Talentschmiede für poetische Geister

Von Frank Kaspar · 13.03.2013
Lucy Macnab hat ein Herz für Monster. In Ihrem Shop im Osten von London bekommen Vampire Blutkonserven, Werwölfe literweise Mondlicht und Kinder eine Extraportion Fantasie. Denn hinter der Fassade des kleinen Horrorladens betreibt Macnab die Schreibwerkstatt "Ministry of Stories".
"There was a little girl
Who had a little curl
Right in the middle of her forehead.
When she was good,
She was very, very good.
But when she was bad,
She was horrid!"

[Ich kannte ein Mädchen aus Schottland
Dem das Haar wild vom Kopf stand.
Sie hatte Locken, knallrote.
Sie hatte Talent,
Immer hundert Prozent!
Aber wenn sie schlecht drauf war,
- gab’s Tote!]

"This was a poem that, when I was very young, people used to say to me and I used to hate it!"

[Das Gedicht vom Mädchen mit dem Lockenkopf ging Lucy Macnab als Kind mächtig auf die Nerven.]
"If you have curly hair like me, people tend to recognize you by your curly hair, that’s how people describe you."

[Grundschüler können grausam sein. Nichts zu machen, sagt Lucy, wenn du Locken hattest wie ich, und ich rede von roten Locken, dann warst du das 'Girl with a Curl'."]

Damals hätte sie bestimmt nicht gedacht, dass sie es als Erwachsene einmal jeden Tag mit Gedichten und Gruselgeschichten zu tun bekäme – und mit Grundschülern.

Ich treffe Lucy Macnab in ihrem Laden im Londoner East End ...

"Welcome to Hoxton Street Monster Supplies – we sell all kinds of goods and products for monsters, for vampires, werewolfs, yetis, everything you can imagine. Over here on the shelves we have a range of 'tinned fear'"

"Monsterbedarf" lese ich über der Tür. Im Schaufenster liegt ein Notfallset mit Autobatterie: ein tolles Angebot für erschöpfte Kreaturen, die ihre Akkus wieder aufladen wollen. Im Regal stehen Marmeladen-, Honig- und Einweckgläser, laut Etikett gefüllt mit "Ohrenschmalz", "gequirltem Hirn" und "frischen Fürzen".

"It’s a little bit like a grocery store for monsters, vampires, for zombies, for werewolves We sell very practical household items, like food – so, we sell things in jars and remedies, like sore throat sweets for monsters that scream a lot, and we also offer services, so if somebody buys something we can curse it,or we can give them a death certificate, if they need to prove that they are dead, not just undead."

[Vampire, Zombies oder Werwölfe finden bei uns alles für ihren täglichen Bedarf. Es gibt Halsbonbons für Monster, die viel schreien. Wenn Sie ein Geschenk bei uns kaufen, können Sie es gegen einen kleinen Aufpreis gleich verfluchen lassen. Wir stellen Ihnen auch eine Sterbe-Urkunde aus, falls Sie den Nachweis erbringen müssen, dass Sie tot sind und nicht bloß untot.]

Unter dem Tresen ist ein Schalter für Geräuscheffekte versteckt, mit denen Lucy Macnab hin und wieder die Stimmung ihrer Kunden aufhellt, oder besser: verdüstert.

Dem Besucher aus Deutschland erscheint diese bizarre Mischung aus Spleen, Horror Witz und Ernst ungeheuer britisch – während die Hausherrin von der düsteren Romantik in Grimms Märchen oder E. T. A. Hoffmanns Erzählungen schwärmt:

"Der Sandmann hatte mich auf die Bahn des Wunderbaren, Abenteuerlichen gebracht. Nichts war mir lieber als schauerliche Geschichten von Kobolden, Hexen, Däumlingen und so weiter zu hören oder zu lesen."

Denn der Monsterladen in der Hoxton Street ist ein Ort der Literatur. Für die Serie "Tinned Fear – Angst in Dosen" haben Autoren wie Nick Horby, Eoin Colfer und Zadie Smith Horror-Stories geschrieben, die in Pillendosen zusammen mit Lakritzen und Lutschbonbons über die Theke gehen. Und in der Schreibwerkstatt, hinten im Laden, in die man durch eine geheime Tür gelangt, haben Kinder aus dem Viertel ein Haushaltsbuch für Monster verfasst: mit Rezepten, Benimm-Regeln und einer Liste von Kreaturen, die jeder kennen sollte. Der "Karate-Ritterling” haust in einem dreckigen, alten, ranzigen, nassen, kalten, schauerlichen Loch.

"Drei Kotzbrocken, fünf Popel, ein Haarbüschel, eine Tasse Ohrenschmalz, fünf Tropfen Monster-Spucke ..."

Vor zwei Jahren gründete Lucy Macnab mit Nick Hornby und dem Dichter Ben Payne das Jugend-Literaturprojekt "Ministry of Stories" und als Entrée den Monster-Shop: einen Ort, der Kinder aus der Nachbarschaft auf Anhieb magisch anzog.

"It worked for the children, because, the minute they walked through the door, they were in a story, they were in a fiction, and they could believe in their imagination."

[Sobald die Kinder zu uns in den Laden kommen, sind sie schon mitten in einer Geschichte. Sie betreten eine erfundene Welt, die ihre eigene Vorstellungskraft herausfordert.]

Fast fünf Jahre lang hat Lucy Macnab Literatur-Projekte für das renommierte Southbank-Centre organisiert. Die Stelle hat sie aufgegeben, um sich mit dem "Ministry of Stories" selbständig zu machen. "Das war, als ob man von einem Ozeanriesen auf ein wackliges Floß umsteigt", sagt sie. Aber die Chance, bei den Kindern im Monsterladen einen Funken der Phantasie zu entzünden, möchte sie um keinen Preis mehr missen. Und das Mädchen mit den roten Locken? Ist sie selbst ein phantasievolles Kind gewesen, das sich vor Monstern unter dem Bett gefürchtet hat?

"I was always a bit scared of ghosts and things that go bump in the night. But I think really monsters and the mythology around monsters, it’s all about humans. […] When people write about monsters or talk about monsters they’re actually talking about human beings, they’re talking about that sort of dark imaginations of human beings and the things that people are scared of. So I think that’s really what my take on monsters is."

[Ich hatte immer ein bisschen Angst vor Gespenstern oder Poltergeistern. Aber im Grunde geht es bei all den Geschichten und Mythen von Monstern ja um ganz menschliche Sorgen und Wünsche und dunkle Phantasien. Das ist der eigentliche Grund, weshalb die Monster mich bis heute nicht mehr losgelassen haben.]


Mehr Infos im Netz:

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