Tag des Kinderbuches

Keine Regenbogenfamilien für Ägypten

An der Decke über dem Stand der Kooperation Kinder- und Jugendbuch des Deutschen Taschenbuch Verlages (dtv) hängen am 14.03.2014 auf der Leipziger Buchmesse in Leipzig (Sachsen) Bücher an Fäden.
Kinderbücher hängen an Fäden. © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Salah Helal im Gespräch mit Dieter Kassel  · 02.04.2015
Zum Internationalen Tag des Kinderbuches kritisiert der ägyptische Übersetzer Salah Helal, dass viele deutsche Kinderbücher zu eurozentrisch seien. Das störe arabische Leser ebenso wie Episoden über Regenbogenfamilien und homosexuelle Paare.
Ägypten erlebe in den letzten Jahren einen Boom der Kinderliteratur, sagte der ägyptische Übersetzer und Germanist, Salah Helal, im Deutschlandradio Kultur. "Jedoch sind die meisten Kinderbücher übersetzte Bücher und keine authentisch arabischen", sagte er. Es gebe nur wenige Autoren, die sich darauf spezialisiert hätten. "Das hat auch mit dem Image des Kinderbuches und Jugendbuches zu tun." In Ägypten würden Bücher für Kinder als "zweitklassige Literatur" und Kinderbuchautoren nicht als echte Schriftsteller angesehen.
Probleme der Lesekultur
Helal wies darauf hin, dass es in der ganzen arabischen Welt ein großes Problem mit der Lesekultur gebe. Von 20 Kindern lese nur eines ein Buch. Jedes Kind lese im Jahr durchschnittlich nur sechs Minuten. Jedes Jahr würden 400 Bücher für Kinder gedruckt. "Im Vergleich sind das in Großbritannien 3800 ungefähr und in Frankreich über 2000", sagte der Übersetzer. Diese Unterschiede begründete Helal mit der wirtschaftlichen Lage, aber auch mit der Tradition mündlicher Überlieferung. "Man neigt eher dazu, Geschichten zu erzählen, nicht zu lesen." Dennoch gebe es Leser für Kinderliteratur.
"Zensur im Kopf"
In Ägypten existiere keine Zensur, aber jeder habe eine "Zensur im Kopf" und wisse, was gehe und was nicht gehe, sagte Helal. Er habe selbst das deutsche Kinderbuch "Alles Familie" ins Arabische übersetzen wollen, das verschiedene Formen der Familie vorstelle. "Aber da gibt es ein Kapitel, wo homosexuelle Beziehungen dargestellt werden und die sogenannten Regenbogenfamilien." Er habe beim deutschen Verlag angefragt, ob er diese Stelle auslassen oder umformulieren könne. Die Autorin habe das aber abgelehnt. "Das fand ich natürlich schade." Helal sprach davon, dass es mit Übersetzungen aus anderen Kulturen einige Probleme gebe. "In der arabischen Welt habe ich auch ein Problem bei vielen Büchern, die ich übersetzen will, dass sie sehr eurozentrisch sind", sagte er. Viele Bücher über Erfindungen berücksichtigten es nicht ausreichend, wenn Erfindungen arabischen Ursprungs seien. "Solche Sachen stören den arabischen Leser."

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Heute ist der Internationale Tag des Kinderbuchs. Überall auf der Welt, und damit auch in Ägypten. Dort lebt und arbeitet der Germanist und Übersetzer Salah Helal, er hat mehrere Kinderbücher schon ins Arabische übersetzt, gerade erst zum Beispiel das Theaterstück "Die Kuh Rosmarie" nach dem Bilderbuch "Die Kuh Rosalinde" des Schweizer Autors Andri Beyeler. Wenn Sie Kinder haben, dann kennen Sie das, in Deutschland ist das sehr beliebt. Schönen guten Morgen, Herr Helal!
Salah Helal: Einen wunderschönen guten Morgen aus dem sonnigen Kairo!
Kassel: Da machen Sie mich jetzt mal nicht neidisch, es schneit gerade hier bei uns draußen! Wie ist es grundsätzlich in Ägypten, was für eine Rolle spielen Kinderbücher da? Gibt es überhaupt so eine Art Kinderbuchkultur?
Helal: Die gibt es schon seit langer Zeit, auch mit Kindergeschichten, die mündlich überliefert worden sind. Und es gibt auch einen Boom in den letzten Jahren in diesem Bereich. Jedoch sind die meisten Kinderbücher übersetzte Bücher und keine authentisch arabischen.
Kassel: Das heißt, es gibt auch in Ägypten zurzeit kaum Kinderbuchautorinnen und -autoren?
Helal: Die gibt es, aber die sind sehr wenige. Und das ist oft dasselbe Problem wie in anderen Ländern, dass sie nicht spezialisiert sind auf Kinderbücher. Das hat auch natürlich mit dem Image des Kinderbuches und Jugendbuches zu tun. Also, ob das als eine Literatur und der Schriftsteller auch als ein Schriftsteller anerkannt wird, oder ist es eine zweitklassige Literatur irgendwie?
Kassel: Und das wird in Ägypten teilweise noch so gesehen, wer nicht für Erwachsene schreibt, ist auch kein richtiger Schriftsteller?
Helal: Mehr oder weniger, ja.
Jedes Jahr werden 400 Kinderbücher gedruckt
Kassel: Wie ist es denn mit der Nachfrage, wie verbreitet sind Kinderbücher, wie üblich ist es, dass Jungen und Mädchen in Ägypten wirklich ganz viele von diesen Büchern lesen?
Helal: Ganz viele nicht. Also, leider gibt es in der ganzen arabischen Welt ein großes Problem, was die Lesekultur anbetrifft. Also, ich kann Ihnen auch sagen, dass in der ganzen arabischen Welt alle 20 Kinder ein Buch lesen. Das heißt, für das Lesen gibt es für jedes Kind sechs Minuten im Jahr. Insgesamt werden jedes Jahr 400 Bücher für Kinder gedruckt. Im Vergleich sind es in Großbritannien 3800 ungefähr und in Frankreich über 2000. Also, hier nur 400.
Kassel: Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Ist es so schwer, die Bücher zu bekommen, sind die Eltern auch nicht daran interessiert, woran liegt das?
Helal: Ja, das hat viele Gründe. Einmal hat das mit der wirtschaftlichen Lage zu tun in vielen arabischen Ländern, aber auch mit der Kultur des mündlichen Überlieferns. Also, man neigt eher dazu, Geschichten zu erzählen, nicht zu lesen. Aber trotzdem gibt es auch Leser, die Kinderliteratur lesen, aus vier verschiedenen Gründen: Dafür gibt es religiöse Gründe, pädagogische, Bildungsziele gibt es auch und natürlich auch für die Unterhaltung.
Kassel: Wenn Sie sagen pädagogische Gründe, Bildungsziele, gerade in Ägypten: Mischt sich da auch der Staat ein? Gibt es zum Beispiel für Schulen oder Ähnliches so Bücherempfehlungslisten?
Helal: Nein, nein, die gibt es nicht. Also, da ist man wirklich frei zu wählen, was man will. Denn jeder, wie man sagt, hat diese Zäsur im Kopf. Also, jeder weiß, was geht und was nicht geht. Und auch die Übersetzer. Also, eine Zensur in der alten klassischen Form gibt es nicht mehr. Gott sei Dank.
Darstellung der Sexualität als Tabu
Kassel: Andererseits haben Sie ja gerade so ein bisschen auch schon angedeutet, Herr Helal, dass gewisse Dinge es – ich sage es mal vorsichtig –, auf die man achten muss auch als Übersetzer, noch gibt. Wenn Sie Kinderbücher aus Deutschland übersetzen oder aus der Schweiz auch, dann übersetzen Sie auch Bücher aus einem anderen Kulturkreis. Was geht denn da nicht? Ich nehme mal ein ganz einfaches Beispiel, bei der "Kuh Rosmarie" kommt ja nicht nur eine Kuh vor, sondern auch ein Schwein. Fängt es damit schon an?
Helal: Damit haben wir kein Problem, auch die Kinder, solange man das nicht essen muss, ist es kein Problem. Lesen darf man das. Aber es gibt andere Bereiche, die Tabus darstellen, zum Beispiel Sexualität. Das muss nicht unbedingt für Kinder sein. Sexuelle Aufklärung auf jeden Fall, damit die Kinder sich schützen können, aber ich nenne, wenn Sie mir erlauben, ein Beispiel: Ein Buch heißt "Alles Familie", ist ein sehr interessantes deutsches Buch, wollte ich ins Arabische übersetzen. Das ganze Buch stellt verschiedene Konstellationen der Familien vor.
Aber da gibt es ein Kapitel, wo homosexuelle Beziehungen dargestellt werden und die sogenannten Regenbogenfamilien. Ich habe dann den Verlag angeschrieben und gefragt, ob ich diese Stelle auslassen kann oder mindestens irgendwie umformulieren kann, nur andeuten. Und das wurde weitergeleitet an die Autorin und die hat das abgelehnt. Die meinte, dass dies der Intention des Buches zuwider laufen würde. Das fand ich natürlich schade, aber ... Das ist ein Problem bei den Übersetzungen aus anderen Kulturen und vor allem aus dem europäischen Kulturraum. Denn in China wollte man auch dieselbe Stelle auslassen und das wurde auch abgelehnt. In den USA ist man auch sehr konservativ, was Kinderbücher anbetrifft.
In der arabischen Welt habe ich auch ein Problem bei vielen Büchern, die ich übersetzen will, dass sie sehr eurozentrisch sind. Zum Beispiel gibt es viele Bücher über Erfindungen: Auto, Flugzeug und so weiter. Und so nennen diese Bücher den arabischen Ursprung für viele Erfindungen nicht, zum Beispiel das Thema Fliegen beziehungsweise Flugzeugerfindung. Da wird Abbas ibn Firnas aus dem 9. Jahrhundert überhaupt nicht erwähnt und die Kinderbücher erzählen dann ab dem 20. Jahrhundert, an den Brüdern Wright. Also, solche Sachen, die stören den arabischen Leser. Nicht dass man behaupten will, wir haben die Welt erfunden, überhaupt nicht, aber dass dieser Ursprung, ob das altgriechisch, römisch, altägyptisch ist, egal was, aber dass das auch erwähnt wird. Nicht dass immer zur Erscheinung kommt, als ob die Geschichte der Menschheit da angefangen hat, irgendwo im 20. Jahrhundert oder 18. Jahrhundert oder mit der Aufklärung oder so.
Warum schreiben Kinder nicht für einander
Kassel: Herr Helal, wenn Sie so was erzählen, Sie sind Germanist und Übersetzer, aber wenn Sie das jetzt gerade erzählen zum Schluss, was Ihnen da manchmal auch ganz persönlich fehlt in diesen europäischen Büchern, haben sie nicht manchmal Lust, selber ein Kinderbuch zu schreiben?
Helal: Oh, das würde ich gerne natürlich tun, ich schreibe im Moment andere Formen der Literatur, also, ich schreibe jetzt an einem Roman und an verschiedenen Kurzgeschichten, aber das andere Projekt habe ich vor. Ich habe es begonnen mit meinen eigenen Kindern, ich erzähle ihnen Geschichten, ich versuche auch zu sehen, wie sie darauf reagieren. Und ich möchte gerne auch mal das irgendwie ans Laufen bringen, dass die Kinder für sich schreiben. Also wir Erwachsenen, wir schreiben füreinander, warum schreiben die Kinder nicht für einander, die verstehen sich besser! Und wir können dann ein bisschen helfen. Aber das habe ich vor, auf jeden Fall.
Kassel: Dann wünsche ich Ihnen mit diesem Projekt und mit allem anderen viel Glück! Der Germanist und Übersetzer und eben auch Autor von Büchern – nicht nur Kinderbücher übrigens, aber eben unter anderem, deshalb haben wir am heutigen Tag darüber geredet –, Salah Helal war das bei uns im Gespräch. Herr Helal, vielen Dank, auf Wiederhören!
Helal: Ganz herzlichen Dank, Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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