Tagebuchnotizen aus dem KZ

Rezensiert von Andreas Baum |
Die Jüdin Mirjam Bolle sitzt auf gepackten Koffern, da werden die Niederlande von den Deutschen besetzt, ihre Ausreise wird unmöglich. Sie beginnt, Briefe an ihren Verlobten zu schreiben, in denen sie von ihrem Alltag erzählt. Diese schmuggelt sie später nach Palästina. Dort liegen sie fast 60 Jahre unbeachtet auf einem Dachboden. Sie sind jetzt unter dem Titel "Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen. Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen" veröffentlicht worden.
Kurz vor dem Ende, in ihren Briefen aus Bergen-Belsen, schreibt Mirjam Bolle, geborene Levie:

"Wahrscheinlich sind wir zu subjektiv, um zu erkennen, wie schlecht es um uns bestellt ist."

In der Tat ist es der Autorin nicht bewusst, dass ihre Odyssee durch die Konzentrationslager eigentlich als Reise in den sicheren Tod angelegt ist. Sie entkommt ihm am Ende nur, weil sie zufällig zu einer Minderheit von Privilegierten gehört. Im Sommer 1944 wird Mirjam Bolle gegen Kriegsgefangene ausgetauscht und kann mit dem Zug über Bulgarien und die Türkei nach Tel Aviv fahren, eine absolute Ausnahme.

Ihre Tagebuchbriefe erzählen die Geschichte einer Deportation mit Happy End. Während der Jahre zuvor bleibt sie trotz der Leiden, die ihr und den anderen Juden zugefügt werden, grenzenlos optimistisch. Die Zuversicht, zu überleben, obwohl um sie herum Menschen deportiert werden und sterben, gibt ihr die Kraft, die Entrechtung der Juden akribisch und detailgetreu aufzuschreiben, von den ersten Monaten nach der deutschen Besetzung der Niederlande, als es Juden nach und nach verboten wird, am öffentlichen Leben teilzunehmen, bis zu den letzten Tagen im Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo ohne Warnung auf Menschen geschossen wird.

Trotz der beklemmenden Stimmung, die sie beschreibt, kommt ihr ein gewisser Galgenhumor nicht abhanden, und selbst in den schlimmsten Stunden kann sie von kleinen, glückliche Momente erzählen, etwa wenn sie und ihre Angehörigen noch in den Lagern jüdische Feste feiern.

Rätselhaft bleibt, warum diese Berichte erst heute veröffentlicht werden und dies nicht, etwa wie die Tagebücher der Anne Frank, die zur gleichen Zeit ebenfalls in Amsterdam entstanden, schon in den Jahren nach dem Krieg geschah. Die Autorin selbst begründet dies damit, dass nach ihrer Rettung anderes wichtig wurde. Der Befreiungskampf der Zionisten gegen die Briten, die Gründung des Staates Israel, die Geburt der Kinder, der fast permanente Kriegszustand im Land, während des Sechstageskrieges verlor die Familie einen Sohn, hätten keine Zeit für Vergangenheitsbewältigung gelassen.

Heute, sechzig Jahre später, stellt sich in der Tat die Frage nach dem Wert der Aufzeichnungen. Sie sind unmittelbar, anrührend und sehr persönlich, bringen aber nichts substanziell Neues, denn Erinnerungen der Überlebenden des Holocaust gibt es zur Genüge.

Es ist allerdings der spezifische Blickwinkel der Autorin, der dieses Buch lesenswert macht. In Amsterdam arbeitet sie als Sekretärin für den so genannten Jüdischen Rat, der eine sehr zwiespältige Rolle während des Krieges spielt. Denn dieser Rat kooperiert mit den Behörden und organisiert die Deportationen der Juden, mit der Intention, das Schlimmste zu verhüten, aber doch mit der Folge, dass den Deutschen die Arbeit erleichtert wird.

Mirjam Bolle wünscht sich in ihren Briefen mehr als einmal, der Jüdische Rat möge die Brocken hinschmeißen und verdankt ihm doch vermutlich das Leben, denn die allesamt jüdischen Mitarbeiter dieser Institution waren lange von den Deportationen ausgenommen.

Einer kleinen Gruppe von niederländischen Juden gelang so faktisch das Überleben, um den Preis der Mehrheit, die der Willkür der Nazis preisgegeben wurde, dieser Vorwurf wurde dem Jüdischen Rat nach dem Krieg gemacht, nicht zu Unrecht, wie Mirjam Bolles Aufzeichnungen nahe legen. Sie zeigen aber auch, dass selbst gut informierte Menschen wie sie offensichtlich nicht wussten, was genau mit den Juden in den KZs im Osten geschah.

Ebenso ergiebig ist es, zu erfahren, wie die Niederländer auf die Besatzung und die Entrechtung ihres jüdischen Bevölkerungsteiles reagieren. So gibt es Geschichten von Mut und Zivilcourage, von kleineren und größeren Widerstandsaktionen, aber auch von der Kollaboration vieler Holländer mit den Deutschen, die Mitglieder der faschistischen Bewegung in den Niederlanden wurden von den Verfolgten ebenso gefürchtet wie Deutschen. Der Terror der Besatzer wurde durch den Verrat eines Teils der Besetzten begünstigt.

Ebenso schonungslos berichtet Mirjam Bolle über das System der Unterdrückung in den Lagern und ihr Erschrecken darüber, dass sich auch hier einzelne jüdische Gefangene zu Handlangern der Mörder machten, um sich Vorteile zu verschaffen.

Die Briefe an ihren Verlobten, die die Autorin am Ende heimlich in den Baracken schreibt, wirken wie eine Insel der Menschlichkeit in einem Meer der Barbarei. Sie bewahrt sich ihre Fähigkeit, entsetzt zu sein über das Maß der Willkür und des Zynismus, mit dem sie und ihre Angehörigen behandelt werden, in einem Umfeld, in dem Verrohung normal geworden ist.

Nicht zuletzt sind dies aber auch die Liebesbriefe einer jungen Frau an ihren Verlobten, von dem sie insgesamt sechs Jahre getrennt ist, sie sind bei aller Dramatik bisweilen verspielt, romantisch und heiter. Mirjam Bolles Glaube an eine gemeinsame Zukunft haben ihr geholfen, die Qualen zu überleben.

Mirjam Bolle: Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen. Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen.
Eichborn Verlag, Berlin
299 Seiten, 22,90 Euro