Tante Emma heißt Frau Piroth

Von Tonia Koch |
Natürlich hat sie auch schon ans Aufhören gedacht und schließt den kleinen Laden dennoch nicht. Natürlich ist es der einzige Laden in der Gemeinde und sein Sortiment hat sich über die Jahre auch verändert.
Maria Piroth ist 84, steht seit 58 Jahren in ihrem Tante Emma-Laden, öffnet von Montag bis Sonnabend, ab 7 Uhr in der Früh. Und natürlich ist das kleine Geschäft für die Alten im Dorf seit Jahrzehnten die Anlaufstelle für einen kurzen Tratsch. Kann man auf all das verzichten? Natürlich nicht.

Es ist 10 Uhr. Maria Piroth gönnt sich eine Verschnaufpause. Sie sitzt in der Küche und schnibbelt grüne Bohnen fürs Mittagessen. Warum sie mit 84 Jahren noch immer den Laden aufsperrt, will ich von ihr wissen.

"Also ich mach’ es nur noch, um mich geistig fit zu halten, um eine Aufgabe zu haben.” "

Sechs Mal die Woche, von Montag bis Samstag. Finanziell lohne es sich längst nicht mehr. Sie sei ständig gebunden mit ihrem Laden, selbst in den seltenen Fällen, in denen sie abends mal wegginge, aber, fügt sie stolz hinzu.

" "Ich bin noch berufstätig."

"Guten Morgen Helga. Sechs Grad haben wir nur."
22 Tageszeitungen liegen fein säuberlich aufgereiht auf dem Verkaufstresen. Die Verkaufstheke aus hellem Holz, mit einer Glasfront zum Reingucken, stammt aus den 60er Jahren. Helga aber kommt schon länger.

"Ach, schon seit Maria das Geschäft hat, schon lange. Wir kaufen auch sonst nirgendwo. So lange die Maria da ist, bleiben wir bei der Maria."

Das Geschäft führt Maria Piroth seit 1949. Sie hat es gemeinsam mit ihrem bereits verstorbenen Mann gegründet. Es sollte die Existenz der jungen Familie sichern. Allerdings hatten die Piroths keine Erfahrung, sie wussten nicht, ob sich ihr Sortiment: Tabakwaren, Zeitschriften, Spielzeug, Schreibwaren und Bücher auf dem Land rechnen würde. Deshalb sollte ihr Mann seinen Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb behalten. Dagegen hatte jedoch die genehmigende Behörde Einwände. Denn nach dem Krieg wurden Lizenzen nur unter Auflagen vergeben, in erster Linie an Kriegsversehrte, die keine Chance hatten anderweitig beschäftigt zu werden. Ihr Mann, der im Krieg verwundet worden war, hatte Glück und eine Arbeitsstelle gefunden. Und diese wollten die beiden wegen des Ladens nicht aufs Spiel setzen. Das damalige "Tabakwarensyndikat" aber zeigte sich - so Frau Piroth - uneinsichtig, bestellte sie zum Rapport nach Saarbrücken.

"Da haben die mit vier Leuten in einem großen Raum gesessen und nichts geschafft, nur mich angehört. Da hab ich gesagt, das geht auf dem Land nicht. Und da hat einer zu mir gesagt: Ja, wenn sie nicht aufgeben, dann bekommen sie die endgültige Genehmigung nicht, wir hatten nur eine vorläufige Genehmigung. Da war ich so dreist, da hab’ ich die Tür in die Hand genommen und gesagt: Dann behalten sie ihre Genehmigung und mein Mann behält seine Arbeit. Und dann habe ich die Tür zugemacht. Vierzehn Tage später war die Genehmigung da, bis heute."

Viel Fantasie ist nicht nötig, um sich vorzustellen, wie die zierliche, aber resolute Frau den vier Herren von der Genehmigungsbehörde die Leviten gelesen hat. Der Laden, das war ihr Reich, daneben der Haushalt und die Kinder.

"Laden und die Kinder kriegen, dann zwischendrin gestillt, dann hat es geklingelt, schnell das Kind auf das Chaiselongue gelegt, einen Stuhl davor … oh je, alles nicht so einfach, aber sie sind groß geworden."

Und geworden ist auch etwas aus den Kindern. Eine Lehrerin, ein Professor für Wirtschaftswissenschaften und ein Berufsmusiker. Eines ihrer Kinder ist in der Nähe geblieben, die beiden anderen haben dem Dorf im nördlichen Saarland aus beruflichen Gründen den Rücken gekehrt. Langweilig ist ihr trotzdem nicht. Viele ihrer Kunden sind zwar bereits weggestorben, aber die, die noch leben, halten ihr die Treue.

"Oh, wie lange komme ich schon? So lange wie es Zeitungen gibt. Ja, muss ja morgens aufstehen um 6 Uhr."
"Jeder weiß, dass sie so früh aufmacht, also kommt dann auch jeder."
"Jeden Morgen."
"So lange ich noch gearbeitet habe, habe ich sie mittags geholt. Und jetzt hole ich sie morgens."
"So ungefähr zehn Jahre. Es ist mein erster Gang vor der Arbeit."
"Morgens immer um die Zeit. Wir müssen um sieben Uhr wegfahren, um arbeiten zu gehen, und dann ist was los bei Maria."

Zu diesem Zeitpunkt hat der kleine Laden an der Hauptstraße in Buweiler den ersten Ansturm bereits hinter sich. Zwischen halb sieben und sieben werden die meisten Zeitungen verkauft. Fast ausschließlich die Boulevardblätter und "20 Cent", eine abgespeckte Version der Regionalzeitung, die ebenfalls über Direktverkauf vermarktet wird. Dazwischen wartet ein einsames Exemplar der "Welt" auf seinen Käufer.

"Der kommt noch. Das ist ein fixer, sehr fix."

Fix im Sinne von geistig rege, meint Maria Piroth. Sie ist froh, dass sie den Welt-Leser zu ihren Kunden zählen darf. Manchmal, so tuschelt sie hinter vorgehaltener Hand, manchmal helfe er ihr bei der Steuererklärung. An diesem Donnerstag dauert es bis kurz vor acht, bis er kommt.

"Ja, der Welt-Kunde, der einzige hier im Ort. Die liegt jeden Morgen hier. Die müsste ich schon selber drucken, wenn ich sie näher haben wollte."

Seit ein paar Jahren verkauft auch der einzig verbliebene Bäcker am Ort Zeitungen und Zeitschriften. Brötchen holen und die Zeitung gleich mitnehmen - das ist bequem. Sie hat dafür Verständnis.

"Ich hab’ noch nicht eine einzige geholt, obwohl ich sie nun seit 56 Jahren verkaufe, noch keine geraucht. Aber 'Süßiges', Gummibärchen, Schokolade, Bonbons, egal, alles, aber keine Zigaretten."

Wer Maria Piroths Laden besucht, kommt auch nicht in erster Linie wegen des Rauchens. Trotz Werbeanstrengung, denn auf etwas angegilbten Reklameschildern im Schaufenster wird noch immer die große Freiheit gepriesen, die erlebt, wer zur Zigarette greift. Längst geht es in Buweiler um Maria selbst. Luise Kaufmann:

"Also die Tante-Emma-Lädchen, die fehlen schon. Früher waren die Tante-Emma-Lädchen, ne. Vor allem was ich immer sage: Das Gespräch zwischen den Leuten, die Kontakte, die fehlen in den Supermärkten. Keiner hat mehr Zeit. Alles ist nur noch Hektik. Das Gespräch bleibt auf der Strecke, jeder ist schlechter Laune und muffig."

Um zu sehen, wie es so läuft, kommt auch Brosi. Drei Mal die Woche. Er ist Raucher, kauft hier seinen Tabak. Schon ewig, wie sollte es anders sein. Heute wird er besonders herzlich begrüßt.

"Herzlichen Glückwunsch zu deinem 60, ich weiß, dass Du in Elfis Jahrgang bist."

Elfi ist Frau Piroths Tochter. Die Geburtstage der Jüngeren, die mit ihren Kindern in Verbindung standen, kann sie sich leicht merken. Das Geburtstagskind nimmt die Glückwünsche der Anwesenden entgegen. Und mit 60 zählt Brosi zu der Garde der jüngeren Kunden des Ladens in der Hauptstraße.

"Das ist ein Treffpunkt für alle, ist eine nette Frau, das muss man unterstützen. Die ist noch fit, hat keine Langeweile, so macht das Leben Spaß."

Am späteren Vormittag sorgt der Geburtstag für unerwarteten Kundenbesuch. Erika Ott ist aus dem Nachbardorf gekommen.

"Ich muss eine Geburtstagskarte haben."

Frau Piroth kramt in einer großen schwarzen Kiste. Viel Auswahl hat sie nicht.

"Die ist extra fein …"

Aber es ist die falsche. Die alte Dame hat eine Kinderkarte erwischt.

"Hast Du keine mit einer 60 drauf?"

Es dauert eine Weile, dann werden die beiden Damen fündig. Frau Ott ist zufrieden.

"Die ist nicht teuer."
" Ja, bei Haco ist sie viel teurer."

Haco heißt das Einkaufszentrum im fünf Kilometer entfernten Mittelzentrum. Es wurde bereits Mitte der 70er Jahre erbaut und hat seitdem das Angebot beständig erweitert. Für die Vielfalt an Läden im Ort war das Zentrum der Anfang vom Ende.

"Hier neben mir, den Raum gibt es ja noch, hier war 29 Jahre lang ein Edeka–Laden drin. Und dann war eine Versicherung drin und dann ein Fernsehtechniker. Und jetzt ist halt nichts mehr. Seit zwei Monaten ist das Ladenlokal nicht mehr vermietet. Da war immer reger Betrieb."

Der Fernsehtechniker habe auch wegen der Verkehrssituation aufgegeben. An der Hauptstraße fehlten die Parkplätze. Damit ist die gewerbliche Nutzung für das kleine Ladenlokal nebenan wohl endgültig beendet. Ihre Mieter - so erzählt Maria Piroth - wollen künftig ihre privaten Musikinstrumente dort unterstellen. Sie benötigen Platz für ein Schlagzeug.

Frau Ott hat zwischenzeitlich die Münzen für die Geburtstagskarte und für zwei Schachteln Zigaretten zusammengesucht.

"Maria, hier ist etwas falsch gelaufen, das ist ein Fünfer."
"Jajaja."

Das Fünf-Cent–Stück ist in das falsche Kästchen geraten. Das passiert schon mal, denn Maria Piroth muss die Münzen ertasten. Seit 40 Jahren ist ihre Sehfähigkeit stark eingeschränkt. Sie kann die Zeitungen, die sie verkauft, nicht lesen, Geldscheine, die ihr angeboten werden, nicht entziffern. Alles muss unter das Lesegerät. Auch der Lieferschein von diesem Tag.

"Das könnte ich jetzt nicht lesen, wenn ich nicht dieses Gerät hätte. Wenn das kaputt ist, bin ich völlig blind. Das sind 22 Bild-Saarland, zwei 20 Cent und eine Welt …"

Maria Piroth lenkt das Interesse auf einen Stapel Kassetten. Die neuen seien erst gestern von der Blinden-Hörbücherei geschickt worden. Sie höre sie abends im Bett und bevorzuge Biographien. Gerade erst habe sie eine interessante Geschichte angefangen.

"Von der Baader–Meinhoff , von der Ulrike, ihr Leben. Ich lass’ mir immer Biographien schicken, da hab’ ich mehr dran, als an diesen 'süßen' Romanen. Sie war ein Pflegekind. Soweit bin ich gestern Abend gekommen, sie war ein Pflegekind, eine sehr gute Schülerin, aber dann hat sei sich von ihrem Mann und den zwei Kindern getrennt und ist in den Untergrund gegangen. Das weiß ich bereits, dann bin ich eingeschlafen."

Mit 84 Jahren ist sie geistig topp fit. Und auch körperlich ist sie in bester Verfassung. Gerade eben erst wurde sie von ihrer Behindertensportgruppe geehrt. Seit dreißig Jahren geht sie jeden Mittwoch Schwimmen.

"Da schwimmt mir noch keiner davon, trotz meiner 84 Jahre."

Trotz ihrer geistigen und körperlichen Fitness. Ihrem Augenleiden musste sie Tribut zollen. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie einen großen Teil ihres Verkaufssortiments aufgegeben. Im Hinblick auf Schreibwaren, Bücher und Spielsachen war auch die Supermarkt-Konkurrenz viel zu mächtig geworden. Und obendrein fehlt es an Kindern.

"Die Leute bekommen doch keine Kinder mehr. Das ist doch ein Witz. Früher waren in den Jahrgängen hier über 20 Kinder. Und jetzt auf den ganzen Dörfern ein Kind, im folgenden Jahr drei Kinder, da hab ich für mich gedacht, was werden das für Schuljahrgänge? Sie können ja keine Lehrerein hinstellen für ein Kind. Die Kinder werden jetzt nach Steinberg gefahren. Da sind Sachen, die man einsehen muss."

Das Geschäft mit den Zigarettenautomaten hingegen hielt Frau Piroth bis vor etwa vier Jahren. Automaten sorgten lange Zeit für stabile Umsätze. Der Umgang mit den technisch aufgerüsteten Automaten wurde der alten Dame jedoch viel zu kompliziert, sie übergab sie deshalb an ihren Händler. Früher bezog sie Rauchwaren direkt von den Herstellern, heute liefert Heinz Hahn auch kleinste Mengen an sie aus. Um Punkt 14 Uhr steht er im Laden mit dreieinhalb Stangen Zigaretten und ein wenig Tabak.

"Der rote Tabak geht, was ist ähnlich? Der blaue?"

Einer ihrer Tabakkunden war in Spanien, hat da eine andere Sorte geraucht. Sie versucht seinen Geschmack zu treffen. Vergangene Woche ließ sie sich von Heinz Hahn eine Auswahl mitbringen. Der Tabakwarenhändler sorgt sich derweil ums Rauchverbot. Es träfe ihn doppelt, sagt er, denn schließlich leide das Geschäft in der Gegend bereits unter der räumlichen Nähe zu Luxemburg. Dort seien die Rauchwaren viel günstiger zu haben.

"Die Preisdifferenz … ja, das ist eine Menge."

All das sei Politik, meint Frau Piroth, da will sie sich lieber raushalten. Es werde hin und wieder schon ein wenig "politisiert" im Laden. Wenn sich - wie heute Vormittag - die Richtigen träfen.

"Was da für Politik gemacht wird, da redet sie weniger drüber. Wir haben halt schon öfter die Rede davon, was sie falsch machen und was sie richtig machen können …"
"Was die CDU verkehrt macht, die Große Koalition - da sind wir nicht immer zufrieden damit. Müsste manches besser gemacht werden."
"Ist einiges, was nicht so richtig läuft, Auch in der Dorfpolitik gibt es viel, was nicht so richtig läuft und was falsch gemacht wird."

Seit Jahrzehnten ist Maria Piroth eine Art Kummerkasten im Ort. Sie habe viel gehört, zuweilen die intimsten Dinge. Aber sie habe stets nach der Devise verfahren: Zuhören – ja, einmischen - nein".

"Interessant ist das schon. Ich denke oft, Psychologe und so, dies wär schon was. Interessanter Beruf. Oder nicht?"
"Es klingelt."

Es klingelt, die Pflicht ruft, es bleibt keine Zeit, dem Gedanken nachzuhängen. Die alten Herrschaften im Dorf brauchen ebenso wie Frau Piroth den Kontakt, auch wenn im Laden das Geld nur mehr gewechselt und nicht mehr verdient wird.

"Ja, ja, und wenn sie mal nicht mehr ist, dann oh weh ...! Ich muss, der Enkelsohn wartet."

Krank war sie nie, allenfalls am Wochenende, Urlaub kennt sie auch keinen. Und was Kunden und Freunde von ihr erwarten, haben sie in Versform gebracht.

"Bleib noch lang an deinem Platz, Du bist ja unser Zeitungsschatz."