sie ist spät dran.
Seit dem Tod ihrer Eltern leben fünf Schwestern hier, gemeinsam mit den beiden Kindern der Ältesten. Zuerst starb ihre Mutter, ein knappes Jahr später auch der Vater. Ntombiyenkosi war damals gerade 18 geworden, hochschwanger und hatte erfahren, dass sie HIV-positiv ist. Dazu kam mit einem Schlag auch die Verantwortung für ihre Schwestern. Die jüngste war damals gerade acht Jahre alt.
"Das war sehr schwer für mich. Die Verantwortung war eine Riesenbürde. Zuerst wollte ich das Ganze gar nicht wahr haben. Ich versuchte das alles zu verdrängen. Denn ich traute mir nicht zu, für meine jüngeren Geschwister und gleichzeitig für mein eigenes Kind zu sorgen. Es war unglaublich schwierig."
Ntombiyenkosi und ihren Schwestern blieb keine Zeit, den Tod ihrer Eltern zu verarbeiten. Sie mussten überleben, Essen auf den Tisch bringen, den Alltag meistern. Ohne jegliche Unterstützung.
"Unsere Verwandten haben uns keinerlei Hilfe angeboten. Dabei kommen wir aus einer großen Familie und viele unserer Tanten und Onkel sind ziemlich wohlhabend. Es war eine schlimme Zeit.
Unser Vater wurde an einem Samstag beerdigt und am Montag haben uns unsere Verwandten aus dem Haus geworfen, in dem wir damals lebten. Sie sagten, es gehöre jetzt ihnen. Seitdem wohnen wir in diesem Haus, das in einem viel schlechteren Zustand ist. Wir haben damals oft gehungert. Aber das hat keinen interessiert. Auch die Nachbarn haben uns nicht geholfen. Wir konnten uns niemandem anvertrauen. Wir waren ganz auf uns allein gestellt."
Schicksale wie diese sind kein Einzelfall. Schätzungen zufolge gibt es über 79.000 Haushalte in Südafrika, die von Kindern und Teenagern geführt werden. Ntombiyenkosi und ihre Schwestern werden von dieser Statistik nicht erfasst, da sie zum Zeitpunkt des Todes ihrer Eltern gerade volljährig geworden war.
An der Überforderung allerdings ändert es wenig, ob ein Mädchen 17 oder 18 ist, wenn sie die Verantwortung für ihre Geschwister übernimmt. Meistens sind die Waisen nur vorübergehend allein, für ein paar Wochen, manche allerdings auch für Monate. In der Regel findet sich ein Verwandter, Nachbar oder Freund der verstorbenen Eltern, der sich um sie kümmert, erzählt Nhlanhla Ndlovu, der für die Nichtregierungsorganisation Thandanani Childrens Foundation Hilfe für Kinder in Not koordiniert.
"Normalerweise nimmt ein Verwandter die Kinder bei sich zu Hause auf, oder zieht bei ihnen ein. Meistens bespricht die Familie bei der Beerdigung der Eltern, wer für diese Aufgabe geeignet ist. Es ist schon erstaunlich, dass es meistens arme Leute sind, die bereit sind sich, um die Waisen zu kümmern und das wenige, das sie haben, mit ihnen zu teilen. Wir unterstützen sie dabei, helfen ihnen dabei, staatliche Fördergelder zu beantragen, auf die sie Anspruch haben. Das ist dann wenigstens ein geringes Einkommen, das die Pflegeeltern in die Lage versetzt, das Kind aufzuziehen."
Nhlanhla Ndlovu ist gerade unterwegs zu einer solchen Familie, die ganz in der Nähe der Schwestern lebt. Deren Haus liegt in einer Armensiedlung, wie sie typisch für Südafrika ist: Mit baufälligen Behausungen, meist aus Lehm gebaut, notdürftig mit Plastik und Blechteilen geflickt. Davor suchen Hühner, Ziegen und ein paar Schweine nach Essbarem.
Vor einigen der Häuser sind kleine Gemüsegärten angelegt. Auf der Straße kommen dem Sozialarbeiter zwei junge Frauen entgegen, ihre Babys mit Wolldecken auf den Rücken gebunden, Kleinkinder an der Hand. Teenager-Schwangerschaften und Arbeitslosigkeit sind hier gleichermaßen weit verbreitet.
Ein ausgetretener Lehmpfad führt zum Haus von Rose Dlamini. Die 64-Jährige ist vor zwei Jahren vom Land hierher gezogen, als ihre Tochter im Sterben lag. Jetzt kümmert sie sich um ihre drei Enkel, 5, 12 und 14 Jahre alt. Herzlich begrüßt sie den Sozialarbeiter, bietet ihm einen Stuhl vor dem Haus an, setzt sich selbst auf einen zweiten, streicht ihren rosafarbenen, zerschlissenen Kittel glatt.
"Am Anfang war es wirklich schwierig für mich, die Situation zu meistern. Ich hatte kein Einkommen und musste uns trotzdem irgendwie ernähren. Das ist besser geworden, seit ich staatliche Gelder für meine Enkel beziehe. Kinder in diesem Alter großzuziehen ist allerdings nicht nur finanziell eine Herausforderung. Ich bin eine alte Frau, mein Blutdruck ist zu hoch, doch die Erziehung fordert Kraft.
Die Kleinen machen es mir ziemlich leicht, sie gehen gern in die Schule und hören auf mich. Aber mein 14-jähriger Enkel bereitet mir Sorgen. Er schwänzt manchmal die Schule, prügelt sich und kommt oft erst spät nach Hause. Ich hoffe, dass mir die Zeit bleibt, diese Kinder großzuziehen und sie auf den richtigen Weg zu bringen. So dass sie eines Tages ihre Träume realisieren können."
Einer Statistik aus dem Jahr 2007 zufolge ist jedes fünfte Kind in Südafrika Waise, das sind 3,7 Millionen Kinder. Die meisten von ihnen haben ein Elternteil verloren, über 700.00 Mütter und Väter. In Kwazulu Natal, der Provinz, in der Rose Dlamini und Ntombiyenkosi leben, ist die Zahl der Waisen besonders hoch und sie steigt weiter. Spürbar für die Thandanani Children’s Foundation, für die Nhlanhla Ndlovu arbeitet
"In diesem Jahr hat sich meine Organisation die Situation genau angesehen: auf der einen Seite die Zahl der Waisenkinder, für die wir jetzt schon sorgen, auf der anderen die neuen Fälle. Und wir haben uns gefragt, ob wir dieser Herausforderung überhaupt noch gewachsen sind. Momentan unterstützen wir rund 1000 Haushalte in dieser Gegend, in denen weit über 2000 Kinder leben. Das ist eine Menge und noch immer haben wir nicht alle erreicht, die unsere Hilfe brauchen."
Dabei brauchen vor allem Kinder und Jugendliche Unterstützung. Als schwächste Glieder der Gesellschaft sind sie besonders von der hohen Kriminalitätsrate in Südafrika betroffen. Einer aktuellen Studie zufolge ist jeder dritte Heranwachsende zwischen 12 und 22 Jahren im vergangenen Jahr Opfer eines Verbrechens geworden: Häusliche Gewalt, Raub, Diebstahl, Vergewaltigung. Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher.
Auch Ntombiyenkosi und ihre Schwestern sind zu Opfern geworden. Über Details wollen sie nicht sprechen, nur so viel erzählt die älteste Schwester.
"Meine Tante und andere Verwandte haben mich eine Zeitlang körperlich misshandelt. Es ging so weit, dass ich zur Polizei gehen musste. Dann hat es aufgehört. Meine Schwestern haben ähnliches erlebt. Das war kurz, nachdem unser Vater gestorben war. Ich habe mich damals total hilflos gefühlt. Ich war ganz allein und konnte meine Schwestern nicht beschützen."
Ntombiyenkosi hat den Blick auf ihre Füße gerichtet. Es fällt ihr schwer, darüber zu sprechen. Sie sitzt auf dem Sofa im größten Raum des Hauses, neben dreien ihrer Schwestern, die inzwischen aus der Schule zurück sind. Ihre beiden Kinder spielen vor dem Haus.
Die Schwestern versuchen, so weit wie möglich, ein normales Leben zu führen. Ihre Einrichtung ist spärlich, aber das altersschwache Sofa sorgfältig mit gebügelten weißen Tüchern abgedeckt und der Boden im Haus sauber gefegt. Der Lehm bröckelt allerdings von den Wänden, es gibt Löcher, durch die es zieht. Im Winter wird es im Haus bitterkalt. Doch das sei nicht ihre größte Sorge, meint die 17-jährige Sizani und die anderen stimmen ihr zu.
"Wir fühlen uns hier im Haus nicht sicher. Wir sind alle Mädchen und die gesamte Nachbarschaft weiß, dass kein Erwachsener, insbesondere kein Mann im Haus wohnt. Deshalb gibt es immer wieder Zwischenfälle. Dreimal sind wir in den letzten Nächten schon wach geworden und haben jemanden gesehen, der uns durchs Fenster beobachtet. Wir können das Haus nicht abschließen, weil unsere Tante behauptet, auch dieses Haus gehöre ihr und sie müsse zu jeder Zeit Zutritt haben. Manchmal kommt sie überraschend vorbei und nimmt uns unsere Sachen weg. Was auch immer ihr gefällt. Jeder kann hier einfach reinkommen."
Und auch das Haus selbst ist ein Sicherheitsrisiko fügt die Älteste, Ntombiyenkosi hinzu.
Nhlanhla Ndlovu will sich heute selbst ein Bild vom Zustand des Hauses machen. Gemeinsam mit den Schwestern geht er nach draußen, begutachtet zerbrochene Fensterscheiben und die brüchigen Lehmmauern. Ein sicheres Zuhause und genug Geld - das seien die dringendsten Probleme von diesen Waisen-Haushalten, betont der Sozialarbeiter. Ntombiyenkosi, ihre vier Schwestern und die beiden Kinder leben ausschließlich von staatlicher Unterstützung: 680 Rand, umgerechnet rund 62 Euro im Monat pro Kind werden maximal bis zu einem Alter von 21 Jahren gezahlt.
"Die finanziellen Ressourcen der Familie sind oft schon aufgebraucht, bevor die Eltern sterben, selbst wenn sie berufstätig waren und etwas Geld gespart haben. Denn meistens wurde alles für lebensverlängernde Maßnahmen ausgegeben. Die Kinder bleiben mittellos zurück und können sich nicht einmal mehr eine Mahlzeit leisten. Sie wissen oft nicht, dass sie Anspruch auf staatliche Unterstützung haben, geschweige denn, wie sie sie beantragen können. Dazu kommt der Zustand der Häuser. Die meisten von ihnen sind aus Lehm gebaut und müssen daher ständig instand gehalten werden. Doch die Eltern können sich während ihrer Krankheit nicht mehr darum kümmern. Deshalb sind die Häuser oft schon zum Zeitpunkt ihres Todes baufällig. Die Kinder sind überfordert und leben deshalb in Häusern, die einsturzgefährdet sind. Eine ständige Gefahr für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit. Das sind die größten Probleme."
Nach der Besichtigung durch den Vertreter der Hilfsorganisation gehen die Schwestern wieder zurück in ihr baufälliges Haus, das sie seit vier Jahren bewohnen. Jetzt allerdings mit der Hoffnung, dass das Haus irgendwann ausgebessert wird, oder dass sie später vielleicht sogar umziehen können. Als das Gespräch auf die verstorbenen Eltern kommt, schlägt die jüngste die Hände vor ihr Gesicht. Die Älteste legt ihr beruhigend den Arm um die schmalen Schultern.
"Wir sprechen manchmal über unsere Eltern, aber nie über die schwierigen Zeiten, besonders nicht darüber, was alles passiert ist, bevor sie gestorben sind. Sie sehen ja selbst, meine jüngste Schwester weint, wenn ich das Thema nur streife. Sie ist ein sehr sensibles Mädchen. Deshalb vermeiden wir alles, was damit zusammenhängt und konzentrieren uns auf die schönen Erinnerungen, die uns zum Lachen bringen."
Diese Kinder haben ihre Eltern sterben sehen, wie viele der Waisenkinder in Südafrika. In den beengten Wohnverhältnissen ist die Nähe des Todes nicht zu umgehen. Woran ihre Eltern gestorben sind, drückt Ntombiyenkosi, die selbst offen zu ihrer HIV-Infektion steht, mit Blick auf ihre jüngere Schwester nur indirekt aus.
"Meine Eltern haben Gefahren für die Gesundheit einfach ignoriert. Besonders meine Mutter. Sie war immer überzeugt, dass es sie nicht betrifft. Das möchte ich anders machen. Ich möchte andere darüber informieren."
Ntombiyenkosis jüngere Schwester geht kurz aus dem Zimmer. Eine HIV-Infektion ist noch immer ein Tabuthema, erklärt Sozialarbeiter Nhlanhla Ndlovu.
"HIV und Aids sind zwar ein großes Thema, weil die Krankheit weit verbreitet ist. Die Leute sprechen auch darüber. Allerdings nur dann, wenn nicht sie selbst oder ihre Familien betroffen sind. Denn die Krankheit ist noch immer ein Stigma. Ich bin mir auch nicht sicher, in welchem Ausmaß die Kinder in der Schule deswegen ausgegrenzt werden. Viele von ihnen sprechen nicht gern über die Todesursache ihrer Eltern."
Die Bewältigung des Traumas, die Behandlung seelischer Narben, die durch den Tod der Eltern, die körperliche Gewalt oder den Missbrauch danach entstanden sind, kommen angesichts der Armut oft zu kurz. Deshalb bietet die Thandanani Childrens Foundation den Kindern neben finanzieller Unterstützung, Gesundheitsfürsorge, Hilfestellung in der Schule und im Umgang mit Behörden auch emotionalen Beistand an. Eine Tatsache, die die älteste der Schwestern besonders hervorhebt:
"Manchmal stehe ich vor Konflikten mit meinen Geschwistern, die ich allein nicht lösen kann. Ich hatte zum Beispiel Auseinandersetzungen mit einer meiner Schwestern. Sie hat in der Nachbarschaft und gegenüber unserer Verwandtschaft schlecht über mich gesprochen. Außerdem wollte sie Geld von mir. In Fällen wie diesem kann ich mich an die Sozialarbeiter wenden. Auch für meine persönlichen Probleme habe ich jetzt immer einen Ansprechpartner."
Ntombiyenkosi arbeitet inzwischen selbst als Freiwillige für die Organisation, ist für andere Kinder und Jugendliche in ähnlichen Situationen da. Eine Aufgabe, die die junge Frau sichtbar erfüllt. Ihre jüngeren Geschwister nehmen sie zum Vorbild: Nach ihren Berufswünschen gefragt, nennen sie als erstes Sozialarbeiterin, gefolgt von Lehrerin und Ärztin. Wichtig ist vor allem, dass wir eine gute Ausbildung bekommen, bilanziert die 17-jährige Sizani.
"Schule und Ausbildung bedeuten uns deshalb so viel, weil wir damit unsere Lebensbedingungen verbessern können. Außerdem können wir als jüngere Geschwister dadurch später einmal für unsere ältere Schwester sorgen, der wir so viel zu verdanken haben."
5 Uhr 30. Sonnenaufgang über Dambuza, einem Township bei Pietermaritzburg. Mit Eimern und Schüsseln sind Frauen auf dem Weg zum öffentlichen Wasserhahn. Morgendliche Routine in vielen Teilen Südafrikas, denn fließend Wasser hat noch längst nicht jeder.
Auf dem Rückweg balancieren die Frauen die gefüllten Kanister auf dem Kopf und passieren dabei ein baufälliges Haus, das direkt vor dem gemeinsam genutzten Wasserhahn liegt. Vor dem Eingang scharren ein paar Hühner im Staub, drinnen brennt ein schwaches Licht. Die 17-jährige Sizani ist schon wach.
"Ich stehe jeden Morgen um halb sechs auf und mache mich für die Schule fertig. Gegen sechs Uhr wecke ich meine Geschwister. Bevor wir aufbrechen, versuchen wir ein paar Dinge im Haushalt zu erledigen, fegen den Boden und räumen ein bisschen auf, damit wir nach der Schule nicht mehr so viel zu tun haben."
Inzwischen hat sich das gut eingespielt, meint Sizani, streicht ihre Schuluniform glatt. Ihre ältere Schwester Ntombiyenkosi gießt ihr Tee in eine Tasse aus abgesplitterten, hellblauen Emaille.
"An manchen Tagen fällt es uns nicht leicht zu entscheiden, wer die Arbeit im Haushalt übernimmt. Zum Beispiel, wer kocht. Darüber gibt es ab und zu Streit. Denn wir haben natürlich nicht immer Lust dazu, manchmal ist man einfach müde und hofft, dass die anderen einspringen."
Aber letztendlich finden wir immer einen Kompromiss, fügt die 15-jährige Busi hinzu, lacht und läuft aus dem Haus, denn sie ist spät dran.
Seit dem Tod ihrer Eltern leben fünf Schwestern hier, gemeinsam mit den beiden Kindern der Ältesten. Zuerst starb ihre Mutter, ein knappes Jahr später auch der Vater. Ntombiyenkosi war damals gerade 18 geworden, hochschwanger und hatte erfahren, dass sie HIV-positiv ist. Dazu kam mit einem Schlag auch die Verantwortung für ihre Schwestern. Die jüngste war damals gerade acht Jahre alt.
"Das war sehr schwer für mich. Die Verantwortung war eine Riesenbürde. Zuerst wollte ich das Ganze gar nicht wahr haben. Ich versuchte das alles zu verdrängen. Denn ich traute mir nicht zu, für meine jüngeren Geschwister und gleichzeitig für mein eigenes Kind zu sorgen. Es war unglaublich schwierig."
Ntombiyenkosi und ihren Schwestern blieb keine Zeit, den Tod ihrer Eltern zu verarbeiten. Sie mussten überleben, Essen auf den Tisch bringen, den Alltag meistern. Ohne jegliche Unterstützung.
"Unsere Verwandten haben uns keinerlei Hilfe angeboten. Dabei kommen wir aus einer großen Familie und viele unserer Tanten und Onkel sind ziemlich wohlhabend. Es war eine schlimme Zeit.
Unser Vater wurde an einem Samstag beerdigt und am Montag haben uns unsere Verwandten aus dem Haus geworfen, in dem wir damals lebten. Sie sagten, es gehöre jetzt ihnen. Seitdem wohnen wir in diesem Haus, das in einem viel schlechteren Zustand ist. Wir haben damals oft gehungert. Aber das hat keinen interessiert. Auch die Nachbarn haben uns nicht geholfen. Wir konnten uns niemandem anvertrauen. Wir waren ganz auf uns allein gestellt."
Schicksale wie diese sind kein Einzelfall. Schätzungen zufolge gibt es über 79.000 Haushalte in Südafrika, die von Kindern und Teenagern geführt werden. Ntombiyenkosi und ihre Schwestern werden von dieser Statistik nicht erfasst, da sie zum Zeitpunkt des Todes ihrer Eltern gerade volljährig geworden war.
An der Überforderung allerdings ändert es wenig, ob ein Mädchen 17 oder 18 ist, wenn sie die Verantwortung für ihre Geschwister übernimmt. Meistens sind die Waisen nur vorübergehend allein, für ein paar Wochen, manche allerdings auch für Monate. In der Regel findet sich ein Verwandter, Nachbar oder Freund der verstorbenen Eltern, der sich um sie kümmert, erzählt Nhlanhla Ndlovu, der für die Nichtregierungsorganisation Thandanani Childrens Foundation Hilfe für Kinder in Not koordiniert.
"Normalerweise nimmt ein Verwandter die Kinder bei sich zu Hause auf, oder zieht bei ihnen ein. Meistens bespricht die Familie bei der Beerdigung der Eltern, wer für diese Aufgabe geeignet ist. Es ist schon erstaunlich, dass es meistens arme Leute sind, die bereit sind sich, um die Waisen zu kümmern und das wenige, das sie haben, mit ihnen zu teilen. Wir unterstützen sie dabei, helfen ihnen dabei, staatliche Fördergelder zu beantragen, auf die sie Anspruch haben. Das ist dann wenigstens ein geringes Einkommen, das die Pflegeeltern in die Lage versetzt, das Kind aufzuziehen."
Nhlanhla Ndlovu ist gerade unterwegs zu einer solchen Familie, die ganz in der Nähe der Schwestern lebt. Deren Haus liegt in einer Armensiedlung, wie sie typisch für Südafrika ist: Mit baufälligen Behausungen, meist aus Lehm gebaut, notdürftig mit Plastik und Blechteilen geflickt. Davor suchen Hühner, Ziegen und ein paar Schweine nach Essbarem.
Vor einigen der Häuser sind kleine Gemüsegärten angelegt. Auf der Straße kommen dem Sozialarbeiter zwei junge Frauen entgegen, ihre Babys mit Wolldecken auf den Rücken gebunden, Kleinkinder an der Hand. Teenager-Schwangerschaften und Arbeitslosigkeit sind hier gleichermaßen weit verbreitet.
Ein ausgetretener Lehmpfad führt zum Haus von Rose Dlamini. Die 64-Jährige ist vor zwei Jahren vom Land hierher gezogen, als ihre Tochter im Sterben lag. Jetzt kümmert sie sich um ihre drei Enkel, 5, 12 und 14 Jahre alt. Herzlich begrüßt sie den Sozialarbeiter, bietet ihm einen Stuhl vor dem Haus an, setzt sich selbst auf einen zweiten, streicht ihren rosafarbenen, zerschlissenen Kittel glatt.
"Am Anfang war es wirklich schwierig für mich, die Situation zu meistern. Ich hatte kein Einkommen und musste uns trotzdem irgendwie ernähren. Das ist besser geworden, seit ich staatliche Gelder für meine Enkel beziehe. Kinder in diesem Alter großzuziehen ist allerdings nicht nur finanziell eine Herausforderung. Ich bin eine alte Frau, mein Blutdruck ist zu hoch, doch die Erziehung fordert Kraft.
Die Kleinen machen es mir ziemlich leicht, sie gehen gern in die Schule und hören auf mich. Aber mein 14-jähriger Enkel bereitet mir Sorgen. Er schwänzt manchmal die Schule, prügelt sich und kommt oft erst spät nach Hause. Ich hoffe, dass mir die Zeit bleibt, diese Kinder großzuziehen und sie auf den richtigen Weg zu bringen. So dass sie eines Tages ihre Träume realisieren können."
Einer Statistik aus dem Jahr 2007 zufolge ist jedes fünfte Kind in Südafrika Waise, das sind 3,7 Millionen Kinder. Die meisten von ihnen haben ein Elternteil verloren, über 700.00 Mütter und Väter. In Kwazulu Natal, der Provinz, in der Rose Dlamini und Ntombiyenkosi leben, ist die Zahl der Waisen besonders hoch und sie steigt weiter. Spürbar für die Thandanani Children’s Foundation, für die Nhlanhla Ndlovu arbeitet
"In diesem Jahr hat sich meine Organisation die Situation genau angesehen: auf der einen Seite die Zahl der Waisenkinder, für die wir jetzt schon sorgen, auf der anderen die neuen Fälle. Und wir haben uns gefragt, ob wir dieser Herausforderung überhaupt noch gewachsen sind. Momentan unterstützen wir rund 1000 Haushalte in dieser Gegend, in denen weit über 2000 Kinder leben. Das ist eine Menge und noch immer haben wir nicht alle erreicht, die unsere Hilfe brauchen."
Dabei brauchen vor allem Kinder und Jugendliche Unterstützung. Als schwächste Glieder der Gesellschaft sind sie besonders von der hohen Kriminalitätsrate in Südafrika betroffen. Einer aktuellen Studie zufolge ist jeder dritte Heranwachsende zwischen 12 und 22 Jahren im vergangenen Jahr Opfer eines Verbrechens geworden: Häusliche Gewalt, Raub, Diebstahl, Vergewaltigung. Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher.
Auch Ntombiyenkosi und ihre Schwestern sind zu Opfern geworden. Über Details wollen sie nicht sprechen, nur so viel erzählt die älteste Schwester.
"Meine Tante und andere Verwandte haben mich eine Zeitlang körperlich misshandelt. Es ging so weit, dass ich zur Polizei gehen musste. Dann hat es aufgehört. Meine Schwestern haben ähnliches erlebt. Das war kurz, nachdem unser Vater gestorben war. Ich habe mich damals total hilflos gefühlt. Ich war ganz allein und konnte meine Schwestern nicht beschützen."
Ntombiyenkosi hat den Blick auf ihre Füße gerichtet. Es fällt ihr schwer, darüber zu sprechen. Sie sitzt auf dem Sofa im größten Raum des Hauses, neben dreien ihrer Schwestern, die inzwischen aus der Schule zurück sind. Ihre beiden Kinder spielen vor dem Haus.
Die Schwestern versuchen, so weit wie möglich, ein normales Leben zu führen. Ihre Einrichtung ist spärlich, aber das altersschwache Sofa sorgfältig mit gebügelten weißen Tüchern abgedeckt und der Boden im Haus sauber gefegt. Der Lehm bröckelt allerdings von den Wänden, es gibt Löcher, durch die es zieht. Im Winter wird es im Haus bitterkalt. Doch das sei nicht ihre größte Sorge, meint die 17-jährige Sizani und die anderen stimmen ihr zu.
"Wir fühlen uns hier im Haus nicht sicher. Wir sind alle Mädchen und die gesamte Nachbarschaft weiß, dass kein Erwachsener, insbesondere kein Mann im Haus wohnt. Deshalb gibt es immer wieder Zwischenfälle. Dreimal sind wir in den letzten Nächten schon wach geworden und haben jemanden gesehen, der uns durchs Fenster beobachtet. Wir können das Haus nicht abschließen, weil unsere Tante behauptet, auch dieses Haus gehöre ihr und sie müsse zu jeder Zeit Zutritt haben. Manchmal kommt sie überraschend vorbei und nimmt uns unsere Sachen weg. Was auch immer ihr gefällt. Jeder kann hier einfach reinkommen."
Und auch das Haus selbst ist ein Sicherheitsrisiko fügt die Älteste, Ntombiyenkosi hinzu.
Nhlanhla Ndlovu will sich heute selbst ein Bild vom Zustand des Hauses machen. Gemeinsam mit den Schwestern geht er nach draußen, begutachtet zerbrochene Fensterscheiben und die brüchigen Lehmmauern. Ein sicheres Zuhause und genug Geld - das seien die dringendsten Probleme von diesen Waisen-Haushalten, betont der Sozialarbeiter. Ntombiyenkosi, ihre vier Schwestern und die beiden Kinder leben ausschließlich von staatlicher Unterstützung: 680 Rand, umgerechnet rund 62 Euro im Monat pro Kind werden maximal bis zu einem Alter von 21 Jahren gezahlt.
"Die finanziellen Ressourcen der Familie sind oft schon aufgebraucht, bevor die Eltern sterben, selbst wenn sie berufstätig waren und etwas Geld gespart haben. Denn meistens wurde alles für lebensverlängernde Maßnahmen ausgegeben. Die Kinder bleiben mittellos zurück und können sich nicht einmal mehr eine Mahlzeit leisten. Sie wissen oft nicht, dass sie Anspruch auf staatliche Unterstützung haben, geschweige denn, wie sie sie beantragen können. Dazu kommt der Zustand der Häuser. Die meisten von ihnen sind aus Lehm gebaut und müssen daher ständig instand gehalten werden. Doch die Eltern können sich während ihrer Krankheit nicht mehr darum kümmern. Deshalb sind die Häuser oft schon zum Zeitpunkt ihres Todes baufällig. Die Kinder sind überfordert und leben deshalb in Häusern, die einsturzgefährdet sind. Eine ständige Gefahr für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit. Das sind die größten Probleme."
Nach der Besichtigung durch den Vertreter der Hilfsorganisation gehen die Schwestern wieder zurück in ihr baufälliges Haus, das sie seit vier Jahren bewohnen. Jetzt allerdings mit der Hoffnung, dass das Haus irgendwann ausgebessert wird, oder dass sie später vielleicht sogar umziehen können. Als das Gespräch auf die verstorbenen Eltern kommt, schlägt die jüngste die Hände vor ihr Gesicht. Die Älteste legt ihr beruhigend den Arm um die schmalen Schultern.
"Wir sprechen manchmal über unsere Eltern, aber nie über die schwierigen Zeiten, besonders nicht darüber, was alles passiert ist, bevor sie gestorben sind. Sie sehen ja selbst, meine jüngste Schwester weint, wenn ich das Thema nur streife. Sie ist ein sehr sensibles Mädchen. Deshalb vermeiden wir alles, was damit zusammenhängt und konzentrieren uns auf die schönen Erinnerungen, die uns zum Lachen bringen."
Diese Kinder haben ihre Eltern sterben sehen, wie viele der Waisenkinder in Südafrika. In den beengten Wohnverhältnissen ist die Nähe des Todes nicht zu umgehen. Woran ihre Eltern gestorben sind, drückt Ntombiyenkosi, die selbst offen zu ihrer HIV-Infektion steht, mit Blick auf ihre jüngere Schwester nur indirekt aus.
"Meine Eltern haben Gefahren für die Gesundheit einfach ignoriert. Besonders meine Mutter. Sie war immer überzeugt, dass es sie nicht betrifft. Das möchte ich anders machen. Ich möchte andere darüber informieren."
Ntombiyenkosis jüngere Schwester geht kurz aus dem Zimmer. Eine HIV-Infektion ist noch immer ein Tabuthema, erklärt Sozialarbeiter Nhlanhla Ndlovu.
"HIV und Aids sind zwar ein großes Thema, weil die Krankheit weit verbreitet ist. Die Leute sprechen auch darüber. Allerdings nur dann, wenn nicht sie selbst oder ihre Familien betroffen sind. Denn die Krankheit ist noch immer ein Stigma. Ich bin mir auch nicht sicher, in welchem Ausmaß die Kinder in der Schule deswegen ausgegrenzt werden. Viele von ihnen sprechen nicht gern über die Todesursache ihrer Eltern."
Die Bewältigung des Traumas, die Behandlung seelischer Narben, die durch den Tod der Eltern, die körperliche Gewalt oder den Missbrauch danach entstanden sind, kommen angesichts der Armut oft zu kurz. Deshalb bietet die Thandanani Childrens Foundation den Kindern neben finanzieller Unterstützung, Gesundheitsfürsorge, Hilfestellung in der Schule und im Umgang mit Behörden auch emotionalen Beistand an. Eine Tatsache, die die älteste der Schwestern besonders hervorhebt:
"Manchmal stehe ich vor Konflikten mit meinen Geschwistern, die ich allein nicht lösen kann. Ich hatte zum Beispiel Auseinandersetzungen mit einer meiner Schwestern. Sie hat in der Nachbarschaft und gegenüber unserer Verwandtschaft schlecht über mich gesprochen. Außerdem wollte sie Geld von mir. In Fällen wie diesem kann ich mich an die Sozialarbeiter wenden. Auch für meine persönlichen Probleme habe ich jetzt immer einen Ansprechpartner."
Ntombiyenkosi arbeitet inzwischen selbst als Freiwillige für die Organisation, ist für andere Kinder und Jugendliche in ähnlichen Situationen da. Eine Aufgabe, die die junge Frau sichtbar erfüllt. Ihre jüngeren Geschwister nehmen sie zum Vorbild: Nach ihren Berufswünschen gefragt, nennen sie als erstes Sozialarbeiterin, gefolgt von Lehrerin und Ärztin. Wichtig ist vor allem, dass wir eine gute Ausbildung bekommen, bilanziert die 17-jährige Sizani.
"Schule und Ausbildung bedeuten uns deshalb so viel, weil wir damit unsere Lebensbedingungen verbessern können. Außerdem können wir als jüngere Geschwister dadurch später einmal für unsere ältere Schwester sorgen, der wir so viel zu verdanken haben."