Tara Zahra: "Gegen die Welt"

Die Unendlichkeit der Details

06:04 Minuten
Buchcover zu "Gegen die Welt" von Tara Zahra
© Suhrkamp Verlag

Tara Zahra

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

Gegen die Welt. Nationalismus und Abschottung in der ZwischenkriegszeitSuhrkamp Verlag, Berlin 2024

454 Seiten

36,00 Euro

29.04.2024
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Bereits zwischen den Weltkriegen lösten Migration und Globalisierung Existenzängste aus. In "Gegen die Welt" untersucht Tara Zahra die Epoche, in der die Abschottung populär wurde – überreich an Stoff, spannend erzählt, weniger stark in der Synthese.
„Gegen die Welt“ könnte auch ein Bond-Films heißen, der ein weiteres Mal aufs Ganze geht. Und kaum weniger will das gleichnamige Buch. Tara Zahra untersucht, wie in der Epoche zwischen den Weltkriegen der Prozess der Globalisierung stockte und teils umgekehrt wurde. Dafür macht sie neben verstärktem Nationalismus und dem Streben nach (ökonomischer) Autarkie seitens vieler Staaten den „Anti-Globalismus“ innerhalb der Gesellschaften verantwortlich.
Politische, soziale und kulturelle Bewegungen von rechts wie von links priesen die Einigelung oder bemühten sich zumindest um eine gerechtere Globalisierung – denn bislang hatten in erster Linie bevorzugte Schichten in bevorzugten kolonialistischen Länder profitiert. In diesem Sinne empfahl Mahatma Gandhi in Indien ökonomischen Nationalismus als Instrument des Anti-Kolonialismus. Merke: Abschottung kann progressiv sein, Globalisierung ein Tarnbegriff für schnöde Eigeninteressen.

Ambitionierte Globalgeschichte

Kaum zu glauben, aber wahr: Anfang Dezember 1915 gingen die österreichisch-ungarische Feministin und Pazifistin Rosika Schwimmer und der Auto-König Henry Ford in New Jersey an Bord eines Schiffes, um die Soldaten in Europa bis Weihnachten aus den Gräben zu holen und den Weltkrieg zu beenden. Es kam anders. Später wurde Ford ein entschiedener Antisemit, der das internationale Finanzsystem in den Händen verschwörerischen Juden wähnte, Schwimmer blieb eine zuversichtliche (überoptimistische) Internationalistin.
So wie im Fall Schwimmer/Ford, folgt Zahra den Biografien vieler Menschen aller Schichten, sie wechselt zwischen Institutionen, Projekten und Ideologien, Ländern und Ereignissen, Wirtschaftsdaten und Migranten-Strömen – kurz: sie schreibt eine ambitionierte Globalgeschichte, die mit einer Unendlichkeit von Details fertig werden muss.

Hologramm zerrissener Jahrzehnte

Ob Stefan Zweigs Klagen über neue Grenzen und Pass-Zwänge oder der Versailler Vertrag als Verursacher fataler nationaler Enge-Gefühle, ob die Spanische Grippe als Globalisierungs-Menetekel oder Mussolinis Trockenlegung der pontinischen Sümpfe als 'innere Kolonisierung', ob die Blut-und-Boden-Phantasmen der Nazis oder die Eigenheim-Ideologie, ob die Welt-Geschäfte des tschechischen Schuh-Unternehmers Tomáš Baťa, die Unfähigkeit des Völkerbunds oder überhaupt das Scheitern des Internationalismus als Alternative zu chaotischer Globalisierung: In Zahras Hologramm der innerlich zerrissenen Jahrzehnte findet alles irgendeinen Platz. Darum ist "Gegen die Welt" bemerkenswert interessant – allein, 'interessant' heißt noch nicht überzeugend.

Reicher Stoff, fehlende Analyse

Zahra weiß natürlich, dass Begriffe wie Globalisierung, Anti-Globalismus und De-Globalisierung in der Zwischenkriegszeit unbekannt waren. Dennoch überschreibt sie die damalige Diktion fast nach Belieben mit der heutigen, ohne die Unterschiede gründlich zu benennen. Zugleich verzichtet sie auf die naheliegende Aktualisierung vieler Phänomene – etwa das neue Autarkie-Streben angesichts von Pandemie und Lieferketten-Problematik, die Abschottung vor unliebsamen Flüchtlingen, Zollgesetze, "America first" etc. Nicht selten vermisst man im Reichtum des Stoffes analytische Ordnung, treffende Synthese, übergreifende Zusammenhänge. Oder kann es sie gar nicht geben, wenn man so viel Disparates zu bannen versucht wie „Gegen die Welt“? 
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