Taliban-Anschlag in Pakistan

War es Rache für Malalas Nobelpreis?

Freiwillige tragen einen Sarg nach dem Taliban-Angriff auf eine Schule in Pakistan.
Wer lernen will, lebt gefährlich: Nach dem Taliban-Anschlag auf eine Schule in Pakistan tragen Helfer einen Sarg © AFP / A Majeed
Philipp Kauppert von der Friedrich-Ebert-Stiftung Islamabad im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 17.12.2014
Bei dem Anschlag auf eine Schule in Peschawar wurden über 130 Kinder ermordet. Manche in Pakistan sehen darin eine gezielte Kampagne der Taliban gegen Erziehungseinrichtungen - auch im Zuge der Verleihung des Friedensnobelpreises an Malala.
Mehr als 130 Kinder kamen bei dem Anschlag der Taliban auf eine Schule im pakistanischen Peschawar ums Leben. Man habe zwar seit einigen Monaten vor einer verschlechterten Sicherheitslage gewarnt, sagt der Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad, Philipp Kauppert. Überraschend sei jedoch, dass die Taliban sich als Ziel eine Schule ausgesucht haben.

Das Interview im Wortlaut:
von Billerbeck: Über 140 Menschen, davon über 130 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren haben die Taliban bei ihrem Anschlag gestern auf eine vom Militär geführte Schule im pakistanischen Peschawar getötet. Rache sei das Motiv dafür gewesen, ließ sich die Taliban-Gruppe hinterher vernehmen, Rache für das, was die Regierung ihr angetan habe. Ein Land steht unter Schock. Und dort, in Pakistan, in der Hauptstadt Islamabad, arbeitet auch die Friedrich-Ebert-Stiftung, die erfahrenste deutsche politische Stiftung. Philipp Kauppert leitet das Stiftungsbüro in Pakistan und ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Philipp Kauppert: Guten Morgen!
Protestdemonstration der Opposition abgesagt
von Billerbeck: Wie hat das Land, wie hat Pakistan auf die Anschläge reagiert?
Kauppert: Mit großer Bestürzung, mit großem Schock. Nachdem die ersten Reaktionen natürlich sehr emotional waren und alle Familien in erster Linie versucht haben herauszufinden, ob in Peschawar auch ihre Kinder unter den Opfern waren, hat auch die Politik reagiert. Alle größeren Treffen wurden abgesagt, sogar die regierungsfeindlichen Proteste, also die großen Proteste in den Straßen von Lahore, wurden abgesagt. Und eigentlich alle großen Parteien sind nach Peschawar gereist, um heute einer übergreifenden Konferenz, also alle Parteien übergreifenden Konferenz beizuwohnen.
von Billerbeck: Das heißt, die Oppositionsbewegung, Sie haben es ja schon gesagt, die Proteste, die seit Wochen auf die Straße geht, stellt diese Proteste jetzt erst mal ein nach diesem Anschlag, nach diesen Morden?
Kauppert: Ja. Ich glaube, es kann sich keine Partei momentan leisten, dieses Ereignis zu ignorieren. Alle Parteien müssen auch in irgendeiner Weise darauf reagieren. Alle Parteien haben das auch im Grunde unisono verdammt. Es gibt natürlich Nuancen, auch zwischen den Zeilen kann man lesen, wer sich auch schon wie positionieren will für zukünftige Debatten. Es geht natürlich allen voran um die Frage, wie gehen wir mit den Taliban, wie gehen wir mit dem Extremismus und dem Terror in Pakistan um.
von Billerbeck: Waren solche Anschläge eigentlich zu erwarten gewesen, also haben Sie da Warnungen gehabt?
Erwarteter Gegenschlag der Taliban
Kauppert: Leider gibt es schon seit einigen Monaten Warnungen, dass die Sicherheitslage in Pakistan sich verschlechtern könnte. Vor allem aufgrund der Militäroffensive in Nordwasiristan, die jetzt seit Mai in etwa läuft, wurde erwartet, dass es früher oder später auch zu einem Gegenschlag der Taliban kommen würde.
Und in allen Städten, auch inklusive Islamabad, wurde die Sicherheitslage, oder die Vorkehrungen und die Warnungen waren sehr hoch, aber es hat dann doch sehr stark überrascht, dass ausgerechnet eine Schule getroffen wurde bei einem Anschlag, und nicht, wie sonst üblich, eine Einrichtung der Regierung oder des Militärs oder an einem Platz, an dem sich sehr viele auch Ausländer aufhalten, sondern eben gezielt ein Anschlag auf Kinder und Familien stattgefunden hat. Das war doch eine Überraschung für viele.
von Billerbeck: Wie wirkt sich denn nun dieser Anschlag auf die Sicherheitslage des ganzen Landes aus, was verändert sich dadurch?
Reaktion auf die Nobelpreisverleihung an Malala?
Kauppert: Ich denke, die prinzipielle Sicherheitslage wird sich erst mal nicht dadurch verändern. Auch vorher war wie gesagt in den meisten Teilen des Landes die Sicherheitsstufe schon sehr hoch.
Die Frage ist natürlich, ob sich dadurch die Bedrohungslage auch für Familien oder auch für Kinder verändert. Also, ist es tatsächlich eine Kampagne der Taliban, die gezielt gegen Erziehungseinrichtungen geht, auch so im Zuge der Verleihung des Nobelpreises an Malala. Es gibt natürlich auch eine Debatte darüber, was heißt das für die Bildungspolitik im Allgemeinen, auch dieser symbolische Akt, gerade auch junge Frauen und auch Kinder ins Visier zu nehmen, der Taliban, als Gegenreaktion auf die Bildungsoffensive der Regierung, das ist eigentlich die Frage, die jetzt gerade im Mittelpunkt steht.
Aber die Sicherheitslage als solche ist natürlich ernst zu nehmen, und es ist auch davon auszugehen, dass sich das nicht verbessern wird in den nächsten Wochen, aber das ist erst mal keine Neuigkeit innerhalb Pakistans.
von Billerbeck: Aber wenn die Taliban so einen Anschlag wie den gestrigen auf Kinder und Jugendliche unternehmen, dann bringen sie doch alle Leute gegen sich auf. Da ziehen sie doch keine Leute auf ihre Seite?
Kauppert: Ja, das würde ich auch so, das würde ich bestätigen. Also auch in Pakistan ist natürlich die Reaktion wirklich durch die Gesellschaft hindurch sehr klar, es ist auf jeden Fall eine Solidarität mit den Opfern. Es gibt eigentlich keine ernstzunehmenden Stimmen, die in irgendeiner Weise verstehen oder verteidigen, was die Taliban da getan haben, aber ich denke, es zeigt auch, wie stark eben die tatsächliche ideologische Auseinandersetzung um bestimmte Themen ist, um das Thema Bildungspolitik in Pakistan, also auch die Frage, wie jetzt in den ländlichen Gebieten und auch in den Stammesgebieten sich der Staat positionieren wird.
Latenter Extremismus in der pakistanischen Gesellschaft
Und es gibt auch gerade in der Provinz, in der Grenzprovinz zu Afghanistan, wo eine sehr konservative Regierung an die Macht gekommen ist bei den letzten Wahlen, natürlich auch die Frage, wie man im Bereich Bildungspolitik mit diesem latenten Extremismus oder diesem latenten radikalen Denken, das auch sehr weit verbreitet ist in der Gesellschaft, umgeht.
Moderatorin: Welchen Einfluss haben die Taliban denn in Pakistan? Und warum ist das Land so anfällig für Extremisten?
Kauppert: Im Grunde ist es – das Problem geht zurück bis in die 80er-Jahre, also die Zeit, in der die Sowjetunion Afghanistan besetzt haben und im Zuge des Kalten Krieges die Amerikaner, aber auch die pakistanische Armee eine Gegenbewegung unterstützt und finanziert haben, die Mudschaheddin, die von Pakistan aus sozusagen für die Befreiung Afghanistans von den Kommunisten gekämpft haben.
Und auf diese Zeit gehen sehr viele Koranschulen zurück, aber auch sehr viele militarisierte Gruppen, die damals ausgerüstet worden sind, die dann später gemeinsam mit der Unterstützung des pakistanischen Militärs in Afghanistan die Macht übernommen haben, in den 90er-Jahren.
Also die Taliban waren ja in den 90er-Jahren an der Macht, haben damals die Regierung in Afghanistan gestellt und sind dann im Zuge des Krieges gegen den Terror, sprich den letzten zwölf Jahren im Krieg in Afghanistan auch zum Teil wieder zurückgedrängt worden nach Pakistan. Also das ganze Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan ist eigentlich ein Rückzugsgebiet für viele dieser Gruppen, für viele dieser Kämpfer.
Eine politische Lösung für das Taliban-Problem?
Aber es ist eben auch genauso schwierig, diese Gruppen wieder zurückzudrängen, weil sie in manchen Bereichen auch sehr stark mit dem pakistanischen Militär und auch durchaus mit dem Staat verwoben sind.
von Billerbeck: Hat denn die pakistanische Regierung überhaupt ausreichend Interesse, die Taliban in den Griff zu bekommen, also sie zurückzudrängen, wenn es solche Verflechtungen gibt, von denen Sie eben sprachen?
Kauppert: Im Grunde ist die große Frage auch, wie sich innerhalb Pakistans die zivil-militärischen Beziehungen gestalten werden. Also die Frage ist, wer sich auch jetzt in Pakistan durchsetzen kann im Umgang mit den Taliban. Es gibt auch dazu einen Konflikt. Also die aktuelle Regierung, die jetzt seit eineinhalb Jahren an der Macht ist, ist eigentlich gewählt worden auch mit dem Slogan, sie möchten eine politische Lösung dafür finden.
Also auch die, auch bereits vorher war die Sicherheitslage in Pakistan sehr schlecht, aber die aktuelle Regierung unter dem Premierminister Nawaz Sharif hat immer gesagt, zumindest am Anfang ihrer Amtszeit, wir müssen den Verhandlungsweg suchen, um den Konflikt mit den Taliban zu lösen. Das ging ungefähr ein halbes Jahr lang so, also die ersten Monate während ihrer Amtszeit haben sie es tatsächlich versucht.
Militär will militärische Lösung
Es gab verschiedene Ansätze, immer wieder Verhandlungen mit den Taliban zu suchen. Das hat auch, diese Verhandlungen haben auch tatsächlich stattgefunden. Aber unter dem sehr großen Druck des Militärs, auch wegen der schlechten Sicherheitslage, die sich trotz der Verhandlungen nicht deutlich verändert hat, gab es dann eben diese Militäroffensive, zu der die Regierung nur, also bestenfalls unter sehr großem Druck zugestimmt hat.
Das heißt, im Grunde ist die Frage auch, wer sich jetzt innerhalb Pakistans durchsetzen kann zu der Frage zum Umgang mit den Taliban. Meine Einschätzung dazu wäre, dass es natürlich nicht entweder eine militärische oder eine politische Lösung geben kann, sondern eine umfassende, die wahrscheinlich sowohl militärische als auch politische Elemente enthalten muss.
von Billerbeck: Nach dem Mordanschlag auf eine Schule mit über 140 Toten – Philipp Kauppert war das aus Islamabad. Dort leitet er das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ich danke Ihnen!
Kauppert: Ja, gerne. Ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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