"Tatort"-Kommissar in der Zeitschleife

Etliche Male gestorben, aber keine Leiche

"Tatort"-Ermittler Ulrich Tukur in "Murot und das Murmeltier"
Alles wiederholt sich, aber anders: "Tatort"-Ermittler Ulrich Tukur in "Murot und das Murmeltier" © hr / Bettina Müller
Matthias Dell im Gespräch mit Dieter Kassel · 18.02.2019
Ironie war Trumpf: "Murot und das Murmeltier" mit Ulrich Tukur hat mit seiner besonderen Erzählweise das Publikum begeistert, berichtet unser "Tatort"-Experte Matthias Dell. Gekonnt machte sich der TV-Krimi über Grundprobleme des eigenen Genres lustig.
Dieter Kassel: Lassen Sie mich mal was Historisches tun, mein Scheitern eingestehen. Wir, das heißt Kollegen aus der Redaktion und unser Film- und Fernsehkritiker Matthias Dell. Wir sind alle mit einer Idee gescheitert, weil wir haben beschlossen, jetzt ein Gespräch über den gestrigen "Tatort" zu führen und darauf einzugehen, was Ihnen, den Hörern und Hörerinnen von Deutschlandfunk Kultur, daran nicht gefallen hat. Das wird so leicht nicht werden, denn wir haben jetzt, Matthias und ich, sind wirklich viele, aber so gut wie alle Twitter- und Facebook-Kommentare zu diesem "Tatort" gelesen, und ich habe wirklich Rosinenpickerei im negativen Sinne betreiben müssen. Ein, zwei negative gefunden, aber das meiste ist euphorisch.
"Murot und das Murmeltier" hieß der gestern, "Tatort", da ist schon ein bisschen klar, was es ist. Tatsächlich stirbt Ulrich Tukur als Kommissar Murot, ich glaube, elf Mal in diesem "Tatort". Er erlebt ein und denselben Tag immer wieder fast gleich und versucht, aus dieser Endlosschleife rauszukommen. Das ist die Handlung, und, Herr Dell, ganz viele haben geschrieben: Hat mir gefallen. Oder auch: Was mir am besten gefallen hat, war Ulrich Tukur, der hat diesen Tatort" getragen, großartiger Schauspieler.
Einer schreibt: grimmepreis-verdächtig. Da sage ich mal: jein. Der war natürlich toll, Tukur, erwartet man fast von ihm. Aber hat er den alleine getragen, den "Tatort"?

Alles wiederholt sich, aber anders

Dell: Ich würde sagen, er hat stark davon profitiert, dass der "Tatort" durch diese Struktur mit der Wiederholung einfach anders erzählen musste als sonst, weil natürlich, es war eine Setzung, eine Idee, die ja übernommen ist aus diesem amerikanischen Film "Und täglich grüßt das Murmeltier", worauf der Titel auch anspielt, aber durch die Tatsache, dass er praktisch immer wieder in dieselbe Situation gerät, ist ja logisch, dass er sich eigentlich zwingt, dann anders spielen zu müssen. Aber das wäre, würde ich mal behaupten, jedem anderen Schauspieler auch so gegangen, weil plötzlich ein Raum da ist, den es sonst nie gibt.
Sonst gehen ja Leute wirklich dahin, und das hat der Regisseur Dietrich Brüggemann auch erzählt, dass er sich beim Durchschauen von so Schauspieler-Showreels, also Zusammenschnitten von Auftritten, kommen immer wieder, weil es so viele Krimis in Deutschland gibt, immer wieder diese Kommissar-Verhörszenen, die immer wieder gleich sind. "Was haben Sie gemacht, wo waren Sie, Ihre Frau …" und so weiter. Um aus dieser Schleife quasi rauszukommen, aus diesem immer Gleichen, dazu führt lustigerweise die Tatsache, dass man es immer wiederholt, weil dann plötzlich anders gespielt werden muss. Aber das hat jetzt mit Tukur nur insofern was zu tun, als dass der das Glück hat, diesen "Tatort" zu haben, der von vornherein als einer angelegt ist, der anders ist als die anderen und ich würde fast sagen, in dieser Folge eigentlich so zu sich selbst gekommen ist wie noch nie zuvor.
Kassel: Das Interessante ist, dass zum Beispiel bei Twitter Silvio Grimme – ich würde wirklich gerne wissen, ob der so heißt, weil das passt natürlich gut in diesen Zusammenhang, aber –, Silvio Grimme schreibt bei Twitter: "Wiederholungen bei den Öffentlich-Rechtlichen ist man ja gewohnt, aber im Minutentakt, das ist eine neue Qualität." Bin mir nicht sicher, ob er das böse meint, vielleicht meint er es auch positiv, weil im Grunde genommen macht sich ja dieser "Tatort" auch über ganz, ganz viele Grundprobleme von Krimiserien lustig.
Dell: Auf jeden Fall, und das ist ja gerade auch das Tolle an dieser einfachen Idee. Da, finde ich, gibt es so ein bisschen Abstriche, weil die natürlich eindeutig übernommen ist aus dem "Murmeltier"-Film aus Amerika, wobei man auch sagen muss, dass die Durchführung sehr, sehr gelungen ist, weil es nicht nur eine reine Wiederholung ist, sondern eine Adaption. Aber man merkt sofort, wenn man einfach Film mal anders erzählt, mit solchen Sachen spielt, das ist ja gerade auch Film, und ich glaube, das haben die Leute, die damit nicht zurechtkommen, am ehesten als Problem, weil es halt nicht so eine Art ähnlichen Realismus gibt, so laufen Leute durch das Bild, sondern es gibt eine ganz klare Setzung, es gibt eine Fantasie, die irgendwas erzählt. Dann ist man in diesen Wiederholungsschleifen drin, und Wiederholung selber ist, obwohl sie natürlich langweilig ist, eigentlich total interessant, weil man plötzlich auf Differenzen achtet, auf kleine Unterschiede und so weiter. Und das ist, glaube ich, das, was aus diesem Post, aus diesem Tweet rausspricht.
Kassel: Es gibt eine relativ große Übereinstimmung in diesem Fall heute Morgen mal zwischen Machern – also Ihnen, mir und auch unserer Redaktion – und einigen Hörern, zum Beispiel auch was die lustigste Stelle angeht. Da sind wir beide uns relativ einig, und zwar auch mit Patrick Gensing, der schreibt nämlich bei Twitter: "Sie müssen sich ja nicht gleich umbringen. – Sonst komme ich ja nicht mehr in meine Wohnung", dahinter ziemlich lachende Gesichter. Wer es nicht gesehen hat: Es endet ja immer jede Schleife damit, dass Tukur stirbt, also Murot stirbt, und wie, ist eigentlich egal, es gibt mehrere Varianten, und einmal hat er sich ausgesperrt aus seiner Wohnung, und dann springt er durch das Fenster, damit er da drin wieder aufwachen kann. Habe ich auch gelacht. Es gibt noch andere Stellen. Es war lustig, und das, finde ich, ist leider Gottes sehr selten im deutschen Fernsehen. Es war lustig, ohne blöd zu sein.

Er muss sterben, damit er endlich schlafen kann

Dell: Genau. Das ist, würde ich auch wieder sagen, durch diese Setzung mit dem Format, aber das dann sehr gut ausgeführt ist, kommt man plötzlich zu Witzen, wo man sonst vielleicht gar nicht so einfach hinkommt. Das ist eine schöne Beobachtung, weil diese Fensterszene natürlich … Er hat dann begriffen, wie in einem Videospiel, so läuft das, und jetzt kommt man wieder zurück zum Anfang, also aus dem Fenster springen. Eine andere Ironie. Das hat auch jemand auf Twitter geschrieben, dass am Ende, obwohl ja dauernd zwischendurch jemand sterben muss, was dann auch ein bisschen funktionaler ist, weil Murot weiß, er muss jetzt einfach tot werden, damit er wieder ins Bett kommt und wieder anfangen kann, dass am Ende es eigentlich keine Leiche gegeben hat in der letzten Durchführung praktisch.
Also das ist eigentlich ein "Tatort" ohne Leiche, was wiederum auch interessant ist, weil ja der Standard – wenn man das sagen kann – beim "Tatort" ist, es braucht irgendwie am Anfang eine Leiche, deswegen liegt die meistens auch schnell lieblos rum, und man hat keine Vorgeschichte gesehen und so weiter, weil das ist der Punkt, an dem die Ermittlungen losgehen. Das ist irgendwie auch natürlich eine sehr, sehr originelle Idee, dass man eigentlich einen Film sieht, in dem dauernd jemand stirbt, aber am Ende, wenn es richtig ausgeführt ist, stirbt keiner. Also insofern ist dieser Film unglaublich beziehungsreich und ermöglicht auch so viele Gespräche und Überlegungen dazu.
Kassel: Es gibt eine Stelle, da haben wir uns gestern schon überlegt, da werden manche schreiben, das hätten sie nicht machen müssen, das ist Zeitverschwendung. Ist nicht passiert, unsere Hörer sind nicht berechenbar, auch die Stelle gefiel. Da fährt Murot eines Morgens raus – irgendwo im Odenwald, glaube ich, ist es, oder zumindest raus aus der Stadt.
Dell: Genau, aus Frankfurt.
Kassel: Raus aus der Stadt, um einfach einen Landgasthof zu besuchen. Es ist – das ist ganz wichtig für den Ausschnitt, den wir jetzt hören –, es ist, geschätzt, so ungefähr neun Uhr morgens.
Jetzt hatten wir – Matthias Dell und ich – den "Und täglich grüßt das Tatort-Tier" im Moment selber. Muss man erklären: Das ist auch die Schleife.
Dell: Das ist eine Schleife, die wir zusammengeschnitten hatten, wo immer eine Wiederholung ist, wo er an den "Tatort" kommt und von dem schusseligen Polizeibediensteten einen Kaffee gereicht bekommt, der meistens auf die Hose geht, weswegen er beim nächsten Mal weiß, den schüttet er mir auf die Hose, also weiche ich dem aus und so weiter, und daraus lässt sich zeigen, wie Wiederholung variiert werden kann. Was Sie meinten, ist diese schöne Stelle, die auch sehr viele Leute getwittert haben, wo er in der dritten Wiederholung, glaube ich – was auch interessant ist, dass das schon so früh passiert –, einfach nicht mehr zur Arbeit geht, weil er weiß ja eh, was da passiert, und rausfährt und einen Ausflug macht.
Das macht der Film dann quasi auch. Er setzt sich früh morgens in diesen Landgasthof und bestellt ein Frühstück, Kaffee, Tee, Schnaps und Croissant. Das ist natürlich auch wiederum … merkt man, dass das Drehbuch schon lustig ist, weil diese Mischung aus Kaffee, Tee, Schnaps und Croissant sehr obskur ist, und es wurde auch von vielen Leuten getwittert, dass das irgendwie künftig das Murot-Frühstück sein soll, weil es so eine merkwürdig Mischung ist sehr früh am Morgen.
Kassel: Wenn Sie es nachmachen wollen, gehört noch dazu, der Schnaps wird dann in den Kaffee geschüttet. Nicht in den Tee – hätte ich logischer gefunden, aber ist ja nicht alles logisch. Wenn man einen solchen "Tatort" sieht, kann man auch – und viele Hörer haben das auch tatsächlich getan – sagen, die sind so unsachlich im Fernsehen, dann stelle ich auch mal unsachliche Fragen. Tatsächlich haben, glaube ich, bei Twitter und Facebook zusammengezählt, neun Leute gefragt, wo gibt es diesen Schlafanzug, den er da die meiste Zeit trägt. Das wissen Sie auch nicht, aber waren Sie auch von dem Schlafanzug beeindruckt? Ich find' den schön.

Verballhornung eines Werner-Herzog-Titels

Dell: Ich glaube, es waren sogar noch mehr. Das ist ja auch das Interessante, wo man wieder sagen kann, das hat der Film einfach geleistet und geschafft, dass er seine Einzelheiten, Details … letztlich auch für ganz viele Leute, die in so Bildern irgendwas suchen. Das Buch, was bei ihm auf dem Nachttisch liegt, heißt "Vom Gehen im Kreis" von Lotte Kreisner, was eine Verballhornung eines Werner-Herzog-Titels über die deutsche Filmemacherin Lotte Eisner ist.
Solche Kleinigkeiten kann man entdecken, weil man natürlich immer wieder das Gleiche sieht. Darauf legt es der Film ja auch an. Der Schlafanzug ist natürlich auch so ein Moment, den er irgendwann gar nicht mehr auszieht, weil er weiß ja eh, dass er wieder zurückkommt und stirbt und wieder aufwachen muss. Deswegen ist es kein Wunder, dass solche Momente, die dann so gut bedeutet werden, bei den Zuschauerinnen und Zuschauern so viel Wirkung erzielen.
Kassel: Es hat auch eine geschrieben: "Ich möchte aber nächste Woche wieder einen Toten. Nach 85 Minuten wissen wir, wer es war." Das wird wahrscheinlich auch so kommen. Der "Tatort" bleibt verlässlich.
Ein Mann hält eine Pistole an den Kopf des LKA-Ermittlers Felix Murot, der gleichgültig in die Kamera schaut.
Jeden Tag der gleiche Tatort für LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) © Bettina Müller/HR
Dell: Ich habe den jetzt zufälligerweise schon gesehen, und es wird auch, würde ich sagen … Es ist ein guter Anschluss, weil es auch ein guter, interessanter Film ist, der auch wieder ein bisschen anders ist. Der größte Witz ist aber, dass nach dieser Folge, wo sich dauernd was wiederholt, die Folge von nächster Woche heißt "Ein Tag wie jeder andere".
Kassel: Wer ist es denn eigentlich? Sonst sterben wir alle neugierig.
Dell: Nürnberg. Fabien Hinrichs und Dagmar Manzel als Voss und Ringelhahn.
Kassel: Also das ist das nächste, aber das, worüber wir eigentlich gesprochen haben, "Murot und das Murmeltier", kann man natürlich, wenn Sie es nicht gesehen haben, wenn Sie zu den geschätzten drei Promille der Bundesbürger gehören, kann man natürlich in der ARD-Mediathek nachgucken.
Dell: Und das immer wieder.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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