Tanzwissenschaftlerin Angela Alves

"Der Körper ist das wichtigste Erfahrungsinstrument"

31:01 Minuten
Die Tänzerin Angela Alves hält ihr Arme verschränkt über und unter ihr Gesicht.
Angela Alves bei einer Fotoprobe für die Tanztage 2019 in den Berliner Sophiensälen: Aufgeben, loslassen, mit dem leben, was da ist. © imago images / Martin Müller
Moderation: Ulrike Timm |
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Mit welchen Normen und Kategorien schauen wir auf andere Menschen? Diese Frage beschäftigt die Tänzerin Angela Alves nicht nur in ihren Produktionen. Sie hat Multiple Sklerose und weiß, was Barrieren bedeuten. Ihr Ziel: eine Kultur der Gleichheit.
Tanzen ist Angela Alves Element: "Ich denke viel in Bewegung. Das ist eine bestimmte Art von Weltwahrnehmung, die ganz viel damit zu tun hat, dass ich die Welt tanzend erfahren habe."

Als Arbeiterkind auf die Tanzbühne

Die Tanzlaufbahn ist ihr als Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrpott nicht gerade in die Wiege gelegt. Dass sie zum Ballett geht, liegt am Rat eines Arztes: So könne ihre Hüftverschiebung korrigiert werden.
Die Lust an der Bewegung bleibt; Angela Alves studiert Tanz, zunächst klassisches Ballett, später zeitgenössischen Tanz. Für ihre Familie eine fremde Welt:
"Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, und da werden Frauen Friseurinnen, Arzthelferinnen, Blumenverkäuferinnen. Das sind die angesehenen Berufe. Alles, was mit Studieren zu tun hat, kann man sich gar nicht vorstellen, dass man damit wirklich Geld verdienen kann. Und Kunst ist noch weiter weg. Mein Opa hat mal zu mir gesagt: Das ist ja ein Zigeunerleben, was du da hast."

Diagnose Multiple Sklerose

Angela Alves lässt sich nicht beirren; sie geht nach Berlin, will freischaffend arbeiten. Sie ist 30, gerade mit ihrem zweiten Kind schwanger, da ändert eine Erkrankung ihr Leben. Eines Morgens wacht sie auf, kann nichts mehr sehen, hat Gleichgewichtsstörungen.
Die Diagnose: Multiple Sklerose. "Wenn Sie plötzlich die Kontrolle verlieren und Ihre Identität sehr stark durch Bewegung erschaffen, dann ist das sehr beängstigend, wenn plötzlich dieses Instrument fehlt, der Körper."
Doch Angela Alves nutzt ihr Körpergefühl, ihr Körperwissen, um mit dieser Situation klarzukommen:
"Mein Weg war: Aufgeben, loslassen, mit dem leben, was da ist: Nämlich die Erfahrung, dass meine Kompetenz einen Wert hat und einen Raum hat. Es gibt ja einen Unterschied zwischen Hingabe und Kapitulation. Das heißt nicht: Ich gebe mich auf. Sondern: Ich gebe auf, mich in den vorgegebenen Strukturen anpassen zu wollen."

Der Wert der Barrierefreiheit

Mittlerweile lebt sie seit 13 Jahren mit MS, den aktiven Tanz kann sie nicht mehr ausüben, aber er ist immer noch ihre Leidenschaft: Sie leitet Bühnenproduktionen, aktuell das Stück "No Limits". Auch hier beschäftigt sie sich mit der Frage der Barrierefreiheit, dem Ziel der Inklusion:
"Inklusion bedeutet ja viel mehr, als eine Gruppe von Menschen, die bisher ausgeschlossen wurde, nun reinzulassen und mitmachen zu lassen, bei dem, was die anderen schon machen. Sondern Inklusion bedeutet vielleicht eher: Es muss niemand mehr eingeschlossen werden, weil niemand mehr ausgeschlossen wird. Und das ist ein großer Unterschied."
Alves gibt ihre Erfahrungen in der Betreuung von MS-Erkrankten weiter, in dem Verein "Turn. Neue Bewegung für Multiple Sklerose":
"Der Körper ist das wichtigste Erfahrungsinstrument, und Bewegung ist Ausdruck des Körpers. Und wenn ich erfahre, dass ich etwas über Bewegung für mich tun kann, dann hilft mir das, mich nicht mehr so ausgeliefert zu fühlen."
(sus)
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