Tanken beim Pastor

Von Martin Wolter · 01.06.2013
In vielen kleinen Gemeinden schrumpft die Bevölkerungszahl, immer mehr Menschen wandern ab. Wie kann die Kirche darauf reagieren? Auf einer internationalen Tagung in Greifswald gab es auf diese Frage einige originelle Antworten.
Immer weniger Pfarrer versorgen immer weniger und ältere Mitglieder in immer größeren Gebieten. Jahrzehntelang reagierten die Kirchenleitungen auf Mitgliederschwund und Alterung mit der Zusammenlegung von Gemeinden. Dabei übersehen wurde, dass eine geringere kirchliche Präsenz nur zum Verlust weiterer Mitglieder führt.

Seit 2004 versucht das Greifswalder "Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung" gerade auch für die Kirche auf dem Land Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

Getragen von verschiedenen Landeskirchen, wird es geleitet vom Ordinarius für Praktische Theologie an der Universität Greifswald, Prof. Michael Herbst.

"Wir haben uns diesem Thema ‚ländliche Räume‘ vor vier Jahren zugewandt, weil wir den Eindruck hatten, dass viele Konzepte, die in der Kirche für die Entwicklung von kirchlicher Zukunft vorkommen, sehr städtisch geprägt sind. Unser Land besteht zu mehr als der Hälfte aus ländlichen Räumen, und hier zeigen sich viele Probleme, die wir gesellschaftlich haben, aber auch kirchlich, in besonders klarer Weise. Uns hat auch motiviert zu sehen, wie Institute wie das Berlin Institut darauf aufmerksam machen, dass manche peripheren ländlichen Räume wirklich in eine prekäre Lage geraten – und ich bin der Meinung, dass kirchliche Verantwortung immer auch einen Blick haben muss für sonst übersehene, vergessene oder an den Rand geschobene Menschen, Situationen und Lebenslagen, und deshalb finde ich, dass es ein extrem spannendes Thema ist."

Nicht die sinkenden Geburtenzahlen, sondern auch die Veränderung der dörflichen Strukturen verschärfen die Probleme der Kirchen auf dem Land. Dazu Prof. Gerhard Henkel, Geograph an der Universität Duisburg-Essen:

"Das Dorf hat sich seit den 1950er-Jahren ganz gravierend geändert – vor allen Dingen in Bezug auf die Arbeitsplätze. Die Dorfbewohner um 1950 haben alle im Dorf gearbeitet. Das ist Geschichte: Heute ist es so, dass ein Großteil der Dorfbewohner auspendelt, zum Arbeiten, in die Schule, zum Einkaufen oder um ins Krankenhaus zu gehen. Dies wickelte sich früher in den größeren Dörfern selbst ab. Es gibt Dörfer, die haben mehr Arbeitsplätze als Erwerbstätige, das sind prosperierende Regionen in Baden-Württemberg oder auch in Ostwestfalen, im Raum Osnabrück/Cloppenburg, und es gibt andere Regionen, wo 90 Prozent der Erwerbstätigen das Dorf verlassen. Gerade in den neuen Bundesländern fehlen doch in vielen Dörfern die nicht-landwirtschaftlichen Arbeitsplätze."

Oft übernehmen Ehrenamtliche die Kernaufgaben des Pfarrers
Auch wurde in den neuen Bundesländern nicht gelernt aus den Fehlern, die in westdeutschen Gebietsreformen gemacht wurden. Nach dem Wegfall der Eigenständigkeit und der Abwanderung von Bürgeramt, Schule, Arzt und Geschäften ist die Kirche oft die einzige verbleibende Institution dörflicher Struktur im Ort – und letzter Pfeiler für die "Würde eines Dorfes".

Henkel: "Zunächst schien es so, dass man aus den Fehlern, die im Westen gemacht wurden, gelernt hat. Man hat die vorhandenen kleinen Gemeinden respektiert sie verwaltungsmäßig zu Ämtern oder Verwaltungsgemeinschaften zusammengeführt. Aber es war ein Trugschluss, nach und nach hat auch in den neuen Bundesländern die Idee der Großgemeinde immer mehr fußgefasst hat, mit dem Ergebnis, dass dort auch das Ehrenamt weitgehend aus den Dörfern beseitigt worden ist."

In den Gemeinden gewinnt daher die Arbeit von Ehrenamtlichen stark an Bedeutung, die oft auch Kernaufgaben des Pfarrers übernehmen – wie insbesondere die Ausbildung von Prädikanten zur selbständigen Gottesdienstleitung in verschiedenen Landeskirchen zeigt. Mit dem Verschwinden anderer dörflicher Vereine wie Feuerwehr, Sport- und Schützenverein gewinnt das kirchliche Ehrenamt auch als Stützpfeiler der Zivilgesellschaft an Bedeutung.

Und die Ehrenamtlichen befinden sich auch zahlenmäßig im Aufwind, wie Susanne Prill von der Ehrenamtsakademie Rostock weiß.

"In Mecklenburg gibt es tatsächlich eine leicht steigende Tendenz bei den Ehrenamtlichen, aber wir diskutieren hier ja auch gerade, dass es um die Verteilung geht, wer engagiert sich für was, wofür brennt mein Herz, wofür will ich mich engagieren - das ist ja das Thema Ehrenamt, das wir auch bewegen."

Gerade in den ländlichen Gebieten der neuen Bundesländer wird die Kirche mit enormen sozialen Problemen konfrontiert – und zurückgeworfen auf die Grundfrage kirchlichen Handelns.

Wenn die Feste des Kirchenjahrs keine Unterbrechung vom Arbeitsalltag mehr bedeuten, weil schon vor 20 Jahren alle Jobs in der Landwirtschaft weggebrochen sind, der Pfarrer Phon und Antiphon singt, weil die Tradition des Wechselgesangs zu lange nicht gepflegt wurde - dann geht es auch darum, wie Kirche sein soll. Und was Verkündigung bedeutet unter diesen Umständen.

"Unser Verständnis von Mission ist vielleicht zu gucken, was haben wir als Kirche eigentlich für einen Auftrag in der Region. Was haben wir für einen Auftrag im ländlichen Raum, wenn es darum geht, dass Menschen wegziehen, dass Menschen arbeitslos sind, dass die Kinder wegziehen und nicht zurückkommen, dass es eine gewisse Hoffnungslosigkeit gibt im ländlichen Raum. Wie kann ich Menschen ermutigen, sich für ihr Dorf einzusetzen, dass es im Dorf weitergeht, zum Beispiel der Schulbus wieder fährt, man einen Dorfladen hat – dann ist das auch Auftrag."

Unkonventionelle Ideen aus Schweden und Großbritannien
Mission – mit diesem Wort brechen auch alle Kontroversen innerhalb der praktischen Theologie auf, nachdem in der Bestandsaufnahme weitgehend Einigkeit herrschte.

Der Gastgeber ist davon nicht überrascht, ist der Begriff doch historisch aufgeladen.

Herbst: "Das ist eine Last, die wir als Kirche wahrscheinlich nie wieder loswerden. Der Missionsbegriff, ich sag manchmal gern das ‚M-Wort‘, ist so schwer beschädigt. Wir verstehen Mission zunächst einmal sehr elementar als die Tatsache, dass die Kirche nicht für sich selbst da ist, sondern dass sie in die Welt gesandt ist, in die Gesellschaft zu den Menschen und für die da zu sein hat. Was dieses Dasein dann bedeutet, kann sehr unterschiedlich sein.

Wer von seinem Glauben überzeugt ist und ihn als eine heilsame Kraft in seinem Leben erfahren hat, der wird auch von seinem Glauben immer gerne erzählen, und er wird sich wünschen, dass andere auch erleben können, was er auch erlebt hat – aber in der Form der Bitte, in der Form des Angebotes. Und es geht auch nicht immer, dass in einem missionarischen Kontext gleich ‚vom Reden‘ die Rede wäre, sondern es geht oft einfach darum, Menschen in ihrem Lebensumfeld so zu dienen, wie sie es gerade brauchen. Manchmal tut sich dann eine Tür auf zum Gespräch über den Glauben und manchmal nicht. Sinnvoll war es in beiden Fällen."

Calvins Aussage von der "Kirche als Pflanzschule des Glaubens" gewinnt hier umso mehr an Bedeutung, da auch eine noch so aktive Arbeit für die dörfliche Gemeinschaft einseitig sein kann - wenn auf Verkündigung und Stärkung des Glaubens verzichtet wird.

Die Konferenz wollte auch Einblick geben in die Situation ausländischer Kirchen. Dabei wurden aus Schweden und Großbritannien auch unkonventionelle Ideen kirchlichen Handelns gezeigt, dörfliche Gemeinschaft zu erhalten und die Lebensqualität auf dem Land zu stärken.

Nicht unüblich sind nach der Ausdünnung des Filialnetzes der Royal Mail Postannahmestellen in den Gemeindehäusern - und sogar der Betrieb von Tankstellen, nachdem sich die großen Konzerne aus einigen Gegenden zurückgezogen haben.

Von der Situation in den USA berichtete Prof. Shannon Jung vom Predigerseminar St. Paulus in Kansas City - und sieht Gemeinsamkeiten.

"Während dieser Woche lernte ich, wie sehr sich die Probleme auf dem Land in den USA und Deutschland gleichen. Genauso gab es einen theologischen Grundtenor, den ich als sehr hilfreich erlebte: Gott ist wirksam auf dem Land und es ist unsere Aufgabe als Pfarrer und Theologen auszulegen, was dort passiert."

Die in allen Landeskirchen bevorstehende Pfarrer-Pensionswelle zwingt die Kirche Antworten zu finden - wenn der Kirchturm im Dorf nicht nur noch eine potemkische Kulisse sein soll.