"Tage mit Ermunterungsdimension"

Moderation: Holger Hettinger |
Die Generalsekretärin des 30. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Hannover, Friedricke von Kirchbach, beschreibt ihn als ein Fest. Die mehr als 3000 Veranstaltungen wären getragen von einer "Ermunterungsdimension". Überall sei eine Begeisterung spürbar, die sich auch auf die eingeladenen Politiker übertrage.
Hettinger: "Wenn dein Kind dich morgen fragt ...", das ist das Motto des diesjährigen Evangelischen Kirchentages. Noch bis zum Sonntag werden 100.000 Dauergäste und noch mehr Tagesbesucher zusammen beten, diskutieren, feiern. Im Studio von DeutschlandRadio Kultur auf dem evangelischen Kirchentag von Hannover ist nun Friedericke von Kirchbach, sie ist die Generalsekretärin des Kirchentages. Frau von Kirchbach, "Wenn Dein Kind Dich morgen fragt", wie ist denn Ihr persönlicher Zugang zu diesem Kirchentagsmotto?

Kirchbach: Ich bin von Haus aus Theologin und auch Pfarrerstochter, insofern ist der biblische Zugang schon sehr naheliegend. Das kommt aus dem fünften Buch Moses, das ist eines der spannendsten und grundlegendsten Bibelkapitel unseres Glaubens und insofern find ich das auch noch mal interessant: In welchem Kontext ist eigentlich diese Kinderfrage gestellt, und da geht es tatsächlich um die Glaubensregeln, die die Eltern den Kindern weitergeben.

Hettinger: Es geht aber um die elementare Erinnerungskultur des jüdischen Volkes. Ist das auch der Versuch eines Brückenschlages?

Kirchbach: Ja, das ist auch der Versuch. Das versucht übrigens der Kirchentag schon seit 40 Jahren und ich glaube, auch sehr gelungen. Natürlich, es geht um die Glaubensübergabe des Volkes Israel an die Kinder. Das ist ein ganz wichtiges Kapitel, gerade für das Volk der Jüdinnen und Juden, die darüber sprechen, das der Glauben damit beginnt, dass Gott befreit hat. Das ist auch gestern bei der Eröffnungspredigt von Margot Käßmann sehr schön gesagt worden: Glauben beginnt mit Freiheit.

Hettinger: Was ist denn das spezifisch evangelische an dieser Glaubenbotschaft?

Kirchbach: Das ist ein weiter Weg dahin. Ich glaube, das spezifisch evangelische Element darin ist die Freiheit des Gewissens, die darin besteht, dass man sich selbst als ein Einzelwesen seinem Gott gegenüber zu verantworten hat, was keine Vermittlungsinstanz braucht. Das kann man sehr leicht auch in Bezug auf die Frage nach den Grundlagen unseres Glaubens durchbuchstabieren.

Hettinger: So ein Kirchentag ist ja eine Mammutangelegenheit: 100.000 Dauergäste, dazu kommen etliche Tagesbesucher. Ich glaube, wenn man das nach den Methoden und Statistiken hochrechnet, mit denen Politikveranstaltungen ihre Gesamtbesucherzahlen ermitteln, dann kommt man auf die stolze Zahl von 900.000. Das ist ja schon eine ganz gewaltige Masse, die ja auch eine Stimme hat. Was kann denn so ein Kirchentag bewirken, haben Sie da schon eine Vision?

Kirchbach: Ja, habe ich. Ich glaube, dass der Kirchentag so etwas wie ein Fest ist, eine Abwechslung im Alltag. Kirchentag kann nicht immer sein. Das Schöne am Kirchentag ist, dass er alle zwei Jahre ist, und dann auch mal wieder vorbei ist, und eine überschaubare Zeit dauert, dass er aber in dieser Zeit sehr viel an Begeisterung und Kraftströmen auslösen kann, die einem dann im Alltag weiterhelfen können. Hoffnung und Begeisterung trägt einen dann auch über andere Stunden hinweg.

Hettinger: Aber es ist ja nicht so, dass der Kirchentag das ganz Andere ist, die kleine Arche auf der man gepflegt abschalten kann vom Alltag. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das Anliegen des Kirchentages ja auch Keimzelle, Kraftzelle zu sein, um dann ein Anliegen auch nach außen zu tragen in die Welt, vielleicht auch mit gesellschaftlichem, mitunter auch politischem Auftrag. Wie gelingt denn das?
Kirchbach: Wir haben dieses Mal ein sehr politisches Programm, weil wir auch unglaublich viele Zusagen von Politikerinnen und Politikern auch aus alle Welt haben. Insofern ist das natürlich auch genau das Anliegen. Feste bestehen ja nicht nur darin, dass man feiert und trinkt, sondern dass man sich auch gut miteinander verständigt und mehr begreift und weiter kommt. Das wäre für mich eine ganz wichtige Funktion, dass die Menschen hier sind, Debatten erleben, die ihnen selber helfen beim Begreifen der schweren Probleme unserer Gegenwart und für die Zukunft Wege finden.

Hettinger: Das ist der 30. Kirchentag, der jetzt in Hannover stattfindet, der größte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Gibt es da so etwas wie eine Entwicklung, einen Trend?

Kirchbach: Ja, man muss natürlich sagen, ein Kirchentag ist ein so riesiges Unternehmen, sie haben selber die Zahlen genannt, wir haben 3600 Veranstaltungen. Insofern kann man mit wenigen Worten das schwer sagen, aber es gibt einen Trend hin zu einer Sehnsucht nach spirituellen Veranstaltungen und auch einer Sehnsucht nach Spiritualität, nach Ruhe, nach Meditation, nach anderen spirituellen Praktiken auf dem Kirchentag. Das ist auffällig, dass unsere Teilnehmenden neben der politischen Debatte und dem Event, dem Fest, eben genau die andere Seite wollen, das Beten, das miteinander Singen, Meditieren, da ist ein großer Bedarf entstanden in den letzten Jahren.

Hettinger: Das heißt, die Kirchtagsbesucher sagen, klar, wir können natürlich über Globalisierung reden, aber wenn ich es richtig machen will, dann kann ich das bei "Attac" genauso gut, aber diese spirituelle Erfahrung, das ist jetzt was speziell Kirchliches, dafür brauche ich auch Gemeinde, dafür brauch ich auch Gemeinschaft?

Kirchbach: Ja, und das ist nicht mehr so selbstverständlich. Irgendwoher muss ich doch meine Kraft holen, für das, was ich tun will. Wenn ich Lust habe, die Welt zu verändern, wenn ich ein Engagement habe, wenn ich für etwas kämpfen will, brauche ich eine Kraftquelle und es wird jetzt mehr nach dieser Kraftquelle gefragt. Das passt dann auch wieder gut zu unserer Losung. Es gibt eine Halle der Spiritualität, einen Zeitraum Stille und ich glaube, das sind zum Beispiel zwei Räume, die sehr voll sein werden auf dem Kirchentag.

Hettinger: Klären Sie mich doch mal auf: Ich habe gar keine Vorstellung, wie das so mit der Altersstruktur da aussieht. Ich erinnere mich, dass frühere Kirchentage sehr stark geprägt waren von einer jugendlichen Ausstrahlung. Wie sieht das jetzt aus in diesem Spektrum? Hat sich da was geändert?

Kirchbach: Wir sind immer noch sehr jung. Das Durchschnittsalter liegt bei Mitte dreißig. Das geht also wirklich durch alle Generationen hindurch. Wir sind ein bisschen älter geworden. Das kann man negativ sehen, würde ich aber nicht, weil wir tatsächlich das, was man in der Wirtschaft gute Kundenbindung nennt, betreiben. Ich erlebe hier ganz oft, dass Eltern mit ihren inzwischen erwachsenen Kindern beim Kirchentag sind und beide noch ehrenamtlich etwas machen. Der Kirchentag ist ja ein riesiges ehrenamtliches Unternehmen. Wir haben die Hälfte derer die kommen, also 50.000 Ehrenamtliche, zu organisieren. Und die machen alle etwas.

Hettinger: Diese Suche nach Sinn und Orientierung wird ja in vielerlei Weise kanalisiert. Sie haben Gebetsrunden, es gibt Foren, es gibt Diskussionsgremien. Ich merke, in der Berichterstattung zum Kirchentag, da fallen eigentlich zwei andere Dinge auf, nämlich die Promienten. Da gibt es etliche Politiker die kommen, Spitzenpolitiker, die plötzlich und unerwartet zu Wahlkämpfern mutiert sind. Und natürlich etliche Vertreter, hohe evangelische Würdenträger. Nun ist ja der Kirchentag eigentlich ein Laientreffen. Haben Sie da nicht manchmal Angst, dass dieses spezifische Laienanliegen untergeht unter der Last der großen Fanfaren, hohe evangelische Würdenträger und Politiker?

Kirchbach: Ich glaube, dass die Würdenträger und Politiker, die Sie gerade beschrieben haben, sich beim Kirchentag verändern. Ich glaube, dass es hier so eine große Kirchtagsidentität gibt. Der Kirchentag wird nicht zur Wahlkampfbühne, die Gefahr besteht überhaupt nicht, weil unsere Teilnehmenden ein ganz sensibles Gespür für Authentizität haben, für die Echtheit einer Debatte. Und die merken sofort, wenn sie instrumentalisiert werden, und das wissen auch alle, die hier sind. Wenn man da ist, spürt man die Begeisterung. Es gibt einfach eine ganz eigene Dynamik, wo dann die Unterschiede, die Sie eben beschrieben haben, tatsächlich sehr nivelliert werden, und wo sich jeder große Politiker wünscht, auch Teil dieser Menge zu sein, die hier ganz fröhlich beieinander ist.

Hettinger: Wie weit passiert diese Veränderung, jetzt mal abgesehen von diesem Aspekt, dass man als Politiker dann Teil dieses Ganzen werden möchte?

Kirchbach: Man merkt es, dass gestern zum Beispiel schon bei den Grußworten, nach dem Eröffnungsgottesdienst, alle die da waren, Bundespräsident, Bundeskanzler, Ministerpräsident und Oberbürgermeister, schon angesteckt waren von der Begeisterung. Das kann man relativ schwer beschreiben, wenn man da ist, sieht man, dass es einfach freundlich, nett und sehr begeistert zugeht. Es ist vielleicht für welche, die von außen die Bilder sehen, fast schon befremdend, aber das macht den Kirchentag aus, dass hier ein Wille, eine gemeinschaftliche Begeisterung entsteht, die ich eben auch ein bisschen auf den Heiligen Geist zurückführe.

Hettinger: Also jetzt mal ein bisschen überspitzt: Kirchentag als Plattform für eine wahrhaftigere Politik?

Kirchbach: Ja, oder für eine Sehnsucht danach. Ich glaube, dass Kirchentag auch ein bisschen ein Abgehoben sein von unserer normalen Welt und dem Alltag, wie er sonst ist, ist. Das ist eben die Festdimension des Kirchtages. Es wird uns nicht gelingen, die Sachen eins zu eins zu übertragen. Wir werden hier eine besondere Stimmung, vielleicht auch einen besonderen Aufbruch erleben. Dass dann in einem halben Jahr genauso wiederzufinden in unserer Wirklichkeit, ist immer ein bisschen schwierig, denn das ist auch ein Problem, aber andererseits sollten wir dankbar sein, dass uns zumindest diese fünf Tage mit dieser Ermunterungsdimension gelingen.

Hettinger: Ermunterungsdimension, die, meinetwegen auch bei Politikern, bewirken kann: "Jawohl, jetzt gehe ich mal raus und lass mich dann auch beflügeln von diesem Geist und handele dann auch entsprechend"?

Kirchbach: Ja, ich glaube, dass hier ein Ort ist, weil tatsächlich die üblichen Fraktionen und Zwänge, die existieren, sind ja beim Kirchentag nicht so. Es funktioniert hier nach anderen Regeln und ich glaube, das Politiker hier zum Beispiel sehr offen hören, was gesagt wird, und es nicht von einem Lobby- oder Parteiinteresse geleitet ist, sondern weil es als Teil einer Gemeinschaft, die eine Sehnsucht nach mehr sozialer Gerechtigkeit zum Beispiel hat, entstanden ist. Und das ist, glaube ich, etwas, was der Kirchentag liefern kann: eine authentische Stimme, die nicht sofort wieder eine andere, zweite Hintergrundsbegründung hat.

Hettinger: ...und dadurch wirken kann auf Basis einer großen Tradition, aber auch auf Grund einer großen gesellschaftlichen Verpflichtung, die auf ganz klaren Normen und Moralvorstellungen letztendlich basiert.

Kirchbach: Ja, ich glaube, das sollten auch Christinnen und Christen aller Konfessionen sich in ihr Stammbuch schreiben, dass sie nicht nur für sich selber leben, und nur um das eigene Fortkommen sich mühen sollten, sondern dass sie eine Verantwortung haben für unsere Welt und deren Gestaltung, und die wird beim Kirchentag sehr spürbar, eben gekoppelt mit dieser freundlichen Begeisterung von der ich schon sprach.

Hettinger: Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch und wünsche Ihnen noch schöne Stunden auf dem Kirchentag.


Service:

Der 30. Deutsche Evangelische Kirchentag findet vom 25. bis 29. Mai 2005 in Hannover statt.

Link:

30. Deutscher Evangelischer Kirchentag