Tagebuch einer Entmenschlichung
Helga Deen teilt mit der berühmten Tagebuchschreiberin Anne Frank dasselbe traurige Schicksal: Ihre Eltern flohen vor den Nazis nach Holland. Mit dem Einmarsch der Deutschen beginnt eine Leidenszeit, die im KZ endet. Helag Deen war 18 Jahre alt, als sie ihre Tagebuchaufzeichnungen im Lager Vught begann. Drei Wochen später wurde sie in einem polnischen KZ ermordet. Ihr Tagebuch wurde herausgeschmuggelt, aber erst 2002 entdeckt.
Es ist wie das Tagebuch Anne Franks ein unmittelbares, authentisches Zeugnis aus der Zeit der Judenverfolgung in den 40er Jahren. Die Zeit, in der es entstanden ist, ist dieselbe, Helga Deen war wie Anne Frank in einer deutsch-jüdischen Familie aufgewachsen, beide Familien waren aus Deutschland in die Niederlande gezogen, um dort Zuflucht zu finden. Mit dem Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940 begann der Horror.
Helga Deen und Anne Frank haben zwar eine ähnliche Geschichte, die beiden Bücher jedoch sind sehr verschieden. Anne Frank ist noch ein Kind, das sich ihrem Tagebuch anvertraut, mehr als zwei Jahre lang. Helga Deen ist eine junge Frau, die ihrem Geliebten die Gedanken und Gefühle heimlich ins Tagebuch schreibt. Helga Deen, ihr jüngerer Bruder Klaus und ihre Eltern wurden in das Lager Vught deportiert. Anne Frank hat ihre Aufzeichnungen im Versteck gemacht, wenngleich unter ebenfalls sehr schwierigen Bedingungen.
Helga Deen schreibt über das unmittelbar Erlebte und ihre Gefühle im Konzentrationslager Vught. Sie schildert entwürdigende Situationen, die Entlausung, die Appelle. Am Anfang heißt es noch "bis jetzt alles halb so schlimm". Von den drei Pritschen, die übereinander liegen, hat sich Helga Deen für die mittlere entschieden. "Dann kann ich heute Abend aus dem Fenster schauen und den Sternenhimmel sehen", schreibt sie. Man spürt in diesen Zeilen, wie sie das Gute für sich bewahren will. Sie schreibt über die Farben des Himmels, über den Gesang der Nachtigall und über ihre Umgebung:
"Es sieht aus wie ein freundliches Dorf mitten im Wald, oder eigentlich sollte man besser sagen, wie ein Sanatorium."
In Helga Deens Familie wurde musiziert, gemalt und gelesen. Die junge Frau versucht, fast verzweifelt, diese Kultur für sich zu retten. Sie sucht das wenige Schöne in der sonst so trostlosen Umgebung des Lagers und holt Erinnerungen hervor, vor allem an die Begegnungen mit ihrem Liebsten, mit dem sie nur zwei Monate bis zu ihrer Deportation zusammen war. Sie zitiert Rilke, schreibt über Gott, seine Liebe und seine Größe, versucht einen Sinn zu finden. Doch allmählich kommt immer mehr von dem "Schrecklichen" und "Elenden" vor, Hunger, sterbende Kinder. Besonders schlimm sind die "Kindertransporte", wenn die Kinder mit Mutter oder Vater oder beiden Eltern abtransportiert werden in die Lager im Osten.
"Ein Transport. Das ist zu viel Ich bin am Boden, und morgen schon wieder. Aber ich will, will, denn wenn mein Glück und Wille stirbt, sterbe ich auch. Das vergisst man nie mehr."
Helga Deen versucht sich weiter zu retten, indem sie schreibt, aber auch, indem sie sich abgrenzt. Sie schreibt vom "Plebs", dem ständigen Gezänk und Gekeife, "alle sind hier schrecklich asozial". Das hört sich arrogant an, aber letztlich ist es nichts anderes als ein weiterer Versuch, sich nicht aufzugeben, das Menschliche in der unmenschlichen Umgebung zu retten. Es gelingt ihr nicht. In der dritten Woche bereits bringt sie keine Zeile zustande. Dann nur noch zwei Einträge. Die Sprache hat sich verändert, das Literarische, das mitunter gewollt poetisch Klingende, das Symbolhafte, all das ist verschwunden. "Wieder ein Transport, und diesmal sind wir auch dabei", heißt es im letzten Eintrag.
Das Tagebuch ist nur 21 Seiten lang. Ergänzt wird es durch ein Vorwort und ein Nachwort, in denen die Geschichte der Familie Deen erzählt wird, was an manchen Stellen zu überflüssigen Dubletten führt. Außerdem sind Briefe von Helga Deen abgedruckt, die sie kurz vor der Deportation schrieb, aber auch Briefe ihres Geliebten und ihrer Freundin.
Über die Konzentrationslager ist vieles geschrieben worden, über die Brutalität der Nazis, über das Elend in den Baracken. Das meiste davon wurde aus der Erinnerung Überlebender zusammengetragen. Hier indes wird das unmittelbar Erlebte wiedergegeben, was die Schilderungen besonders eindringlich macht.
Rezensiert von Annette Wilmes
Helga Deen: "Wenn mein Wille stirbt, sterbe ich auch"
Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2007
141 Seiten, 12,90 EUR
Helga Deen und Anne Frank haben zwar eine ähnliche Geschichte, die beiden Bücher jedoch sind sehr verschieden. Anne Frank ist noch ein Kind, das sich ihrem Tagebuch anvertraut, mehr als zwei Jahre lang. Helga Deen ist eine junge Frau, die ihrem Geliebten die Gedanken und Gefühle heimlich ins Tagebuch schreibt. Helga Deen, ihr jüngerer Bruder Klaus und ihre Eltern wurden in das Lager Vught deportiert. Anne Frank hat ihre Aufzeichnungen im Versteck gemacht, wenngleich unter ebenfalls sehr schwierigen Bedingungen.
Helga Deen schreibt über das unmittelbar Erlebte und ihre Gefühle im Konzentrationslager Vught. Sie schildert entwürdigende Situationen, die Entlausung, die Appelle. Am Anfang heißt es noch "bis jetzt alles halb so schlimm". Von den drei Pritschen, die übereinander liegen, hat sich Helga Deen für die mittlere entschieden. "Dann kann ich heute Abend aus dem Fenster schauen und den Sternenhimmel sehen", schreibt sie. Man spürt in diesen Zeilen, wie sie das Gute für sich bewahren will. Sie schreibt über die Farben des Himmels, über den Gesang der Nachtigall und über ihre Umgebung:
"Es sieht aus wie ein freundliches Dorf mitten im Wald, oder eigentlich sollte man besser sagen, wie ein Sanatorium."
In Helga Deens Familie wurde musiziert, gemalt und gelesen. Die junge Frau versucht, fast verzweifelt, diese Kultur für sich zu retten. Sie sucht das wenige Schöne in der sonst so trostlosen Umgebung des Lagers und holt Erinnerungen hervor, vor allem an die Begegnungen mit ihrem Liebsten, mit dem sie nur zwei Monate bis zu ihrer Deportation zusammen war. Sie zitiert Rilke, schreibt über Gott, seine Liebe und seine Größe, versucht einen Sinn zu finden. Doch allmählich kommt immer mehr von dem "Schrecklichen" und "Elenden" vor, Hunger, sterbende Kinder. Besonders schlimm sind die "Kindertransporte", wenn die Kinder mit Mutter oder Vater oder beiden Eltern abtransportiert werden in die Lager im Osten.
"Ein Transport. Das ist zu viel Ich bin am Boden, und morgen schon wieder. Aber ich will, will, denn wenn mein Glück und Wille stirbt, sterbe ich auch. Das vergisst man nie mehr."
Helga Deen versucht sich weiter zu retten, indem sie schreibt, aber auch, indem sie sich abgrenzt. Sie schreibt vom "Plebs", dem ständigen Gezänk und Gekeife, "alle sind hier schrecklich asozial". Das hört sich arrogant an, aber letztlich ist es nichts anderes als ein weiterer Versuch, sich nicht aufzugeben, das Menschliche in der unmenschlichen Umgebung zu retten. Es gelingt ihr nicht. In der dritten Woche bereits bringt sie keine Zeile zustande. Dann nur noch zwei Einträge. Die Sprache hat sich verändert, das Literarische, das mitunter gewollt poetisch Klingende, das Symbolhafte, all das ist verschwunden. "Wieder ein Transport, und diesmal sind wir auch dabei", heißt es im letzten Eintrag.
Das Tagebuch ist nur 21 Seiten lang. Ergänzt wird es durch ein Vorwort und ein Nachwort, in denen die Geschichte der Familie Deen erzählt wird, was an manchen Stellen zu überflüssigen Dubletten führt. Außerdem sind Briefe von Helga Deen abgedruckt, die sie kurz vor der Deportation schrieb, aber auch Briefe ihres Geliebten und ihrer Freundin.
Über die Konzentrationslager ist vieles geschrieben worden, über die Brutalität der Nazis, über das Elend in den Baracken. Das meiste davon wurde aus der Erinnerung Überlebender zusammengetragen. Hier indes wird das unmittelbar Erlebte wiedergegeben, was die Schilderungen besonders eindringlich macht.
Rezensiert von Annette Wilmes
Helga Deen: "Wenn mein Wille stirbt, sterbe ich auch"
Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2007
141 Seiten, 12,90 EUR