Tagebuch aus dem Jahr 2039

Wie wir in 20 Jahren ressourcenschonend leben

27:24 Minuten
Durch das Vorderrad eines Rennrades ist das Brandenburger Tor in Berlin zu sehen.
Räder vor dem Brandenburger Tor: Ist die Zukunft in Berlin weitgehend autofrei? © dpa / Sportreport / Stephanie Pilick
Von Günther Wessel · 20.04.2020
Audio herunterladen
Wir fahren zu große Autos, fliegen zu sorglos, konsumieren zuviel. Wie könnte ein anderes Leben aussehen, wie Mobilität und Urlaub? Was würde uns fehlen und was würden wir gewinnen? – Ein fiktives Berlin-Reisetagebuch aus dem Jahr 2039.
"Ich finde ja da wahnsinnig Interessante, dass es immer unerwartete Interventionen gibt. Es kann ja sein, dass uns die Ausbreitung des Coronavirus in eine Welt hineinzwingt, und sei es nur temporär, wo eben viel weniger gereist wird, wo es den Wochenendtrip mit dem Flugzeug nicht gibt, wo es das öffentliche Event mit unfassbarem Ressourcenaufwand einfach nicht gibt, und die Leute werden die Erfahrung machen: Ist ja interessant. Genauso wie sie die Erfahrung gemacht haben, als dieser isländische Vulkan vor vielen Jahren ausgebrochen ist. Ist die Welt untergegangen? Nein." – Harald Welzer, Sozialwissenschaftler

"Jetzt ist ja gerade so eine Zeit, wo es sich lohnen würde, in eine Zeitmaschine zu steigen und 20 Jahre in die Zukunft zu reisen. Und sich das dann mal anzuschauen. Wir sind jetzt, glaube ich, gerade am Beginn einer Transformation. Wir merken: Das Verkehrssystem, so wie es ist, funktioniert nicht mehr. Es ist an seine Grenzen geraten. Das Ende ist abzusehen." – Stephanie Krone, Pressesprecherin des ADFC

Tagebuch einer Berlin-Reise, 23. Juni 2039

27 Grad, ordentlich warm. Kein Wunder, dass alle Menschen draußen sind. Der Spielplatz ist überfüllt, der Park voller Jogger, die Straße voller Radfahrer und vor dem Eis-Verkauf knubbeln sich die Massen. Basilikum-Erdbeere, Ingwer-Banane, Olive-Himbeere, salziges Lakritz, Rote Bete-Roggenbrot, Berliner-Weiße mit Schokolade – Berlin ganz vorn.
Am Vormittag sind C. und ich in Berlin angekommen. Ich war schon ewig nicht mehr hier. Vier Tage Hauptstadt bevor es weiter an die Ostsee geht. Anreise war okay, Deutsche Bahn halt. Der Rufbus, dann die S-Bahn. Dann drei Stunden von Düsseldorf. Zug war voll, zwei Waggon mit Fußballfans, Pokalspiel oder zweite Liga. Fast pünktlich angekommen.
Hotel Tiroler Hof. Am Innsbrucker Platz. Etwas Alpenkitsch innen drin, Bergpanoramen, Holztäfelung, eine Plastikkuh, karierte Tischdecken, aber draußen ist es schön. Ein großer Platz im Süden von Schöneberg. 1950er- und 1960er-Jahre-Bauten, mitten drauf Bänke und eine große Wasserfontäne
Am Nachmittag ein erster Spaziergang durchs Viertel. Cafés und Restaurants, Eis, ein Antiquariat. Literatur und Politik, vieles aus den Zehner- und frühen Zwanziger-Jahren: "Herkunft" von Saša Stanišić als signierte Erstausgabe, Lutz Seilers "Stern 111", ebenfalls signiert, und in der Politik, Bücher fast vergessener Parteivorsitzender und natürlich das populäre Zeug zum Klimawandel: Luisa Neubauer, Harald Welzer und Stephan Rammler und ein paar andere. Und auch Meadows: Die Grenzen des Wachstums. Was die wohl heute alle machen? Okay, Neubauer sitzt seit zwei Jahren im Verkehrsministerium.
"Man wird sich auf niedrigeres Niveau an Mobilität einstellen müssen. Das muss ja keine Katastrophe sein. Ich war vor 50, 60 Jahren in Deutschland, die Lebensqualität war ziemlich gut, die Leute waren zufrieden, die allgemeine Gesundheitssituation war ziemlich gut. Man hatte keine IPods, keine Autos mit 400 PS, keine Klimaanlagen, aber es ist absolut möglich, so zu leben." – Dennis Meadows in einem Interview im Deutschlandfunk Kultur 2011
"In den 60er -Jahren war das Niveau des wirtschaftlichen Stoffwechsels um ein Vielfaches niedriger als heute. Es gab aber den Begriff der Nachhaltigkeit nicht. Es gab auch kein Bewusstsein darüber, dass man ständig darüber sprechen müsste. Die Lebenspraktiken, von der Idee, dass man Kleidung repariert, dass man keine Nahrungsmittel wegschmeißt, dass man Möbel kauft, die lange halten, war in der Praxis wesentlich nachhaltiger als heute. Wenn man gemessen hätte wie glücklich sind die Leute, würde man feststellen: Die waren genauso glücklich wie heute nur bei einem erheblich niedrigerem Ressourcenverbrauch." – Harald Welzer, Sozialwissenschaftler
"70er-Jahre heißt: Fast jede Familie hat Zugang zu einem Automobil. Die, die es nicht hatten, hatten relativ guten Zugang zur öffentlichen Daseinsfürsorge durch den öffentlichen Verkehr. Man hatte genug zu essen. Man hat nicht jeden Tag Fleisch gegessen. Man ist vielleicht einmal im Jahr in den Urlaub gefahren, mit dem Auto, vielleicht mit der Bahn, aber man ist in den Urlaub gefahren. Die Lebensstile meiner Eltern, meiner Großeltern zeigen bis heute bis zu meinem Lebensstil einen sich permanent erweiternden Möglichkeitsraum." – Stephan Rammler, Sozialwissenschaftler

Tagebuch einer Berlin-Reise, 24. Juni 2039

Ziemlich gut geschlafen. Nur die Vögel waren am Morgen ordentlich laut. Stadtvögel halt. Sollen ja lauter sein. Frühstück im Hotel – mit Alpenpanorama auf der Fototapete. Dann mit der Straßenbahn ins Zentrum. Potsdamer Platz. Dort ein Fahrrad geschnappt und weiter. Brandenburger Tor, dann Unter den Linden Richtung Alexanderplatz. Cafés, der Grünstreifen in der Mitte. Doppelte Baumreihen. Die Friedrichstraße ist seit 15 Jahren Fußgängerzone – hat ihr gut getan. Auch am Alex ein abenteuerliches Gewimmel. Fußgängermassen, die aus dem Bahnhof quellen und sich auf den Platz ergießen, Radfahrermassen auf den Kreuzungen. Vier Meter breite Radwege sind offenbar immer noch zu schmal. Im Deutschen Historischen Museum eine Ausstellung: Der Umbau der Stadt. Vielleicht etwas für die nächsten Tage.

"Wir könnten dieselbe Mobilität, da gibt es verschiedene Studien zu, aufrechterhalten mit sehr viel weniger Autos. In Lissabon ist man drauf gekommen, dass womöglich zehn Prozent der Fahrzeuge schon reichen würden." – Stephanie Krone, Pressesprecherin des ADFC
"Die Prognosen sagen nur noch ein Zehntel der Autos und trotzdem kommen die Leute von A nach B. Also Mobilität heißt ja nicht Auto, sondern von A nach B kommen. Die bleibt auch meistens gleich, unabhängig vom Verkehrsmittel. Wir müssen sie einfach so organisieren, dass es für uns alle besser ist. Da fahren deutlich mehr Menschen Fahrrad. Fußgänger müssen nicht mehr stundenlang warten, bis sie über die Straße kommen. Ansonsten wird es ein bisschen mehr ÖPNV geben. Vor allem wird es deutlich ruhiger in den Straßen, weil wir nur noch Elektroautos haben – und weil die auch alle eine Ecke langsamer fahren. Unter 30 km/h wird es schön in der Stadt. Da muss keiner mehr vor keinem Angst haben. Das Reifengeräusch ist deutlich leiser geworden. Und damit haben wir ein ganz gechilltes Gefühl in der Stadt. " – Heinrich Strößenreuther, Verkehrs- und Klimaaktivist, Gründer von German Zero
Berlin: Menschen stehen auf dem Alexanderplatz.
Schon jetzt gibt es viele Fußgänger auf dem Alexanderplatz in Berlin. In unserer Zukunftsvision werden es im Jahr 2039 noch mehr.© picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg

Tagebuch einer Berlin-Reise, 24. Juni 2039

Am Nachmittag dann Richtung Kreuzberg. Mit einem Sammeltaxi zum Mehringdamm. Auch so ein Großstadtstraße, für die man Berlin lieben muss. Sehr breite Bürgersteige, gefühlt ein Café neben einem Restaurant neben einem Café, breite Fahrradwege, Bäume, okay, ein paar Autos und Busse sind auch noch unterwegs. Eine Riesenschlange vor einer Kebab-Bude, eine andere vor einer Currywurst-Klitsche. Gehört wohl zum Berlin-Besucher-Feeling dazu, sich hier anzustellen.
In der Bergmannstraße eine Kleinigkeit essen, dann weiter nach Süden zum Tempelhofer Feld. Der alte Flughafen: Museum, Verwaltung. Von den Cafés auf dem Dach des Hauptgebäudes hat man einen fantastischen Blick über das riesige Freigelände. Vor dem Gebäude ein paar alte Flugzeuge unter dem geschwungenen Vordach. Museal. Das hat schon was. Es war wohl auch sehr stilvoll, wenn man damals direkt vom Schalter mit wenigen Schritten zum Flieger gelangte. Sehr glamourös, wie man auch an der Ausstellung in der früheren Abfertigungshalle sehen kann. Die Freiheit über den Wolken – präsentiert damals von PanAm.
"Die 60er waren genau diese Jahre, die Nachkriegsjahre, wo in meiner Wahrnehmung alle gesagt haben: Reisen ist ein Grundrecht. Wir haben staatlich geförderte Airlines. Jedes Land in Europa hat eine eigene Airline, die unterstützt wurde, damit Reisen für alle möglich ist. Ich erinnere mich noch, für uns war es etwas Besonderes, dass wir mal auf die Kanaren geflogen sind. Das hat damals wahnsinnig viel gekostet. Jetzt haben halt die Chinesen angefangen zu reisen, die Inder kommen so langsam. Das sind Riesenbevölkerungen. Und jetzt wir es uns in Venedig oder in Barcelona zu eng." – Claudia Broezel, Tourismusforscherin
Können wir jetzt den Chinesen verbieten zu reisen, aus ökologischen Gründen?
"Wenn mir Leute gegenübertreten und sagen: Ja, ich wollte unbedingt mit meinen Kindern in Urlaub und dann musste ich fliegen. Oder: Ich hab jetzt den Flug gebucht, in die Karibik, ja, was mach ich denn jetzt? Also in einer Dringlichkeit schildert, dass er doch nachhaltig leben möchte und keinen Klimawandel erzeugen möchte, jetzt aber doch auch fliegen möchte. Heul doch, Junge. Wenn du Klimawandel reduzieren möchtest, dann hab die Eier in der Hose und mach es auch. Dann fliegst du eben nicht. Das ist dann eben Verzicht. Wenn man das gerne so bezeichnen möchte, dann ist das eben Verzicht, dass nicht alle zehn Milliarden Menschen auf der Welt das Recht haben, von überall irgendwohin zu fliegen. Das wird nicht funktionieren, und es haben ja auch nicht alle zehn Milliarden Menschen das Recht und die Möglichkeit, sondern nur eine absolute Spitze einer fossilen Elite. Das ist in einer Welt, in der bald zehn Milliarden Menschen leben und in der man allen ein gleiches Lebensrecht zusprechen möchte, einfach nicht machbar." – Stephan Rammler

Tagebuch einer Berlin-Reise, 25. Juni 2039

Früh schlafen gegangen und gut und länger geschlafen. Drei Möglichkeiten: Entweder war ich müder oder es lag an den Bieren oder die Vögel waren heute früh leiser. C. hat sich mit einer alten Berliner Freundin verabredet. Sie wollen nach Neukölln in so ein neues Tropen-Ressort gehen, so eine Art Südsee-Paradies mit allem drum und dran. Restaurants, Badelandschaften, einen kleinen Tropengarten und ein Aquarium soll es auch dort geben. Auch Filme, Projektionen, Virtuelles. Aloha in Neukölln. Nicht so meines, zumal ich das Gefühl habe, solche Einrichtungen gibt es jetzt immer mehr. Nicht nur für die Tropen, auch anderes – im Fitnessstudio bin ich letztens virtuell den Mont Ventoux hochgefahren – gemeinsam mit anderen. Hat sich zugegebenermaßen ziemlich echt angefühlt. Aber war trotzdem anders.
Blick in den Freizeitpark Tropical Islands im brandenburgischen Brand
Tropischer Badespaß statt Tropen-Urlaub mit Flugzeug: Das könnte die Zukunft sein.© dpa / Patrick Pleul
"Ich hab mich entschieden, sehr dosiert zu fliegen, und ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben noch mal nach Neuseeland komme. Und trotzdem habe ich heute die Möglichkeit – über das Reisen in virtuellen Welten, über wunderbare Dokumentationen mit Drohnenaufnahmen. Ich reise gern mit Dokumentarfilmen. Ich weiß, wie die Welt aussieht. Ich bin dann zwar nicht da, aber für mich ist das ein sehr befriedigender Zugang zu diesen Welten. Ich hab ein Bild von den meisten Orten der Welt, wie es dort aussieht. Damit kann ich gut leben." – Rammler
"Es ist ein Unterschied, ob ich mir ein Kalenderbild angucke, auf dem ein Berg ist, oder ob ich tatsächlich dahin fahre und diese Luft atme und da oben stehe und entsprechend fühle und dann wieder zurückgehe in mein normales Alltagsumfeld. Das macht was mit uns. Und ich glaube, dass ist genau das, was wir nicht verlieren dürfen. Das erweitert ja meinen Horizont." – Broezel
"Ich bin der Meinung, dass Jugendliche und junge Erwachsene, die auf dem Weg ins Leben sind, natürlich das Recht haben sollen zu fliegen. Aber müssen Senioren, die 80 oder 85 sind, noch in der Welt rumjetten? Das ist Ausdruck von Freiheit. Ich möchte das nicht beschneiden. Ich möchte auffordern, drüber nachzudenken, ob das wirklich Ausdruck der absoluten Selbsterfüllung ist." – Rammler

Tagebuch einer Berlin-Reise, 25. Juni 2039

Ich bin allein raus Richtung Potsdam. Zuerst mit der S-Bahn nach Wannsee. Der zweite Nachtzug aus Paris kam gerade dort an. Sehr schick – silbern. Sieht schnell aus, obwohl er doch eher zuckelt. Braucht halt nachts zwölf statt tagsüber sechs Stunden. Wäre auch schön, statt an die Ostsee nach Spanien weiterzufahren: eine Nacht nach Paris, ein bisschen rumlaufen, dann die nächste weiter nach Barcelona. Sehr verlockend. Aber müsste man im Frühjahr machen, im Sommer ist es viel zu heiß.
Raus aus dem Bahnhof. Am Wasser gestanden, geschaut wie die Fähren an- und ablegten, hinterher geträumt.
"Wir haben eine Reiseintensität von 78 Prozent. Das bedeutet: 78 Prozent der deutschen Bevölkerung machen eine Reise von mindestens fünf Tagen im Jahr. Die meisten machen ein, zwei Reisen plus Kurzreisen." – Broezel
"Wir werden, wenn wir nicht mehr den Volvo Kombi für den Familienurlaub benutzen, auf bestimmte Dinge verzichten müssen, die wir nicht mit uns tragen können. Aber wir haben Campingurlaub in Portugal gemacht. Und wir sind über Paris umgestiegen und dann an die spanische Grenze und mit dem Nachtzug nach Lissabon. Das ging. Und wir haben zu viert das getragen, zwei Iglu-Zelte, kleine Iglu-Zelte, wo jeweils zwei Leute reinpassen. Wir können aber etwas anderes gewinnen: nämlich eine andere Form der Reiseerfahrung. Wir haben mit den Kindern auch eine Reise nach Korfu gemacht. Erst nach München, dann von München in den Nachtzug nach Venedig, morgens um halb sieben in Venedig ausgestiegen. Und wir sind dann um kurz vor sieben losgestiefelt, waren vor allen touristischen Massen am Markusplatz. Und es war eine völlig andere Form der Anreise. Und dann sind wir weiter gefahren mit einer Fähre nach Korfu, waren dann zwei Woche auf Korfu und dann sind wir zurückgeflogen. Und auf der ganzen Anreise über mehrere Tage mit Tagzug, Nachtzug und Fähre haben die Kinder, die waren damals sieben und zehn oder so, nicht einmal gemoppert, dass es langweilig wäre. Aber sie waren kaum im Flugzeug, so eine halbe Stunde, da haben sie gesagt: Papa, wann sind wir denn endlich da?" – Michael Adler, Politikwissenschaftler und Verkehrsfachmann
"Der Mittelmeerraum wird weniger attraktiv werden. Sie sehen jetzt schon Rückverlagerungseffekte in die skandinavischen Destinationen. Nord und Ostseeländer werden tatsächlich attraktive maritime Zieldestinationen. Und ich glaube, wenn man das tourismuspolitisch aufgreift und das diese Milieus auch attraktiver macht, für jüngere Familien mit Kindern, dann haben wir einen sehr gut funktionierenden Inbound-Tourism." – Rammler
"Wenn wir nicht mehr ins Ausland reisen, 78 Prozent der deutschen Bevölkerung reist fünf Tage plus in die Uckermark, dann haben wir Overtourism in der Uckermark." – Broezel

Tagebuch einer Berlin-Reise, 25. Juni 2039

Ich habe mir am Wannsee im Fahrradparkhaus ein Leih-Fahrrad geschnappt und bin nach Potsdam geradelt. Über den Hügel rüber, Pause an der Glienicker Brücke, dann einen großen Schlenker durch Potsdam. An Sanssouci vorbei, Schloss Charlottenhof, Cäcilienhof, nur vorbei, nichts besichtigt. Draußen ist es schöner. Dann ins Stadtzentrum. Alles sehr herausgeputzt, alles etwas zu fein gemacht, etwas viel demonstratives Preußentum. Lange Schlange am Museum Barberini. Auch draußen geblieben. Kann sowieso nicht so viel mit der Neuen Leipziger Schule anfangen. Stattdessen in eine tolle Eisdiele mit richtigen Sorten: Schokolade, Nuss und Vanille – nix Basilikum und Ingwer. Schließlich zum Potsdamer Bahnhof, das Rad in der dort in der Radstation abgegeben, denn noch einmal wollte ich nicht über den Hügel zwischen Potsdam und Berlin radeln.
"Wir werden viel mehr an den Zielorten einfache Angebote sehen. Dass man da, in Brandenburg, in der Lausitz, in Bayern irgendwo aussteigt und sofort eine ganze Bandbreite an fantastischen Rädern vorfindet, die man da zu einem günstigen Tarif leihen kann, sodass man nicht ständig diese Massen an Rädern in den Bahnen hat. Ich möchte Alternativen zum Auto, die ich auch spontan buchen kann. Wir brauchen eine App, mit der wir alles buchen können. Wir brauchen Mobilitätsflatrates. Wir brauchen einheitliche Ticket-Systeme, mit denen ich durchbuchen kann: das Fahrrad für die erste Meile, die Bahnreise und dann die Fahrt im Urlaub mit dem Rad." –Stephanie Krone

Tagebuch einer Berlin Reise, 25. Juni 2039

Von Potsdam wieder rein in die Stadt. Die S-Bahn fährt im Fünf-Minuten-Takt nach Berlin. Muss sie wohl auch wegen der vielen Pendler. Ist bestimmt trotzdem morgens ordentlich voll. Ob es einfach ist, aus dem Umland nach Potsdam oder Berlin reinzukommen? Viele fahren wohl Rad, in das Fahrradparkhaus neben dem Bahnhof passen bestimmt zehntausend Fahrräder.
Ich hab statt der S-Bahn diesmal den E-Bus nach Berlin genommen. Der braucht zwar länger, zuckelt gemütlich durch Babelsberg, Nikolassee und Zehlendorf bis nach Steglitz. Von Steglitz dann per Straßenbahn zum Hotel. Dauerte alles ewig, gab aber was zu sehen Erst viel Grün und viel Wasser, dann schöne Vorort-Villen, schließlich das Shopping-Paradies in Steglitz. Die ganze Bandbreite. Bin dort noch in eine Buchhandlung. Nur rumgestöbert, nichts gekauft.

"In ländlichen Regionen brauchen wir mehr Zeit. Wir brauchen mehr Verständnis dafür, dass viele Menschen dort Lebensmodelle fahren, die unter dem Stichwort Eigenheim-Automobilkultur zu buchen sind. Das ist das Lebensmodell der meisten Menschen auch in diesem Land. Das ist das klassische suburbane Lebensstilmodell. Diesen Leuten müssen Sie kluge Angebote machen. Da müssen Sie sagen: Okay, da brauchen wir vielleicht ein Stück weit mehr Automobilität. Aber muss man denn, um mobil zu sein in ländlichen Regionen einen 2,5 Tonnen schweren SUV fahren mit fossilem Motor oder kann man auch, wie ich das erlebt habe, als fünfköpfige Familie in den 70er-Jahren mit einem VW Käfer glücklich sein. Es ist nicht Menschenrecht, ein Automobil fahren zu dürfen, und es ist erst recht nicht Menschenrecht, ein bestimmtes Automobil fahren zu dürfen." – Stephan Rammler, Sozialwissenschaftler
Eine lange Reihe von Leihfahrrädern
Leihfahrräder und noch mehr Leihfahrräder - hier in Antwerpen: Sind sie das Fortbewegungsmittel der Zukunft?© JOKER
"Auf dem Land werden wir nur noch E-Autos haben. Ein paar auf dem Land werden auch lernen, dass man für einen Kilometer nicht mit dem Auto fährt, sondern mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Da sind die Landbewohner tatsächlich mal so ein bisschen: gerne mal im Auto sitzen. Ich komm ja selber vom Land, insofern bin ich auch berechtigt, dass zu sagen. Wenn wir die Einpendler anschauen, das ist dann etwas anderes. Da wird es, glaube ich, in der kurzen Zeit von zehn, zwanzig Jahren nicht einen massiven Ausbau des Schienenverkehrs geben, weil die Trassen und Gleise gar nicht da sind. Da werden wir wahrscheinlich weit, weit mehr an Mitfahrgelegenheiten haben. Das muss man steuerlich noch mehr fördern, und auf der zweiten Seite weit mehr an Bussen. Vielleicht auch so einen Erste-Klasse-Bus, wo dann eine Zeitung und ein Kaffee serviert werden." – Heinrich Strößenreuther

Tagebuch einer Berlin-Reise, 25. Juni 2039

Später habe ich mich mit C. und ihrer Freundin in Friedrichshain getroffen. Die beiden waren ganz begeistert von ihrem Besuch in den Neuköllner Tropen. Erst essen, in so einer Kneipe, dann eine Tour durch den abendlichen Kiez. Ein Kino, Galerien, Buchläden, eine kleines Theater, das Bürgerhaus, Konzerthaus, ein Yogazentrum – die kulturelle Grundversorgung ist gut ausgeprägt. Dazu ein paar Restaurants, die Tische draußen stehen haben, aber auch von der Straße abgetrennte kleine Nischen mit Spielgeräten für Kinder und Parkbänken. Dazwischen dann größere verschließbare Boxen für Fahrräder. Deren Metalltore ordentlich scheppern können. Wenn ich hier wohnen würde, wäre mir das vielleicht mitunter ein wenig zu laut. Dann haben wir uns ein kleines Elektroauto geschnappt und sind zum Hotel gefahren.
"Die Fahrleistungen bei den Innenstadtbewohnern sind stark rückläufig. Bei den Einpendlern nehmen sie zu. In Teilen wird es in den großen Städten eine Auseinandersetzung geben zwischen Innenstadtbewohnern und Villengegendbewohnern oder auch Außenbewohnern. Und die Innenstadtbewohner sagen: Wir wollen es auch so nett haben wie ihr da draußen, die Vöglein zwitschern, halbwegs gute Luft, wir machen euch die Einfahrt dicht." – Heinrich Strößenreuther

Tagebuch einer Berlin-Reise, 26. Juni 2039

Unser letzter Tag. Morgen geht es weiter an die Küste. Lange geschlafen, dann zum Frühstück in ein Café um die Ecke gegangen. Zuviel Alpenpanorama im Hotel. Ein paar Zeitungen gelesen, noch einen Extrakaffee, lange dem Straßenleben zugeguckt: dem Boten mit dem Lastenrad, dem Buchhändler, der den Tisch mit Angeboten und den Ständer mit den Postkarten nach draußen rollte – wenn man mir vor 20 Jahren erzählt hätte, dass es heute noch Buchhandlungen mit gedruckten Bücher gibt, hätte ich es nicht geglaubt – dem Bioladenbesitzer, der sorgfältig seine Tomaten, Gurken und Salate aufbaut, den Passanten, die aus dem U-Bahnhof strömen und sich im hier am Tresen noch schnell einen Kaffee zu Mitnehmen in ihre Becher schütten lassen, ein paar verspätete Schulkindern auf ihren Fahrrädern und Boards. Eine Kitagruppe bepflanzt ihren Vorgarten, der sich bis zu den früheren Parkbuchten ausgedehnt hat. Parkplätze gibt es in dieser Straße nicht. Aber auch keine Autos.

"Ich würde ja zunächst einmal immer die Frage stellen: Worauf verzichten wir denn unter den gegenwärtigen Bedingungen? Und wir verzichten ja auf saubere Luft, wir verzichten auf Ruhe, wir verzichten auf Sicherheit, wir verzichten auf Bewegungsfreiheit, wir verzichten auf Formen der Kommunikation, weil unsere Welt durch das klassische Modell des Individualverkehrs strukturiert ist. Das ist eine unfassbare Verzichtsleistung, die das Auto dem Menschen auferlegt. Wir würden ja unglaublich Lebensqualität gewinnen, wenn wir das loswerden würden." – Welzer
"Dahinter steckt sicherlich eine Traurigkeit über den Verlust der paradiesischen Zustände, zumindest für einen Teil der Menschen auf dieser Welt. Und da muss man sagen: Wir in Deutschland sind Teil einer absoluten fossilen Elite." – Rammler
Buchladen in Berlin-Schöneberg
Buchhandlungen wird es auch im Jahr 2039 noch geben, glaubt unser Autor Günther Wessel.© picture alliance / Tagesspiegel / Kitty Kleist-Heinrich

Tagebuch einer Berlin-Reise, 26. Juni 2039

Vier Tage sind einfach zu kurz. Die Stadt ist ja auch wahnsinnig gewachsen, jetzt leben hier schon mehr als vier Millionen Einwohner. Es gibt die alten Bezirke, die immer schön waren und schöner geworden sind: Kreuzberg, Schöneberg, Charlottenburg, Neukölln, Mitte, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Moabit. Die ruhigeren Stadtviertel wie Zehlendorf. Vieles hat sich verändert, allein schon, weil hier inzwischen mehr als vier Millionen Menschen wohnen. Die Stadt ist zwar gewachsen, aber nicht enger geworden. Sogar ruhiger, viel ruhiger, aber nicht weniger lebendig. Weil vieles sich geändert hat. Zu Hause ja auch. Aber was mir hier auffällt, sehe ich da ja eigentlich nie. Liegst wahrscheinlich daran, dass die Veränderungen sich so langsam vollziehen. Man merkt sie kaum, wenn man täglich draufschaut. Das typische staunende "Du bist ja groß geworden", was Großeltern immer zu Enkeln sagen, weil sie das tägliche Wachstum eben nicht miterleben.
"Es gibt zwei Möglichkeiten. Das eine, was immer als disruptiver Wandel in der Diskussion auftaucht, das irgendwo etwas zusammenbricht, sei es jetzt, dass Benzin sehr viel teurer wird, dass aus irgendwelchen Gründen das Verkehrssystem nicht so weiter funktionieren kann und wahrscheinlich auch das gesamte Wirtschaftssystem und auch die Lebensweise der Menschen betroffen sein wird. Wirtschaftswachstum und Verkehrswachstum hängt ja immer schon zusammen, und es hat bisher auch nicht funktioniert, die beiden Sachen zu entkoppeln. Und jetzt gerade mit dem Corona Virus ist dieser Zusammenhang wieder sichtbar. Die andere Möglichkeit ist, dass immer mehr Menschen sich von dem bestehenden System, von der bestehenden Art zu leben abwenden aus verschiedensten Gründen. Also diese Art der freiwilligen Verhaltensänderung oder auch Lebensstiländerungen, die sich in verschiedenen Bereichen ein Stück weit ja auch abzeichnet." – Katharina Manderscheid, Sozialwissenschaftlerin
"Das sind Prozesse kultureller Transformation, die lang brauchen." – Stephan Rammler, Sozialwissenschaftler
"Es war politisch gewollt, dass sich das Auto in der Geschichte durchgesetzt hat. Es waren sehr viele politische Entscheidungen, die Alternativen abgeschafft haben, Straßenbahnen, Fahrradverkehr, auch massenhaften Zugverkehr und ganz massiv das Auto gefördert haben. Und so besteht natürlich auch die Möglichkeit, Autoverkehr auch wieder einzuschränken, und andere Verkehrsformen zu fördern und attraktiver zu machen." – Manderscheid
"Die Politik ist der richtige Ort, Leitbildprozesse zu forcieren, Visionsarbeit zu forcieren, eine Basis für die Moderierung eines Diskurses zu bieten und selber in dem Diskurs mitzusprechen und selber irgendwann dann auch auf der Basis dieses Diskurses Entscheidungen zu treffen." – Rammler
"Moderne Zivilisation besteht darin, dass man Leuten auch mal was vorschreibt. Deshalb gibt es bei uns einen anderen Schusswaffengebrauch als in den USA. Deshalb gibt es eine Schulpflicht. In welcher Mickymauswelt lebt man denn da, wenn man das diskutiert bei jeder sinnvollen Maßnahme, die objektiv begründbar ist, wenn jemand sagt, ja aber wir wollen den Leuten nix vorschreiben." – Welzer

Tagebuch einer Berlin-Reise, 26. Juni 2039

Abreise. Ein bisschen wehmütig. War schön hier. Schöner als früher. Und bei aller Veränderung: Manches bleibt einfach immer gleich. Beim Zug an die Küste ist das Reservierungssystem ausgefallen. Aber immerhin: Er ist pünktlich.

Autor: Günther Wessel
Es sprachen: Annika Mauer, Robert Frank
Technik: Hermann Leppich
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig