Armutsausbreitung

Zur Tafel kommt jetzt auch der Mittelstand

07:38 Minuten
Eine Mitarbeiterin der Bremerhavener Tafel bereitet am 09.11.2017 in Bremerhaven (Bremen) Obst und Gemüse zur Verteilung vor.
Vier leere Einkaufstaschen darf jeder zur Ausgabe der Bremerhavener Tafel mitbringen. © picture alliance / dpa / Carmen Jaspersen (Symbolbild)
Von Dietrich Mohaupt |
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Steigende Lebensmittelpreise, explodierende Energiekosten: Für immer mehr Menschen wird die finanzielle Situation immer schwieriger. Das merkt auch die Bremerhavener Tafel. Jetzt kommen auch Menschen, die sich vor kurzem noch selbst versorgt haben.
Ein ganz normaler Vormittag bei der Bremerhavener Tafel: Vor dem Eingang eine lange Warteschlange, auf den Gängen vor der Lebensmittelausgabe herrscht dichtes Gedränge. Erst gegen Mittag lasse hier der Andrang ein wenig nach, erzählt Petra.
"Zwischen zwölf und eins ist es eigentlich relativ ruhig, da haben wir ein bisschen Pause, aber morgens ab zehn Uhr ist es wirklich schon sehr, sehr voll.“

50 Cent für Kinder, zwei Euro für Erwachsene

Wie die überwiegende Mehrheit der 85 Beschäftigten der Tafel hilft auch Petra ehrenamtlich bei allen Arbeiten mit, die so anfallen. Gerade kassiert sie die kleine Spende, um die alle gebeten werden, die sich Lebensmittel abholen wollen – zwei Euro für Erwachsene, 50 Cent für Kinder bis zwölf Jahre.
Viele kommen regelmäßig jede Woche. Man kennt sich inzwischen, sagt Petra: "Ja, so einigermaßen, denke ich schon. Mit der Zeit kennt man seine Pappenheimer hier."

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Und schon beendet ein Anruf den kleinen Smalltalk an der Kasse, die Arbeit ruft. In einem Raum gleich um die Ecke stehen auf großen Tischen Kisten voller Obst und Gemüse bereit, hier gibt es auch Brötchen und frisches oder abgepacktes Brot.
- "Dunkles Brot, wenn es geht."
- "Okay, dunkles Brot."

Vier leere Einkaufstaschen für jeden

Vier leere Einkaufstaschen darf jeder zur Tafel mitbringen – niemand geht wieder ohne prall gefüllte Taschen. Sieben Ausgabestellen im Stadtgebiet, 5800 registrierte Kunden, dazu seit Beginn des russischen Angriffskriegs rund 1800 Geflüchtete aus der Ukraine: Das sind die Zahlen hinter der Bremerhavener Tafel, erläutert der Leiter der Organisation, Manfred Jabs:
„Die Menschen, die hier zu uns kommen, dürfen einmal die Woche Ware abholen und so müssen wir auch pro Woche so ungefähr zehn Tonnen Lebensmittel zusammenbringen, die wir auch nicht mehr nur aus Supermärkten holen, weil das da auch alles ein bisschen enger kalkuliert wird. Wir fahren jetzt auch Lebensmittelfabriken an.“
Und so kommt es, dass in einem anderen Raum gleich zwei große Kühltruhen stehen, die bis an den Rand mit tiefgefrorenem Fisch gefüllt sind. Ein Paradies für Liebhaber der bekannten kleinen panierten Fischhappen.
"Wir sind als Bremerhaven natürlich Fisch-Produktionsstandort – und da kommt es dann mal vor, dass eine Firma nach England Ware verkauft hat, und dann diese Firma in England plötzlich abspringt, und dann wird bei uns gefragt, könnt ihr die gebrauchen? Und da schreien wir natürlich 'Hurra' und fahren dahin und holen uns dann zwei Paletten Fischstäbchen ab, sodass wir eigentlich in der letzten Zeit die Gefriertruhen immer voll haben."

Vor kurzem geflüchtet, jetzt Tafel-Helferin

Gut gefüllt sind auch die übrigen Kühlregale in dem Raum – Käse, Fleisch, abgepackte Wurst, die Auswahl ist groß. In dem Trubel kümmert sich Alona zügig aber geduldig um jeden einzelnen Wunsch, fragt nach besonderen Vorlieben oder auch religiösen Vorschriften für die Lebensmittel:
- "Ein, zwei Frischcreme?"
- "Eine."
- "Schwein?"
- "Nee, kein Schwein."
- "Geflügel?"
- "Geflügel bitte eins nur."
- "Fisch?"
- "Ja! Bitteschön."
- "Perfekt."
- "Alles klar!"
Vor fünf Monaten ist Alona selbst aus der Ukraine geflohen, jetzt packt sie hier regelmäßig mit an. „Ich helfe jeden Tag in der Tafel", sagt sie. Viele Leute kämen hier aus der Ukraine, aus Syrien, aus Bulgarien und Deutschland. "200 Leute jeden Tag."
Und täglich kommen mehr hinzu, bestätigt Manfred Jabs. Steigende Lebensmittelpreise, explodierende Energiekosten – für immer mehr Menschen werde die finanzielle Situation immer schwieriger.
"Wir spüren das hier eigentlich jeden Tag. Früher haben wir immer für uns gesagt: Wer weniger als 1000 Euro im Monat hat, ist für uns arm – oder 1200 Euro manchmal. Und mittlerweile sind es auch Leute, die noch ein bisschen mehr Geld haben, die hier zu uns kommen, und das sind so täglich zehn bis zwölf Anträge."

Vor dem Gang zur Tafel der Antrag

Erst vor kurzem hat auch Ivelina aus Bulgarien so einen Antrag auf einen Berechtigungsschein für die Bremerhavener Tafel gestellt. Die Mutter von zwei Kindern lebt und arbeitet gemeinsam mit ihrem Mann als EU-Bürgerin in Deutschland. Bisher kam die Familie mit einem gemeinsamen Monatseinkommen von rund 2000 Euro gut klar. Seit einiger Zeit komme sie aber ohne die Tafel nicht mehr aus, übersetzt Dolmetscher Boyan sinngemäß.
"Sie sagt: Der Auslöser dafür war einfach, dass alles viel teurer geworden ist, und wenn man später dann in die Einkaufstüte guckt, hat man nur fast die Hälfte davon, was man sonst immer kriegt für die Summe, die man jetzt auch bezahlt."
Der Familie fällt der regelmäßige Weg zur Tafel nicht leicht. Sie habe nicht gedacht, dass sie auf diese Art der Unterstützung einmal angewiesen sein würde, erzählt Ivelina:
"Sie sagt, sie möchte auf jeden Fall diese Unterstützung nicht brauchen müssen. Sie möchte einfach arbeiten, genauso wie sie jetzt arbeitet, wenn es geht, würde sie auch mehr arbeiten. Sie möchte einfach, dass sie mit ihrer eigenen Arbeit, mit ihrem eigenen Gehalt, dass sie alles ganz normal schafft und dass sie alles bezahlen kann. Sie sagt, sie fühlt sich natürlich nicht gut, dass sie diese Hilfe braucht gerade."

Klare Veränderungen beim Kreis der Antragsteller

Und genau so gehe es inzwischen immer mehr Besuchern der Tafel, betont Manfred Jabs. In den vergangenen Monaten habe sich der Kreis der Antragsteller deutlich verändert in Richtung Mittelschicht: "Wir haben mittlerweile nicht mehr nur die ganz Armen, die zu uns kommen, sondern auch Leute, die eigentlich in festen Berufen sind, die Geld verdienen, aber nicht mehr genug.“
Noch kann die Bremerhavener Tafel das stemmen, auch wenn es manchmal Tage gebe, an denen eben nicht alle Waren reichlich vorhanden seien, meint Manfred Jabs. Generell gelte aber: „Wir kommen damit noch klar, aber wir kriegen das nicht mehr so gut hin."

Wir müssen schon gucken, wo wir unsere Ware herkriegen und es gibt mittlerweile auch schon Tafeln, die sagen, wir können keine Kunden mehr annehmen. Also – wir kriegen es noch gebacken.

Manfred Jabs, Leiter der Bremerhavener Tavel

Das funktioniert, weil es manchmal sogar richtig gute Tage für die Bremerhavener Tafel gibt. Ein Anrufer hat gerade eine ganz besonders großzügige Spende angeboten. Manfred Jabs will da natürlich sofort zugreifen.
"Solche Tage gibt es. Und ich muss das jetzt gleich noch organisieren: Da sollen wir elf Paletten Feinkostsalate von einer Fabrik abholen. Wurstwaren sind genug da, Feinkostsalate kommen noch dazu – also, im Moment können wir unseren Kunden wirklich wieder alles bieten."
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