Tanzende Phasenverschiebung

Von Elisabeth Nehring |
Die frühen Arbeiten der belgischen Choreografin und Tänzerin Anne Teresa de Keersmaeker und ihre Companie Rosas gelten heute schon als Klassiker des zeitgenössischen Tanzes. In ihnen zeigen sich die vielschichtig verwobenen Beziehungen zwischen Tanz und Musik. Das Berliner Hebbel am Ufer stellt vier der Frühwerke vor.
Zwei Schritte vor, Armschwung nach vorn, Drehung und wieder zurück - eine einfache Bewegungsphrase, ausgeführt von zwei zwillingsähnlichen Frauen, die sich mit ihren mädchenhaften, schlichten, weißen Kleidern und Turnschuhen fast bis aufs Haar gleichen. Pure Abstraktion, perfekt ausgeführt.

Doch so unmerklich, wie sich die musikalischen Strukturen im Stück "Piano Phase" von Steve Reich verändern, so fein sind auch die choreografischen Verschiebungen des 1982 entstandenen Duetts "Fase – Four Movements to the Music of Steve Reich" von Anne Teresa de Keersmaeker: Bewegungen der Arme, Füße oder des Kopfes, eben noch parallel ausgeführt, werden im nächsten Moment um nur einen Takt prolongiert. Von der Synchronität in die Asymmetrie, von der ständigen Wiederholung zur Variation und wieder zurück - ein Wimpernschlag an Unaufmerksamkeit würde einen die feine Komplexität übersehen lassen, die in dieser scheinbaren Einfachheit waltet und mit der die Choreografie der Musik antwortet.

Anne Teresa de Keersmaeker: "Musik ist mein wichtigstes künstlerisches Gegenüber. Und in ganz einfacher Weise war die Musik schon immer der wichtigste Partner des Tanzes. Leute haben schon immer zu Musik getanzt oder Musik mit dem Tanz gemacht. Ich selbst habe viel von der Musik gelernt - z.B. wie ich Kompositionen betrachte, wie ich Zeit und Raum organisiere, Bewegungsvokabular entwickle und Spannungsbögen kreiere. Ich war immer umgeben von sehr guten Musikern und Komponisten und die Company war stets mit dem Opernhaus verbunden, wo Musik natürlich die ganze Zeitz präsent ist. Ja, ich denke sehr viel in musikalischen Strukturen."

Ein Jahr nach der Kreation von "Fase" lädt De Keersmaker die ihr eigenen abstrakten Tanzsequenzen emotional auf: In dem 1983 kreierten Stück "Rosas danst Rosas" zur Musik von Thierry De Mey und Peter Vermeersch geht es noch immer um das Zusammenspiel von musikalischen und choreografischen Akzenten, aber die vier jungen Frauen auf der Bühne führen ihre alltäglichen und doch präzis pointierten Tanzsequenzen im Stehen, Sitzen oder Liegen hochenergetisch und mit starker innerer Beteiligung aus.

Der Wechsel von Wiederholung und Variation, den De Keersmaeker in "Fase" so suggestiv ausgeschöpft hat, findet sich auch hier. Die Impulse, aus denen Bewegungen entstehen und die Quellen, aus denen sie sich speisen, sind von Projekt zu Projekt verschieden.

Die Produktionen "Fase" und "Rosas danst Rosas" katapultierten ihre Schöpferin Mitte der achtziger Jahre rasch in die erste Liga zeitgenössischer Tanzkunst in Westeuropa. Doch mit ihrem nächsten Werk unterzog die damals erst 24-jährige Choreografin die eigene Arbeit einer grundsätzlichen Selbstbefragung - und widerstand der Versuchung, mit ihrem erfolgreichen Konzept mit Tanz und Musik weiter zu machen wie bisher.

"Elena's Aria" integrierte neben Tanz und Musik auch Film und Literatur und beschritt auf diese Weise ganz neue stilistische Wege. Doch auch hier gab es - wie in den vorangegangenen Stücken - nur Frauen auf der Bühne. Ohne einem expliziten Feminismus das Wort reden zu wollen, waren die frühen Arbeiten De Keersmakers auch Werke über, von und mit vor allem jungen Frauen. Von ihren Tänzerinnen erwartet die Choreografin ganz bestimmte Qualitäten.

"Großzügigkeit ist mir sehr wichtig. Natürlich auch technische Fähigkeiten und Intelligenz, aber Generosität finde ich wirklich elementar! Der Wunsch zu kommunizieren ist mir wichtig, genauso wie Disziplin. Und die Kapazität, Disziplin mit künstlerischem Denken zu verbinden; in der Lage zu sein, sich gleichzeitig ganz im Zentrum seiner selbst zu befinden und sehr beweglich zu sein, körperlich und mental."

Genau diese Qualitäten kennzeichnen auch die Tänzerin Anne Teresa De Keersmaeker selbst. Mit ihnen hat sie viele ihrer Produktionen, aber eben ganz besonders die frühen Arbeiten geprägt. Denn ist sie doch nicht nur Choreografin, sondern in Stücken wie "Fase" oder "Rosas danst Rosas" auch und vor allem immer Ausführende gewesen.

Wie eng die Musikalität der Choreografie mit De Keersmaekers eigener Körperlichkeit, mit ihren ureigenen tänzerischen Ideen, Interessen und Möglichkeiten zusammenhängt, erkennt man, wenn man heute – 30 Jahre nach der Entstehung – die Choreografin selbst noch einmal tanzen sieht. Wie ungeheuer diszipliniert und zugleich sehr frei im persönlichen Ausdruck sie ist, wie sich Konzentration, Anstrengung, aber auch schelmische Freude gelegentlich in Gesicht und Körper abzeichnen, ohne dass die Suggestionskraft der Puristik verloren ginge, wie streng und gefasst, aber zugleich auch verspielt und durchlässig ihr körperlicher Bewegungsduktus sein kann – das zu beobachten ist atemberaubend und ein großes Glück.

Anne Teresa de Keersmaeker blickt zurück auf über 30 Jahre Tanz:

"Mein Körper hat sich sehr verändert. Tänzer sind gekommen und wieder gegangen und natürlich hat sich auch das eigene Wissen erweitert; man wird älter und das Wissen und die Energie werden anders. Man hat nicht mehr die Unschuld wie 20 Jahre zuvor, man hat sich eine Menge Know-how angeeignet, man hat gelernt, zu arbeiten und mit Menschen umzugehen. Man ist vielleicht ein bisschen weiser geworden und man lernt, Dinge wirklich wert zu schätzen. Man stellt mehr Fragen, als man Antworten bekommt. Man fragt sich, was ist wirklich wichtig, was macht dich glücklich? Und vielleicht hat man nicht mehr die Wildheit und Heftigkeit, die man hatte, als man 20 war."