Tausende Jobs gegen 150 Kursdorfer

Von Michael Frantzen |
Das sächsische 150-Seelen-Dorf Kursdorf ist die einzige Gemeinde Deutschlands, die von einem Flughafen umschlossen ist. Nun muss Kursdorf weichen, weil sich die Post-Tochter DHL entschlossen hat, ihr Europa-Drehkreuz am Flughafen Leipzig-Halle anzusiedeln.
Bergemann zur Lage: "Sehen sie sich die Lage von Kursdorf an! Mit dem Bau der nördlichen Start- und Landebahn und mit dem Bau der östlichen und westlichen Rollbrücke ist Kursdorf 'ne Insel."

Malitzki: "Der Flughafen ist ein Jobmotor."

Weber: "Vorige Woche ist mir passiert, als ich was bestellt habe, hier in der Umgebung... hat jemand zu mir gesagt: "Kursdorf?! Wohnen da noch Leute?!" Sag ich: "Ja, sicher." "

Heumas: "Jetzt mit DHL ist ne tolle Chance."

Bergemann: "Unser Dorffest haben wir nicht mehr als Dorffest tituliert, sondern als Inselparty."

Eine Insel ist Kursdorf tatsächlich: Eine Insel in einem Meer von Lärm. Das sächsische 150-Seelen-Dorf vor den Toren Leipzigs ist die einzige Gemeinde Deutschlands, die von einem Flughafen umschlossen ist. Im Norden: Eine Rollbahn, im Süden noch eine - und als wenn das nicht alles schon genug wäre, rücken die 6-spurige Autobahn A 14 und die ICE-Strecke dem Ort zusätzlich auf die Pelle.

Weber: "Man hatte sich mehr oder weniger mit dieser Rollbahn abgefunden.
Wir hatten eigentlich gehofft, dass man mit dem Flughafen leben kann, dass man sich arrangieren kann. Diese Dimension, die jetzt kommt, die hätten wir ja nicht erahnt, nicht erträumt. Ich meine, wer träumt von 'nem Frachtkreuz?!"

Ganz sicher nicht Margit Weber. Für die Ortschronistin, deren Großvater sich in der Weimarer Zeit als Schmied in Kursdorf ansiedelte, ist Ende letzten Jahres eine Welt zusammengebrochen. Da nämlich verkündete die Post-Express-Frachttochter DHL, sie wolle ihr europäisches Drehkreuz am Leipziger Flughafen ansiedeln. 2008 soll es losgehen, schon jetzt laufen die Bauarbeiten an der südlichen Start- und Landebahn, die modernisiert und erweitert werden soll.

Für Kursdorf heißt das: Das Dorf ist Geschichte. Jedem im Dorf, meint Margit Weber, dürfe klar sein, dass der zu erwartende Lärm und Kerosingestank das Maß des Erträglichen übersteigen werde.

Weber: "Ich sehe Kursdorf ja anders als jemand, der jetzt hierher kommt. Diese fast 50 Jahre, die ich hier verbracht habe, wie gesagt, für mich sieht das Dorf sicher anders aus. Wer hierher kommt, der wird sagen: "Was wollt ihr an dem Kaff?!" Aber es war eben für mich auch gerade in dieser Wendezeit dieser Rückzugsraum, dieser private, wo man, ja abgesehen von diesen ständigen Sachen, wo man sich pausenlos mit dem Flughafen beschäftigen musste, na ja, pausenlos nich, immer mal nen bisschen Ruhe dazwischen, aber auch dieser Rückzugsbereich, mit funktionierenden Strukturen."

Von den "funktionierenden Strukturen" schwärmt auch Jürgen Göhlert. Der 66-Jährige ist jemand im Dorf: 1958 hat er zusammen mit ein paar anderen den Fußballverein hier gegründet, seit 15 Jahren ist er Vorsitzender. Ein ruhiger, älterer Herr mit graumeliertem Haar, der von sich sagt, er komme mit jedem aus - nur über den Tisch ziehen dürfe man ihn nicht. So wie 1997, als der Sportplatz der Zufahrtsstraße zum Flughafen weichen musste und erst einmal alle die Luft anhielten: Der Flughafen, der Kreis, die für Kursdorf zuständige Gemeinde Schkeuditz. Keiner wollte die Fußballer so recht entschädigen. Doch Göhlert ließ nicht locker - bis der Flughafen dem Verein ein 7000 Quadratmeter großes Sportfeld spendierte.

Jürgen Göhlert hängt an seinem Kursdorf. Das war schon zu DDR-Zeiten so.

Göhlert: "Seit 1979 bin ich ins kapitalistische Ausland gefahren. Maschinenbaumeister bin ich gewesen, ich hätte hier drüben bleiben können. Da ist mir gar nicht der Gedanke... Ich musste wieder nach Hause. Ich musste wieder hierher. Obwohl diese Region gibt normalerweise nicht viel ab. So was besonderes wie bestimmte Ferienorte. Aber ich hatte hier Kumpels."

Bergemann: "Nen Flugzeug ist für 'nen Kursdorfer nie 'nen Highlight. Mit den Flugzeugen sind wir groß geworden."

Erzählt Andreas Bergemann, der Chef der Freiwilligen Feuerwehr. Auch so ein überzeugter Kursdorfer. Hier geboren, hier aufgewachsen, geheiratet, Haus gebaut. Mit dem Flughafen arrangiert. Und jetzt das! Die Tage der Kursdorfer Feuerwehr, fürchtet der 39-Jährige, sind gezählt. Immer mehr Feuerwehrmänner ziehen weg - ins benachtbarte Schkeuditz oder anderswo hin. Der Zusammenhalt bröckelt - anders noch als Ende der 80er, als er bei der Feuerwehr anfing und alle an einem Strang zogen.

Bergemann: "Zu der Zeit war's 'nen ganz normales Dorf. Wir hatten halt 'nen Flughafen in der Nähe, der – ich sag mal – eigentlich nur zur Frühjahrs- und zur Herbstmesse richtig Bedeutung hatte. Die Leipziger Messe damals, wo halt Ost-West-Geschäfte getätigt wurden. Und wo halt immer Flugzeuge landeten, die so im Alltag nicht zu sehen waren. Wie die Concorde. Es war eher wenig Verkehr. Es waren nur so um die 200.000 Passagiere, glaube ich, die man damals abgefertigt hat. Man verfolgte in der DDR ja 'nen ganz anderes Regime – mit der Fliegerei. Da gab es keine Konkurrenz zwischen den Flughäfen, sondern dort ging’s ganz klar: Berlin-Schönefeld. Und die hatten den gesamten internationalen Verkehr, was das westliche Ausland betraf, bis auf die Leipziger Messe - wie gesagt."

Weber: "Also war diese Start- und Landebahn nur zu den Messezeiten dann auch gesperrt. Da wurde das Tor geschlossen, da stand Armee, da kam 'nen Radargerät, und wir hingen an dem Zaun rum und haben Flugzeuge geguckt und mit den Armeeleuten uns unterhalten. Und ansonsten war das unser normaler Weg nach Schkeuditz. Also, ich kenne Leute, die haben auf der Start- und Landebahn. Moped fahren gelernt oder Radrennen war da auch mal drauf."

Die guten, alten Zeiten. Viele in Kursdorf flüchten sich in die Vergangenheit. Aber vielleicht bleibt einem in einem Dorf auf Abruf auch nichts anderes übrig. Und so sinieren Jürgen Göhlert und Co. über das, was einmal war: Die erste urkundliche Erwähnung 1497, den Dreißigjährigen Krieg, die Nachkriegszeit, als unzählige Flüchtlinge aus den verlorenen Gebieten im Osten hier eine neue Heimat fanden.

Göhlert: "Ich bin so'n bisschen nostalgisch. Diese schönen Bauerngehöfte, wissen se, diese geschlossenen Anlagen. Zum Beispiel auch: Da wurde sonnabends auf der Straße gekehrt und sonntags war Ruhe. Wissen se: Da war in dem Dorf Ruhe."

Mit der Ruhe ist es in Kursdorf längst vorbei: Der Flughafen; die Autobahn; die ICEs. Und jetzt auch noch die Baufahrzeuge, die die alte Südbahn aufreißen, um für DHL eine neue, größere zu bauen. Da helfen auch keine Lärmschutzwände.

Kursdorf zahlt den Preis für wirtschaftlichen Aufschwung. So sieht das Manfred Heumars, der stellvertretende Bürgermeister von Schkeuditz. Ohne Flughafen kein Fortschritt - lautet seine Rechnung.

Heumas: "Es ist 'nen Magnet in der Region. Durch den Flughafen haben sich verschiedene Firmen hier angesiedelt, die sonst nicht gekommen wäre. Wir sind durch den Flughafen ne Industriegemeinde und haben über 1400 angemeldete Gewerbetriebe. Und das ist schon 'nen großer Vorteil: Die Arbeitslosenquote liegt bei unter acht Prozent: Schkeuditz. Leipzig ist schon wieder zwanzig Prozent, nä?!"

Vor fünf Jahren betrug die Arbeitslosigkeit in Schkeuditz noch 15 Prozent. Die stetige Expansion des Flughafens brachte die Wende: Allein 2500 Arbeitsplätze am Flughafen, insgesamt sind es in Schkeuditz 11.000. Manfred Heumars rattert die Zahlen nur so runter. Der CDU-Mann setzt auf Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum. Der Blick - stetig nach vorne gerichtet. Manchmal aber befällt selbst jemanden wie Heumars Wehmut. Schließlich ist er selbst ein Betroffener: Über 30 Jahre wohnt er jetzt schon in Kursdorf.

Heumas: "Wehmut gibt's immer. Das ist bei allen da. Es gab dort eine gutes Dorfleben, man hat gut zusammengewohnt, es war irgendwo immer noch im Dorf was los. Gerade jetzt, wenn man 'nen Haus hat, in den letzten Jahren auch viel Geld rein gesteckt, wo vielleicht der andere in Urlaub gefahren ist, hat man an seinem Haus noch gebaut und noch mal alles erneuert und überholt. Und jetzt ist man grad fertig. Alles abgeschlossen, also eigentlich hat man jetzt für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre Ruhe. Und jetzt kommt die Entscheidung, (lacht) das im Stich zu lassen und zu gehen. Das ist schon hart. Und trotzdem zu der Wehmut sagt man sich: Wenn man sich doch noch mal verbessern kann. Jetzt ist man noch in dem Alter, wo man noch 'nen Haus bauen könnte, dann sollte man es noch mal tun."

Weber: "Das ist ja erst seit vorigem Jahr weg. Das ist verkauft worden im vorigen Jahr. Und das ist abgerissen. Ja, und hier sehen sie die Autobahn schon. Trotz der Lärmschutzwand hören se das: Die Autobahn ist ja auch furchtbar. Im Prinzip: Alle solche grünen Flächen, die sie hier mitten im Dorf sehen, das sind Grundstücke, die der Flughafen schon hat. Und die leer stehenden Häuser auch. Nen Großteil des Dorfes hat er also schon."

Er - wenn man so will, ist das Eric Malitzke, der Geschäftsführer der Flughafen Leipzig-Halle GmbH. Der alerte 32-Jährige ist vor etwas mehr als zwei Jahren von Frankfurt am Main nach Leipzig gekommen. Die Ansiedlung der Posttochter ist sein größter Coup. Das zählt. Das Schicksal Kursdorfs ist Nebensache. Aber zumindest hat sich Malitzke mehrere Male den Fragen der Kursdorfer bei Bürgerversammlungen im Ort gestellt. Mit im Gepäck hatte er immer seinen Standard-Deal: "Gebt ihr uns eure Grundstücke, dann zahlen wir euch dafür den gutachtlich festgelegten Verkehrswert oder bieten euch ein Ausgleichsgrundstück in Schkeuditz an."

Malitzke: "Der überwiegende Anteil der Leute begrüßt das Ganze. Wir werden weiter intensiv mit der Bevölkerung im Dialog bleiben. Natürlich gibt es überall auch Teile in der Nachbarschaft, die es ablehnen. Aber sie können in der Sache keinen bekehren."

Andreas Bergemann muss schon nicht mehr bekehrt werden - auch wenn der hauptberufliche Leitstellen-Disponent bei der Flughafen-Feuerwehr seinem Arbeitgeber immer noch übel nimmt, dass er die Ausbaupläne ausgerechnet in der Weihnachtszeit auslegte - als die Behörden geschlossen waren.

Bergemann: "So wie's zurzeit in Kursdorf ist, könnten wir mit leben. Das Problem ist: Man weiß nicht, was kommt. Wie schlimm wird's? Das ist sicherlich auch 'ne Angst, die viele Leute dann dazu treibt, zu sagen: Gut, es ist besser, wir packen jetzt unsere Koffer, als das man dann sagt: Wir machen das erst in zehn Jahren. Und das sind dann zehn verschenkte Jahre."

Heumas: "Da ist es doch ganz vernünftig, dass der Flughafen Kursdorf die freiwillige Absiedelung angeboten hat. Und dass auch viele das auch in Anspruch nehmen. Ich selber werde es auch machen. Ich denke, man kann sich verbessern."

Meint Manfred Heumars. Andreas Bergemann sieht das ähnlich.

Bergemann: "Deshalb ist es mein persönlicher Beweggrund, wo ich gesagt habe: Wir nehmen die Maßnahme in Angriff und bauen ein zweites Mal. Und siedeln dort mit um."

Durch Kursdorf zieht sich ein Riss. Den Heumars und Bergemanns des Dorfes stehen die Webers und andere gegenüber. Die sich "verkauft" fühlen, wie es auf der Kursdorfer Website heißt. Von einer "kalten Enteignung" ist da die Rede und dass der Flughafen versuche, sich möglichst billig aus der Affäre zu ziehen. Tatsächlich weigert sich der Flughafen bis heute, einen Aufschlag auf den Verkehrswert für den Hausbau zu zahlen.

Kursdorfs Tage sind gezählt. Schon jetzt leidet der Ort unter Schwindsucht, ist die Einwohnerzahl von 350 kurz nach der Wende auf weniger als die Hälfte gesunken - Tendenz weiter fallend. Bleiben wollen hauptsächlich die Alten, die nicht noch einmal ganz von vorne anfangen wollen und die, die irgendwie nicht wegkommen. Nicht weg wollen. So wie Margit Weber, die demonstrativ ein T-Shirt mit der Aufschrift "Heut' wir - morgen ihr" trägt und sich immer noch den Kopf darüber zerbricht, welche Entscheidung sie denn jetzt treffen soll.

Weber: "Ich hab' noch keine getroffen. Wir sind auch 'ne Erbengemeinschaft. Wir werden 'ne gemeinsame treffen. Wir sehen viele Sachen ähnlich. Bei uns fällt es der ganzen Familie schwer. Mein Bruder hängt auch sehr an dem Ort."

Genau wie Jürgen Göhlert. Der wohnt zwar inzwischen in Schkeuditz, aber da ist ja sein Schrebergarten in Kursdorf und sein Fußballverein.

Göhlert: "Bloss: Mit der Zukunft haben wir uns noch keine weiteren Gedanken gemacht. Wir wollen das auch nicht hochziehen, wissen se?! Solange wir das finanziell auch machen können. Und wir sind 45 Mitglieder. Und haben auch immer Zustrom. Wir sind nicht pessimistisch. Und möchten das solange wie möglich erhalten."

Malitzke: "Auf der anderen Seite braucht die Region Industrialisierung. Und ob das nun der Ausbau eines Flughafens ist oder ein neues Güterverkehrszentrum oder was es auch immer sein mag – das alles hat immer Effekte auf die Umwelt. Und da ist einfach das Verständnis in der Region, dass es das braucht. Und das man das bis zu einem gewissen Grad auch in Kauf nehmen muss."

Findet Eric Malitzke. Bei Manfred Heumars läuft der Flughafen-Chef da offene Türen ein. 20.000 Bewerbungen sind der DHL bis jetzt schon ins Haus geflattert - für 2500 neue Arbeitsplätze. Mag Kursdorf auch einen hohen Preis zahlen - die Region Leipzig, doziert der Politiker, entwickele sich zur Musterregion.

Heumas: "Mit DHL, mit dem Flughafen. Und für die Region. Und vor allen Dingen schafft' Arbeitsplätze. Nicht nur die, die dort unmittelbar arbeiten. Es kommen ja doch wieder 'e Menge, die irgendwie mit DHL in Verbindung stehen: Zulieferer und so. Das wird in der Region noch mal 'en großen Schub geben."

Ein Schub geben - das hat Margit Weber noch gerade gefehlt. Die Berufsschullehrerin wollte ihr Leben eigentlich in ruhiges Fahrtwasser leiten. Bis zu ihrer Pensionierung in ungefähr zehn Jahren noch arbeiten; dafür sorgen, dass ihr jüngster Sohn nach seiner Ausbildung einen Job bekommt; überhaupt: Einfach mal zur Ruhe kommen.

Weber: "Eigentlich hatte ich nicht mehr so große Wechselpläne für mein Leben. (aufgeregt) Und es soll auch nicht mehr so oft sein. Bloß: Die Frage ist ja momentan: Keiner weiss die genauen Auswirkungen. Die Bahn wird jetzt gebaut, irgendwann geht jetzt dieser Flugbetrieb los. Ich könnte mir vielleicht auch Dörfer in der Region vorstellen. Wo ich sage: Na gut, das klappt vielleicht."

Bergemann: "Alte Bäume verpflanzt man nicht."

Weber: "Hier verschwindet schon was recht wichtiges aus meinem Leben. Vielleicht auch nicht?! Aber 'nen Dorf und so 'ne Gemeinschaft, wie wir sie hatten... Ich weiß es nicht. Es zerschlägt sich so vieles. Und es ist eben auch so frustrierend... und die Arbeit und die Initiative, was man gehofft hatte."

Heumas: "Ich denke, für Kursdorf ist das die beste Lösung."

Göhlert: "Vielleicht steht am Ende bloß noch die Kirche da."