Talking about no revolution

Von Ruth Reichstein · 02.04.2012
Am Jahrestag der Revolution Ende Januar standen wieder Tausende Frauen auf dem Tahrir-Platz und riefen nach Freiheit. Tausende riefen im Internet zum Widerstand auf. Sie sind die wahren Verlierer der ägyptischen Revolution: 98 Prozent der Abgeordneten im neu gewählten Parlament sind Männer, nur zwei Prozent Frauen.
Gierig saugt der knapp drei Monate alte Selim an der Brust seiner Mutter. Marwa Seoudi sitzt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer im Kairoer Stadtteil Agouza und schaut glücklich auf ihren Sohn. Die 35-jährige Ägypterin hat lange gezögert, überhaupt Kinder zu bekommen, erzählt sie, während sie Selim über den Kopf streichelt.

"Aber als die Revolution angefangen hat, hatten wir so viel Hoffnung. Wir dachten, Ägypten wird ein besserer Ort zum Leben. Die Luft fühlte sich plötzlich anders an. Wenn man durch die Straßen lief, war es ein so besonderes Gefühl. Also haben wir beschlossen, ein Baby zu bekommen. Und ich habe viele Freunde, denen es genauso ging."

Einen richtigen Babyboom habe es in den vergangenen Monaten gegeben, sagt Marwa und lacht. Sélim heißt so viel wie der "Unversehrte" oder der "Friedliche". Ein Symbol.
Aber dann weicht die Freude aus dem Gesicht der jungen Frau.

"Als etwa die Hälfte meiner Schwangerschaft vorbei war, mussten wir feststellen, dass Ägypten sich nicht so schnell ändern wird. Jeden Tag sehen wir, dass das alte Regime noch immer an der Macht ist und die Polizei und die Politik bestimmt. Manchmal ist es sogar schlimmer als vorher. Mubarak ist zwar nicht mehr da. Aber es haben sich nur die Namen geändert."

Marwa Séoudi gehört zu den Frauen, die vor etwas mehr als einem Jahr das Mubarak-Regime gestürzt haben. Sie war wochenlang jeden Tag auf dem Tahir-Platz in der Kairoer Innenstadt, hat gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Freunden gegen das verhasste Regime angeschrieen.

Ein Jahr später geht sie nur noch selten zu Protesten. Sie trägt eine Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt, kein Kopftuch. Sie steht vom Sofa auf, legt Sélim in eine Tragetasche und geht mit ihm in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen. Die großen Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Und zurzeit ist ihr vor allem eines wichtig: die Gesundheit und die Versorgung ihrer kleinen Familie.

Das Teewasser kocht. Marwa schüttet es über einen Beutel in ihrer Tasse.

"Es gibt auch in Ägypten so etwas wie Mutterschutz. Wenn Du für die Regierung arbeitest, bekommst Du bis zu zwei Jahre bezahlt. Aber ich arbeite selbstständig als Projektmanagerin - vor allem mit Künstlern. Für uns gibt es so etwas nicht. Ich verdiene nicht viel. Aber das Leben ist ok. Wir gehören zur Mittelklasse - dank unserer Eltern. Dieses Gebäude, in dem wir wohnen, gehört meinem Vater. Wir müssen keine Miete bezahlen. Manchmal bezahlt er sogar unseren Strom. Und meine Mutter kocht jeden Tag für uns. Das ist wirklich perfekt. Meine zwei Schwestern leben auch hier. Wir haben wirklich großes Glück."

Deshalb kann es sich Marwa Séoudi leisten, ein paar Monate mit Sélim zu Hause zu bleiben.

Ihr Mann Mohammed kommt nach Hause, gibt seiner Frau einen Kuss auf die Wange und knuddelt Selim. Der 39-Jährige gestaltet Theaterräume, macht Lichtinstallationen für Bühnen und Künstler. Viel Geld bringt das auch nicht, sagt Marwa. Ohne die Eltern könnten sie sich ihre Wohnung nicht leisten. Eine ihrer Schwestern wollte kürzlich ausziehen, aber sie fand keine Bleibe, die sie bezahlen konnte und blieb.

Als die Revolution anfing, hatte Marwa Angst, ihre Eltern könnten sie aus der Wohnung werfen. Viele ihrer Freunde machten diese Erfahrung. Aber sie hatte Glück:

"Den meisten Eltern machte die Revolution große Angst. Wir hatten viele Freunde hier bei uns, die nicht mehr nach Hause gehen konnten, weil sie sonst richtigen Ärger bekommen hätten. Ihre Eltern waren so sehr an das System gewöhnt. Sie haben geglaubt, was die Medien verbreiteten: Dass die Revolution vom Ausland gesteuert wird und schlecht ist für unser Land. Aber meine Mutter hat viel mit mir und meinen Freunden geredet. Wir haben ihr die Videos im Internet gezeigt und damit haben wir sie überzeugt, dass wir für eine gute Sache kämpfen."

Marwa und Mohammed setzen sich zurück auf das Sofa und machen den Fernseher an. Ihre Wohnung besteht aus dem Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad. Heizung gibt es keine. Seit der Geburt von Selim haben sie sich einen kleinen Elektroheizkörper gekauft, damit das Baby nicht friert in der Nacht.

Und damit geht es der kleinen Familie noch gut. In Kairo leben über 60 Prozent der 22 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. Das heißt, sie haben weniger als zwei Euro am Tag zum Leben. Mindestens zwei Millionen Menschen sind arbeitslos. Ein staatliches Sozialsystem gibt es nicht. Auch Marwa hat keine Krankenversicherung. Für die Geburt ihres Babys mussten ihre Eltern ein privates Krankenhaus bezahlen. Die Regierung subventioniert lediglich Brot und Benzin. 2011 flossen allein 1,5 Milliarden Euro in Energiesubventionen. Ein Brot in der Kairoer Innenstadt kostet nur sechs oder sieben Cent. Trotzdem können es sich viele kaum leisten. Die Revolution, sagt Mohammed, interessiert diese Menschen kaum. 50 Prozent der Ägypter können nicht einmal lesen und schreiben:

"Hier in Ägypten tatsächlich etwas zu ändern, ist unglaublich schwierig. All diejenigen, die nichts haben, interessieren sich nur dafür, wie sie etwas zu essen bekommen. Sie folgen denen, die sie versorgen - zum Beispiel den Moslembrüdern, weil sie Essen und auch Gas verteilen. Da ist es fast unmöglich, etwas zu ändern."

Ola Shahba glaubt immer noch daran - trotz aller Rückschläge. Die 34-jährige Frau sitzt im Café Le Gerilion in der Kairoer Innenstadt. Es ist später Nachmittag. Die meisten Holztische sind nicht besetzt. Im Fernsehen läuft ein Horrorfilm, aber dem schenkt Ola Shahba keine Beachtung. Sie sucht in ihrer Handtasche nach einem Feuerzeug, steckt sich eine Zigarette an.

"Es ist alles total aufregend. Natürlich ist es ein langer Weg. Aber vor ein paar Monaten war alles noch viel schwieriger. Wir haben uns nur auf den Tahir-Platz konzentriert und uns immer weiter isoliert. Die Bevölkerung hat angefangen, uns zu hassen, weil wir immer auf diesem Platz rumlungerten. Jetzt verändert sich das. Wir sind realistischer geworden. Wir müssen uns vom Mythos des Tahir-Platzes verabschieden und neue Allianzen schmieden."

Der Kellner stellt ein Glas Limettensaft auf den Tisch. Ola Shahba nippt daran und zieht ein weiteres Mal an ihrer Zigarette. Ihre dichten, schwarzen Haare fallen in leichten Wellen auf ihre Schultern. Sie ist Mitglied der linksgerichteten Partei "Popular Socialist Alliance" und war aktiv in der Jugendbewegung, die die Revolution entscheidend vorangetrieben hat. Während der Proteste auf den Tahir-Platz im Winter 2011 stand sie oft auf der Bühne und hat den Protestlern Mut gemacht. Jetzt - nur wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen in ihrem Land - versucht sie, verschiedene linksgerichtete Gruppen zu einem Bündnis zu vereinen:

"Wir sprechen mit all denen, die in den vergangenen Monaten bewiesen haben, dass sie gegen das Regime sind und nicht mit ihm in einem Bett schlafen. Dazu gehören Liberale genauso wie Moslems. Dass der Kandidat des Militärs die Präsidentschaftswahlen gewinnt, können wir wohl kaum verhindern. Aber wir versuchen, möglichst viele Parteien zu überzeugen, einen gemeinsamen Kandidaten zu unterstützen, damit der Wahlsieg des Kandidaten der Militärregierung nicht ganz so glorreich ausfällt."

Die Militärs, erzählt Ola Shahba haben überall ihre Finger im Spiel. Auch deutsche Nichtregierungsorganisationen, die im Land tätig sind, gehen davon aus, dass die Militärs große Teile der Wirtschaft beherrschen. Ihnen gehören mindestens 30 Großbetriebe, die über 100 000 Menschen beschäftigen.

Einer von Olas Parteifreunden kommt in das Café. Die beiden setzen sich an den Nebentisch, wo bereits zwei andere Frauen auf sie warten. Ola Shahbas Partei hat die jüngsten Parlamentswahlen nicht boykottiert. Sie sind in dem Bündnis "Die Revolution geht weiter" angetreten. Ihr Einfluss ist gering. Sie haben nur neun der insgesamt 508 Sitze im Parlament. Dort bestimmen die Moslembrüder und die Salafisten die Politik. Auch die Frauen sind völlig unterrepräsentiert. Nur zwei Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Aber sie müssen langfristig denken, meint Ola Shahba.

"Ich erlaube mir einfach nicht, enttäuscht zu sein. Jetzt ist es erst einmal am wichtigsten, dass die Militärregierung zurücktritt. Und das muss denen richtig wehtun. Wir müssen es schaffen, sie zum Rücktritt zu zwingen. Wir wollen sie erniedrigen und sie müssen vor Gericht gestellt werden für das, was sie in den vergangenen Monaten getan haben. Die Revolution ist nicht vorbei. Wir kämpfen noch immer gegen das Regime. Es sind viele kleine Schritte. Aber ich muss daran glauben. Ich muss an die Ägypter glauben und an mich selbst."

Ihre Tage sehen ganz anders aus als die von Marwa Séoudi, die sich auf ihr Mutter-Sein konzentriert. Ola Shahba ist noch immer zu 100 Prozent Aktivistin, beginnt meist am frühen Morgen mit ersten Treffen und geht vor zwei Uhr morgens nicht ins Bett. Zurzeit tourt sie durch ganz Ägypten auf der Suche nach Unterstützern für ihr Linksbündnis. Zeit für Hobbys oder Familie bleibt da nicht. Ab und zu gönnt sie sich ein Wochenende am Strand, um die Batterien wieder aufzutanken, wie sie sagt.

"Nach einem Fernsehprogramm haben mich die Leute auf der Straße erkannt. Einmal hat mich ein Typ auf der Straße sogar angesprochen und gesagt, er hätte mich im Fernsehen gesehen und ich sollte die zukünftige Präsidentin sein. Aber es gibt auch Leute, die das alles nicht so gut finden. Ein Taxifahrer hat mich richtig beleidigt, weil er die Revolution hasst. Aber das sind Ausnahmen."

Eines haben Ola Shahba und Marwa Seoudi gemeinsam: Dank ihrer Familien kämpfen sie nicht ums wirtschaftliche Überleben. Ola Shahba hat seit ihrem Entwicklungspolitik-Studium in London einige Jahre bis zum Beginn der Revolution als Kommunikationstrainerin gearbeitet und - so sagt sie - noch ein paar Ersparnisse. Allerdings neigen die sich langsam dem Ende zu. Viel hat sie in die Revolution gesteckt, auch um Verbandszeug, Medizin und Schutzmasken zu kaufen. Deshalb ist sie nun auf der Suche nach einem Job.
"Aber alles, was sie mir anbieten, ist ein typischer 9-bis-17-Uhr Job. Das ist keine Option für mich. Ich bin Aktivistin und arbeite nur so viel, um genug zu haben, um zu überleben."

Dies gilt für viele Frauen in Kairo - auch für Sarah Enany. Die 40-Jährige ist eigentlich Professorin für Englische Literatur an der Universität Kairo. Aber das Geld, das sie dort verdient, reicht nicht. Deshalb arbeitet sie zusätzlich an der Oper. Sie singt kleine Rollen und hilft bei der Übersetzung aus dem Englischen.

"Jeder in Ägypten hat mindestens vier oder fünf Jobs. Die Leute arbeiten vormittags in einem Büro von der Regierung und gehen nachts Taxi fahren und vielleicht machen sie noch etwas Drittes. Mein Universitätsjob bringt mir rund 300 Euro im Monat. Und dann bekomme ich noch 150 von der Oper. Aber das würde nicht reichen. Ich habe Glück, weil ich eine Wohnung besitze, die ich vermieten kann. Und meine Eltern helfen mir. Viele Leute bewundern die Ägypter für ihre starke Familientradition. Aber es ist auch einfach eine finanzielle Notwendigkeit."

Sarah Enany sitzt auf der Terrasse des Opernkaffees. Es liegt auf der Insel im Nil gegenüber dem Zentrum der Stadt. In der Innenstadt war sie während der Proteste nur selten. Sie hat nicht geglaubt, dass sie wirklich etwas verändern würden. Und sie findet auch heute nicht, dass tatsächlich eine Revolution stattgefunden hat:

"Es ist so ähnlich wie bei dem Spiel 'Reise nach Jerusalem'. Sie nehmen die erste Reihe von Dieben einfach weg und setzen die nächsten, die noch nicht so bekannt sind auf deren Plätze. Es sind also genau die gleichen Ali Baba und die 40 Räuber an der Macht wie vorher. Nur sitzen sie auf anderen Stühlen. Ich war zu feige, um an den Protesten teilzunehmen. Jetzt fühle ich mich schuldig. Aber es war mir einfach zu gefährlich."

Am Nebentisch sitzen fünf junge Frauen. Alle tragen sie ein Kopftuch. Für Sarah Enany ist das keine Option, obwohl sie sich als gläubige Muslimin bezeichnet und regelmäßig betet. Trotzdem kann auch sie sich nicht kleiden, wie sie möchte. Sie muss bestimmte Regeln einhalten.

"Ein rotes T-Shirt würde in der Universität vielleicht gehen. Aber ein kurzer Rock auf keinen Fall. Wir brauchen eine sexuelle Revolution. Ich habe zwei männliche Mitbewohner. Als kürzlich in mein Haus eingebrochen wurde und mein Computer gestohlen worden ist, haben mir alle meine Freunde geraten, nicht zur Polizei zu gehen, weil sie mir nicht helfen würde, sondern ich mich nur verdächtig mache, weil ich mit zwei Männern lebe. Ich gehe auch nicht gerne auf die Straße. Du wirst immer blöd angemacht - egal ob Du ein Kopftuch trägst oder nicht."