Tangofestival in Finnland

Eng umschlungen durch helle Nächte

Ein eng umschlungenes Paar beim Tango-Tanzen, aufgenommen in Köln
Tango sei "Tanztherapie für die Seele", heißt es. © imago/Felix Jason
Von Michael Frantzen · 29.07.2018
Eine Woche lang wird im finnischen Seinäjoki getanzt, getanzt, getanzt: von morgens bis abends und auch die Nacht hindurch. Ob man zum ersten Mal mitmacht oder Profi ist, das ist beim Tangofestival egal. Hauptsache man spürt die Leidenschaft des finnischen Tangos.
Da soll noch einer sagen, Finnen seien zurückhaltend: Die Stimmung ist ausgelassen – beim Startschuss des Tangomarkkinat – des Tango-Festivals. In Seinäjoki, der inoffiziellen Tango-Hauptstadt Finnlands.
"Du kannst mittanzen, zuhören oder sonst was machen beim Tango. 17, 18 Stunden am Tag. Zurzeit wird es ja fast nicht dunkel."
Wie immer hat es sich Festival-Leiter Kalle Lähdesmäki nicht nehmen lassen, den Tangomarkkinat zu eröffnen. Der quirlige Typ mag das. Oben auf der Bühne zu stehen, die Parade durch die Stadt anzuführen, das Publikum anzuheizen.

"Es ist eine tolle Atmosphäre"

Seit 1985 gibt es das Tango-Festival, finnischen Tango noch viel länger. In den 20er-Jahren öffneten die ersten Tanzhallen, die Tango spielten. Kalle nickt. Seine Großeltern sind da auch hingegangen.
Langsam füllt sie sich – die Tangokatu, die Tangostraße. Jenni und Jonas müssen sich erst einmal einen Überblick verschaffen. Sie schlendern an verschiedenen Buden entlang, Richtung Tanz-Zelt. In aller Herrgottsfrühe ist das junge Pärchen losgefahren, aus der finnischen Hauptstadt Helsinki. Sechs Stunden im Auto. Jenni strahlt. Hat sich gelohnt.
"Es ist eine tolle Atmosphäre. Alle sind entspannt und genießen die Musik."
"Die Atmosphäre ist wirklich besonders. Ich war schon auf einigen Sommer-Festivals, aber das Tango-Festival ist einzigartig. Zwei Freunde von uns machen beim Finale des Tanz-Wettbewerbs mit. Da wollen wir jetzt hin. Wir wollen sie anfeuern. Es sind ein Mädel und ein Typ."

Langsam könnte es etwas werden: Aaro, Jonas' Freund, schaut nervös zu Mia. Ihre Startnummer 44 war wieder nicht dabei. Beide machen beim Tanz-Wettbewerb mit. Er im schwarzen Anzug und weißem Hemd, sie im blauen Kleid. Tango tanzen sie noch nicht so lange, Gesellschaftstänze dafür umso länger. Walzer, Foxtrott, das volle Programm. In seiner Familie, erzählt Aaro, während er die Tanzfläche beäugt, tanzen alle: die Mutter, der Bruder, die Schwester. Als Teenager hat er sechs Mal die Woche trainiert. Bis er die Nase voll hatte – vom starren Reglement. Und finnischen Tango entdeckte.
"Tango ist entspannter als Standard-Tänze, weniger kompliziert. Die Musik steht im Vordergrund. Richtig gute Paare lassen sich von der Musik tragen."
"Beim Tango hast du viel mehr Freiheiten. Du kannst improvisieren. Ich lasse mich von Aaro einfach leiten. Bei Gesellschaftstänzen gibt es ja immer eine ausgeklügelte Choreografie. Beim Tango ist das anders."
Tänzer beim Tango-Festival im finnischen Seinäjoki (2018)
Die Straße wird zu einer großen Tanzfläche.© Michael Frantzen

Die Musik fühlen und spüren

Es hat nicht sein sollen: Im Viertelfinale ist Schluss für Mia und Aaro, die Konkurrenz zu groß. Artur Pätijalla und die anderen Punktrichter kennen da kein Erbarmen. Der 34-jährige Profi-Tänzer hat sich fleißig Notizen gemacht: Ausdruck, Rhythmus-Gefühl, Tanzschritte – fließt alles in die Bewertung ein.
"Es war großartig, die ganzen tollen Tänzerinnen und Tänzer zu sehen. Vielen hast du angemerkt, wie sehr sie das alles genossen haben: die Musik und die Atmosphäre. Genau darum geht es beim finnischen Tango. Es ist mir schwer gefallen, mich für ein Paar zu entscheiden. Das wichtigste ist, dass du den Paaren ansiehst, dass sie die Musik fühlen, spüren. Das ist das entscheidende Kriterium."
Artur ist ein gefragter Mann beim Tango-Festival. Er fungiert nicht nur als Punktrichter, sondern auch als Trainer, für Laien und Profis gleichermaßen. Fünf Tage steht er im Mittelpunkt: Für ihn kein Stress. Sondern das reinste Vergnügen. Besonders, wenn er das zukünftige Tango-Königspaar unter seine Fittiche nehmen kann.

"Tango ist wie Laufen. Du tanzt nicht, du läufst"

Glamourös ist sie nicht gerade – die Aula der Grundschule in Seinäjoki. Dafür groß genug für eine Tango-Probestunde. Mit Engelsgeduld weisen Artur und Annarina, seine Mitstreiterin, die zwölf Teilnehmer in die Wunderwelt des finnischen Tango ein: Jeweils sechs Musikerinnen und Musiker. Zwei von ihnen werden am Sonntag zur Tango-Königin und zum Tango-König gekürt.
"Wir versuchen, ihnen das A und O des finnischen Tangos beizubringen. Einige werden ja höchstwahrscheinlich zum ersten Mal Tango tanzen. Tango ist wie Laufen. Du tanzt nicht, du läufst. Langsam, schnell, immer abwechselnd."
"Finnischer Tango ist leidenschaftlich. Einem guten Tango-Tänzer siehst du die Leidenschaft an. Es geht nicht um irgendwelche komplizierten Schrittfolgen. Die Leidenschaft: Das ist das entscheidende."
Das mit der Leidenschaft klappt bei Raisa Lainen – einer der potenziellen Tango-Königinnen – schon ganz gut. Kein Wunder: Die Mittdreißigerin tanzt nicht zum ersten Mal Tango. Das letzte halbe Jahr war sie quasi im Dauereinsatz in Finnlands Tanzhallen. Hoch im Norden in Lappland, im Osten an der russischen Grenze: Überall sang und tanzte sie. Um die Seele des Tango zu verstehen. Und sich selbst eine gute Ausgangsposition zu verschaffen.
"Beim Tango können wir uns näher kommen. Wir Finnen sind ja normalerweise schüchtern, ein bisschen gehemmt. Es fällt uns schwer, uns zu öffnen. Beim Tango gibt es keine Hemmschwellen. Ich glaube, das ist ein Grund, warum Tango in Finnland so beliebt ist. Diese Nähe. Und natürlich die Leidenschaft. Wenn wir Tango tanzen, sind wir keine Finnen."

Raisa hat sich an den Rand der improvisierten Tanzfläche gestellt. Eine kurze Verschnaufpause, bevor es weitergeht mit dem Training. In den letzten zwei Jahre war beim Tango-Festival Land unter. Dauerregen. Doch dieses Jahr: Sonne pur.
Paare aller Alterklassen verwandeln Anfang Juli 1997 während des traditionellen dreitägigen Tango-Festivals die Straßen der finnischen Stadt Seinäjoki in eine riesige Tanzfläche.
Schon in den 90ern wurde beim Tango-Festival in Seinäjoki leidenschaftlich getanzt.© Lehtikuva Oy
Die ausgebildete Opernsängerin wischt sich den Schweiß von den Armen. Seit zwei Jahren dreht sich bei ihr alles um finnischen Tango. Wenn man so will, hat die Frau mit dem langen schwarzen Haar aus einer Not eine Tugend gemacht: Eigentlich wollte sie Opern singen: Wagner, Puccini, in Helsinki, an der Nationaloper. Deshalb auch ihr Musik-Studium.

Bloß nicht nach Mozart klingen

Doch mit Ende 20 musste sie sich eingestehen, dass das mit der Opern-Karriere in Finnland nichts werden würde. Die Konkurrenz zu groß, die Engagements zu selten. Deshalb sattelte sie um. Von Opern-Diva auf Tango-Queen.
"Ich musste hart an mir arbeiten, um nicht mehr wie eine Opernsängerin zu klingen. Es hat zwei Jahre gedauert. In Finnland wird immer noch strikt zwischen klassischer Musik und Unterhaltungsmusik getrennt. Du darfst die Genres nicht mischen. Wobei: Wenn Männer Tango-Lieder mit einem Opern-Einschlag singen, ist das ok. Letztes Jahr zum Beispiel: Der Gewinner des Tango-Festivals: Dem hast du sofort angehört, dass er von der Oper kommt. Alle fanden das toll. Er hat ja auch eine großartige Stimme. Als Frau geht das nicht. Das musste ich auch erst lernen und akzeptieren."
"Die Leute mögen es einfach nicht. Sie erwarten von einer finnischen Tango-Sängerin, dass sie eine dunkle, weiche Stimme hat. Ich bin Mezzosopran: Ich kann dunkel singen. Aber eben auch kristallklar. Da musste ich wirklich sehr an mir arbeiten, um das loszuwerden. Dass ich nicht zu sehr nach Mozart klinge."
Mit Mozart hat Marti Habamäki, einer der Juroren des Gesangs-Wettbewerbs, noch nie viel am Hut gehabt. Nicht seine Welt. Miami Vice schon eher. Der 68-Jährige sieht aus, als sei er gerade der 80er-Jahre-Kult-Serie entsprungen: Schnauzbart, aufgeknöpftes schwarzes Polyester-Hemd mit Schlangen-Motiv, Goldarmband an der rechten Hand.
"Ich bin hergekommen, um mir anzuschauen, wie die Wettbewerber auf die Situation reagieren. Sie sind ja keine Profi-Tänzer. Es ist interessant zu sehen, wie sie damit umgehen. Als Tango-Sänger singst du für die Tanzenden. Deshalb solltest du als Sänger auch ein bisschen tanzen können."
In Finnlands Tanz-Szene ist Marti eine feste Größe. "Tango. Humpa. Foxtrot. Waltz" beherrscht er aus dem Effeff. Seine Stärke aber ist Tango, finnischer Tango.
"Ja, ja. Ich bin allerdings nie finnischer Tango-Meister geworden, das nicht. Zwei Mal wurde ich Zweiter, zwei Mal Dritter. Es war immer knapp. Ich hätte gewinnen können. Ja, ja, auf jeden Fall."

"Tango sieht einfach aus. Doch das täuscht"

Tango tanzt Marti schon eine halbe Ewigkeit. Mit 14 hat er anfangen.
"Ich tanze wie ein Skater. Wenn du es nicht wüsstest, würdest du denken, ich skate über das Parkett. Alles ist fließend. Ich verrenke mich nicht. Es lag mir einfach – von Anfang an. Ich mag es, so zu tanzen."
In seiner aktiven Zeit hat Marti viel trainiert. In der Spitze sieben Mal die Woche. Ganz schön anstrengend – zumal da noch sein Job war – als Manager eines Energieunternehmens.
"Tanzen ist eine Super-Sportart. Du brauchst Ausdauer, besonders wenn du gut tanzen willst, über viele Stunden. Tango sieht einfach aus. Doch das täuscht. Je mehr du lernst, desto komplizierter und anstrengender wird es. Du musst fit sein, um das, was du gelernt hast, auf die Tanzfläche zu bringen."
Inzwischen tritt Marti kürzer, tanzt nur noch zum Vergnügen. Am liebsten mit seiner Frau. Er lacht. Schon ein bisschen klischeehaft: Er hat sie in einer Tanzschule kennengelernt. Harmoniert ganz gut – im Leben und auf der Tanzfläche gleichermaßen.
"Es ist wichtig, sehr wichtig, gerade beim finnischen Tango. Du tanzt ja engumschlungen. Mann und Frau sind eins. Das ist beim argentinischen Tango anders. In Argentinien tanzen sie eher getrennt. Ich weiß noch: Als ich das erste Mal Tango-Pärchen in Buenos Aires sah, war ich vollkommen verblüfft. Der Mann macht seine Schritte – und die Frau ihre. Sie haben kaum Körperkontakt. Wir Finnen tanzen eng umschlungen."

Verschiedene Tanzpartner, verschiedene Emotionen

Ein neuer Tag, eine andere Ecke des Festivals. Und damit zu Toni Suonsu. Auch er: ein Tango-Begeisterter. Ein gestresster. Muss sein Chef von der Tanzschule ausgerechnet kurz vor Feierabend anrufen, um zu fragen, ob er noch eine Stunde länger bleiben könne. Am Stand der Tanzschule im Tanssitalo, der Tanzhalle. Der durchtrainierte Typ verzieht das Gesicht. Eigentlich war er schon so gut wie startklar, um selbst tanzen zu gehen.
"Wir wechseln ständig den Tanz-Partner. Das gehört sich so beim finnischen Tango. Natürlich gibt es Typen, die nur mit ihrer Frau tanzen. Doch das ist die Ausnahme. Der Partnerwechsel ist Teil unserer Tango-Kultur. Du kannst mit verschiedenen Partnern verschiedene Emotionen erleben. Ich kann mir schon vorstellen, dass das auf Außenstehende komisch wirkt. Aber hier beim Tango-Festival ist es völlig okay, eine wildfremde Frau zum Tanz aufzufordern. Jeder weiß, wie das gemeint ist."

"Finnischer Tango ist abwechslungsreicher"

Wie die meisten hat Toni früh angefangen zu tanzen. Der 50-Jährige überlegt kurz: 14, 15 muss er da gewesen sein. Sein Vater schenkte ihm zum Geburtstag ein Akkordeon – und meinte nur: So, jetzt lern mal ein paar Lieder, damit wir dazu Tango tanzen können.
"Finnischen Tango – klar. Ich tanze auch argentinischen Tango, aber am meisten mag ich finnischen Tango. Ich kann dir gar nicht genau sagen warum. Finnischer Tango kann alles Mögliche sein: dramatisch, traurig, liebevoll. Argentinischer Tango kommt mir eintöniger vor. Finnischer Tango ist abwechslungsreicher."
Toni schaut auf sein Smartphone: eine halbe Stunde noch, dann kann er endlich runter in die Tanssitalo. Tagsüber geben Tango-Lehrer in der Tanzhalle Unterricht. Abends ist die Fläche offen für alle. Gestern hat Toni spaßeshalber auch eine Tanzstunde genommen in seiner Mittagspause, nur um zu schauen, welche Kniffe der Tango-Lehrer drauf hatte.
"Es ist anstrengend. Das ist das gute daran. Es ist wie eine Trainingseinheit. Du tanzt und spürst den anderen – und gleichzeitig bewegst du dich. Im Fitness-Studio bist du ganz alleine und kannst höchstens mit dem Eisen reden."

Das Warten, es hat ein Ende. Toni packt die Werbebroschüren und Kugelschreiber zusammen. Feierabend. Schnellen Schrittes läuft der Tango-Begeisterte den Gang entlang, Richtung Treppenhaus. Ein paar Minuten noch – und seine Trainings-Einheit kann beginnen.
"Ich tanze bis tief in die Nacht. Normalerweise habe ich noch nicht einmal Zeit für eine Kaffeepause. Es ist wie Marathon. Ich tanze von acht Uhr abends bis um eins, ohne Unterbrechung, die ganze Nacht. Es ist die beste und sozialste Sportart, die du dir vorstellen kannst."
Die Uhr der berühmten Alvar-Aalto-Kirche am Rande des Tango-Festivals: Sie zeigt auf kurz vor Mitternacht. Die Tangokatu ist immer noch gut besucht. Es mögen gut 5000 Leute sein. Erst vor ein paar Minuten ist die Mitternachtssonne am Horizont verschwunden. Für Karolina Koskola heißt das: durchhalten.
"Wir haben bis zwei geöffnet. Ja, zwischen Mitternacht und eins kommt meist noch ein letzter Schwung Kunden, danach packen wir langsam ein."
Zusammen mit ihrer Mutter betreibt die 25-Jährige in Oulu, der finnischen Hafenstadt im Norden, ein Geschäft für Tanz-Utensilien. Nach Seinäjoki kommen sie schon seit vier Jahren. Lohnt sich, meint die Frau mit den Tattoos.
"Wir führen ein paar Extra-Tango-Schuhe im Sortiment. Die Modelle für Frauen sind eher schmal, mit schmalen Absätzen. Die kosten zwischen hundert und hundertfünfzig Euro. Bei den Farben dominieren Schwarz und Rot. Für die Männer gibt es eigentlich keine Extra-Tango-Schuhe. Das sind Allround-Schuhe. Da gibt es keine großen Unterschiede."
Ein Paar tanzt Tango auf der Straße beim traditionellen Tango-Fest in Seinäjoki, Finnland, aufgenommen 1998.
Jeder Tanzpartner - eine andere Emotion: ein Paar beim Tango-Fest in Seinäjoki 1998. © Lehtikuva/ Tor Wennström/ dpa

Erfanden finnische Bauern den Tango?

Wer mehr erfahren will über die DNA des finnischen Tangos, ist bei Kalle Lähdesmäki an der richtigen Adresse. Der Festivalleiter hat sich auf seinen Stammplatz verzogen: Hinten rechts im Pressezentrum, direkt am Fenster. Von hier hat er alles im Blick. Kalle kann stundenlang über die Ursprünge des finnischen Tangos referieren. Gibt da verschiedene Erklärungen.
Die klassische lautet: Tango hat über Argentinien seinen Weg nach Finnland gefunden. Klassisch, aber langweilig, meint Kalle. Besser gefällt ihm schon die Geschichte von Toivo Niskanen. Der legendäre finnische Ballett-Tänzer soll den Tango angeblich in Paris entdeckt und nach Finnland gebracht haben. Schon interessanter.
Doch seine absolute Lieblingsgeschichte – Kalle grinst – ist die, die Aki Kaurismäki, der finnische Filmemacher, immer zum Besten gibt. Danach haben gar nicht Argentinier den Tango im 19. Jahrhundert erfunden, sondern finnische Bauern, die damit Wölfe abschrecken wollten. Erst Jahrzehnte später sollen finnische Seeleute die Klage-Musik nach Südamerika gebracht haben.
"Seine Blütezeit erlebte der finnische Tango in den 40er-Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis Ende der 70er war die Tanz-Kultur noch sehr ausgeprägt. Dann kam Disko. Die jungen Leute gingen zum Tanzen nicht mehr in Tanz-Hallen oder auf Festivals, sondern in Diskos. 1985, als das Tango-Festival in Seinäjoki an den Start ging, gab es drei Mal so viele Sommer-Tanz-Festivals wie heute. Uns gibt es immer noch. Wir haben hart gearbeitet – und uns Partner gesucht. Wir kooperieren mit den großen Tanzschulen Finnlands. Unser Hauptpublikum sind Erwachsene jenseits der fünfzig: Paare, Singles, Familien, die Spaß haben wollen."
Kalle macht einen zufriedenen Eindruck. Kein Wunder: Die Besucherzahlen stimmen. Über hunderttausend Gäste dürften es dieses Jahr wieder werden. Das ist zwar weniger als zu Spitzenzeiten Ende der 80er, aber mehr als Mitte der 2000er, als das Festival in einer Krise steckte.
"Es ist ein sehr schwieriges Geschäft, die Konkurrenz hart. In Finnland finden jährlich 250 Festivals statt. Jedes Jahr gehen 20 bis 30 Festivals Pleite. Ständig drängen neue auf den Markt. Wir sind zwar ein großes Festival, aber wir können uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Dann wären wir weg vom Fenster. Du musst dich ständig erneuern, innovativ sein. Ich habe mir viel von den Biathlon-Wettbewerben abgeschaut. Biathlon ist mein zweites großes Faible, neben dem Tango. Die Biathlon-Wettbewerbe sind inzwischen richtige Spektakel. Du musst deinem Publikum etwas bieten und gut organisiert sein. Diesen Winter habe ich mir angeschaut, wie es die Organisatoren der Biathlon-Wettbewerbe schaffen, dass es trotz 50.000 Zuschauern kaum Schlangen gibt."

Gekrönte Häupter auf der Tanzfläche

Die Tango-Extravaganza – die finnische – sie geht weiter. Eija und Jana haben sich in Schale geschmissen: weißer Rock, blaue Bluse mit Blümchen-Muster, wie immer im Partner-Look.
"Wir sind Schwestern. Ich glaube, wir sind zum sechsten Mal hier. Sechs, sieben Mal: Das müsste hinkommen. Das Festival ist toll. Wir tanzen gerne. Am liebsten Tango. Okay, jetzt müssen wir los."
Tango-Laien in der Tangokatu. Und Profis bei der großen TV-Show in der Kisa-Areena. In Seinäjoki geht das Hand in Hand.
Freitag-Abend, kurz vor halb acht. Es ist Show-Time – für Teijo Lindström und Aino Niemi – das Tango-Königspaar des letzten Jahres.
"Wir hatten die letzten zwölf Monate wirklich viel zu tun. Direkt nach dem Titelgewinn haben wir in zwei Wochen 14 Konzerte gegeben. So ging es eigentlich das ganze Jahr weiter, bis Weihnachten. Danach wurde es etwas ruhiger. Der Titel hat meiner Karriere einen Schub gegeben. Ich konnte richtig durchstarten."
Am Mittwoch ist Aino angereist, pünktlich zur Eröffnung des Festivals. Ihre Tage in Seinäjoki sind straff durchgetaktet. Auftritte, Interviews, Meet-and-Greet-Geschichten. Sonntag dann ist Schluss mit dem Festival und ihrem königlichen Dasein. Noch einmal antreten darf sie nicht, das verbietet das Reglement. Die Tango-Krone bekommt dann ihre Nachfolgerin.

"Es geht um Freundschaft, Gefühle und Liebe"

Eines muss man den sechs Kandidatinnen um den Titel der Tango-Königin lassen: Singen können sie, alle. Die gemeinsame Gesangseinlage ist quasi das Warm-up, bevor es morgen um den Titel geht, einzeln. Sana Sassali ist gut gewappnet.
"Ich habe viel geprobt: die Lieder, die Texte, die Melodien – alles. Am wichtigsten sind die Gefühle. Du musst jedes Lied fühlen und dich auf die Geschichte einlassen."
Ihren Job als Krankenschwester hat Sana aufgegeben, um sich voll auf ihre Musikkarriere zu konzentrieren: ihren Auftritt in Seinäjoki. Das Risiko hat sich gelohnt. Die Frau aus Sodankylä, der Stadt in Lappland, holt den Titel. Die nächsten zwölf Monate darf sie als gekröntes Haupt durchs Land der Seen und Wälder touren – und Finnlands Tango verkörpern.
"Es geht um Gesellschaft, um Freundschaft, um Gefühle und Liebe. Es geht darum, dass sich Menschen treffen, viele Menschen. Und was verbindet alle? Der finnische Tango."
Tango-Königin ist auch Tuulikki Jervineri, eine stolze. Die 51-Jährige hat den Titel bei den Seniorinnen geholt – und dementsprechend: eine Krone auf dem Kopf.
"Ich habe Tango immer schon gemocht. Er berührt dein Herz. In meiner Familie haben wir viel Tango gesungen. Mein Vater war ein sehr guter Sänger."
Ihr Vater mochte die ganz traurigen Lieder am liebsten. Geht Tuulikki genauso. Ihr Gewinner-Lied handelt von einer verflossenen Liebe, den vergangenen Zeiten. Finnischer Tango – heißt es – ist "Tanztherapie für die Seele".
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