Tätervideos sind "gefährliche Materialien"
Es sei sinnvoll, dass möglichst wenig über Amokläufer und ihre Taten an die Öffentlichkeit gerate, um Nachahmungseffekte zu vermeiden, sagt der Entwicklungspsychologie Herbert Scheithauer anlässlich des Jahrestages des Amoklaufs von Winnenden. Wenn über einen Amoklauf berichtet wird, dann sollten die Opfer und "die schlimmen Folgen" im Mittelpunkt stehen.
Britta Bürger: Das schwäbische Winnenden hat heute ein Presseverbot erlassen, vermutlich würde die Kleinstadt sonst überlaufen vor Kamerateams und Journalisten. Fast auf die Minute ist es ein Jahr her, dass bei einem Attentat an der Albertville-Realschule 15 Menschen erschossen und elf weitere verletzt wurden. Der Täter, ein 17-jähriger ehemaliger Schüler tötete schließlich auch sich selbst. Ein Jahr danach wollen wir im Gespräch zurück und vor allem auch nach vorn schauen mit der Frage, ob und wie sich solche Schulmassaker verhindern lassen. Das ist die Fragestellung, unter der der Psychologieprofessor Herbert Scheithauer an der Freien Universität Berlin ein Forschungsprojekt leitet. Herr Scheithauer, ich grüße Sie!
Herbert Scheithauer: Ja, schönen guten Morgen, ich grüße Sie recht herzlich!
Bürger: Sie haben Ihre Untersuchungen ja bereits vor dem Attentat in Winnenden begonnen, was haben Sie aber an jenem 11. März 2009 gedacht, als Sie vom Amoklauf an der Albertville-Realschule erfahren haben?
Scheithauer: Als ich davon erfahren habe, war mir sehr schnell klar, dass wir mit unseren Forschungen noch sehr am Anfang stehen. Wir glauben immer, sehr viel zu wissen, aber wir stehen tatsächlich, insbesondere in Deutschland, mit den Forschungen sehr am Anfang und müssen auch noch mehr Zeit investieren, um mehr herauszufinden über die Hintergründe solcher Taten, damit wir sie möglichst an Schulen verhindern können. Und mein zweiter Gedanke war, wie fürchterlich, dass es wieder passiert, und natürlich geht man im Geiste schon die bekannten Merkmale durch, ob hier vielleicht eine ähnliche Situation vorlag. Wir wissen aus der retrospektiven Betrachtung früherer Fälle, dass sich ja im Vorfeld immer gewisse Warnzeichen gezeigt haben, und als Erstes liegt da natürlich der Gedanke nahe, gab es die vielleicht auch hier.
Bürger: Und gab es sie?
Scheithauer: Das ist sehr schwer zu beurteilen, aus dem einfachen Grund: Das, was wir in den Medien immer an Berichterstattungen zu den einzelnen Themen wahrnehmen, unterscheidet sich teilweise schon sehr zu dem, was wir auf der Basis harter Befunde und Fakten zum Beispiel in den entsprechenden Prozessgerichtsakten in den Zeugenaussagen finden. Wir haben uns in unserer Forschung im Berliner Leaking-Projekt intensiv mit den in Deutschland geschehenen Fällen passiert auf der Basis solcher Akten und haben teilweise schon Unterschiede gefunden zu den Berichterstattungen in den Medien. Da uns bisher die Akten aus Winnenden noch nicht vorliegen, bin ich zunächst erst mal sehr vorsichtig in meinen Aussagen zu dem konkreten Fall.
Bürger: Sie haben es eben angesprochen, das Leaking-Projekt – Leaks, das ist die englische Bezeichnung für Lecks, also Lecks in der Persönlichkeit von in diesem Fall wohl fast immer jungen Männern, die dann zu Mördern werden. Was sind das für Lecks?
Scheithauer: Tatsächlich ist es so, dass wir sowohl bei den im internationalen Raum, zum Beispiel in den USA, geschehenen Fällen als auch bei den in Deutschland geschehenen Fällen immer wieder in der retrospektiven Betrachtung feststellen, dass es im Vorfeld gewisse Hinweise auf eine Tat gab. Das heißt, im Vorfeld einer solchen Tat, manchmal auch über längere Zeiträume wiederholt, haben Täter auf sich, auf ihr Befinden, auf ihre Rachefantasien oder sogar auf eine konkrete Tat hingewiesen.
Bürger: Das sind versteckte Hinweise, die Sie – Sie hatten ja Zugang zu sehr vielen Akten vieler Schulschießereien in Deutschland – versteckte Hinweise, die Sie dann wo gefunden haben?
Scheithauer: Also tatsächlich muss man zunächst noch mal sagen, so häufig ist dieses Phänomen zum Glück nicht, dass man von sehr vielen Akten sprechen kann. Tatsächlich haben wir einerseits die in Deutschland geschehenen Taten – und dabei sind auch Taten, die nicht so spektakulär, sprich mit sehr vielen Opfern glücklicherweise abgelaufen sind oder wo eine Tat auch noch verhindert werden konnte – angeschaut, das sind ungefähr innerhalb der letzten zehn Jahre zehn Taten für den deutschen Sprachraum. Weitaus häufiger sind allerdings auch die uns vorliegenden Akten zu Androhungen solcher Taten. Wir bekommen die Kenntnisse über solche Phänomene tatsächlich immer aus den Akten, aus den Materialien, die gesammelt wurden, zum Beispiel von der Schule oder von der Polizei. Im Nachhinein in den geschehenen Fällen wird geschaut auf den Rechnern beispielsweise der Täter oder im Kinderzimmer der Täter. Oder es liegen eben auch – damit es überhaupt zu einer Anzeige kam – entsprechende Merkmale vor. Das heißt, ein Täter hat zum Beispiel gedroht, und es wurde dann bei ihm auch eine entsprechende Liste mit Namen gefunden, bevor eine Tat geschehen ist. Und diese Merkmale, diese Materialien stehen uns dann zur Verfügung, sodass wir sie wissenschaftlich auswerten können.
Bürger: Und haben Sie Erkenntnisse darüber, was Menschen unterscheidet, die mit einem Amoklauf in Gedanken spielen, dann von denen, die es tatsächlich machen?
Scheithauer: Ja, tatsächlich gehen wir davon aus, dass alle Taten oder alle Täter, die später eine solche Tat begangen haben, im Vorfeld tatsächlich sich gedanklich sehr genau mit solchen Taten auch auseinandergesetzt haben. Es gibt auch gerade bei den amerikanischen Fällen, die teilweise dadurch, dass sie sehr detailgetreu dokumentiert wurden, weil beispielsweise während die Tat geschehen ist, Überwachungskameras das Geschehen gefilmt haben. Aus diesen Taten wissen wir, dass teilweise die Täter sogar über längere Zeiträume, manchmal ein, zwei Jahre die Tat genau geplant haben und bis ins Detail genau sich überlegt haben, wie sie vorgehen werden. Und es ist sehr schwer abzugrenzen, wann sozusagen solche Fantasien gefährlich werden. Wir wissen aber, dass natürlich auch als eine ganz normale Emotionsregulationsstrategie – so reguliere ich zum Beispiel Wut, wenn ich wütend bin – wir ab und an Gewaltfantasien haben. Tatsächlich gibt es noch sehr wenig Forschung dazu. Wir haben selbst auch über Fragebogenverfahren zunächst erst mal versucht, uns einen Eindruck darüber zu verschaffen, wie normal ist das eigentlich, dass man Rachefantasien hat und sich vielleicht auch mal vorstellt, jemanden wirklich zu verletzen, und worin unterscheiden sich vielleicht Personen, dass sie dann irgendwann beginnen, aus diesen anfänglichen Rachefantasien aus einer sehr subjektiven Betroffenheit vielleicht Opfer oder benachteiligt zu sein, nach und nach tatsächlich eher eine Tat zu planen.
Bürger: Aber welche Antwort gibt es darauf, warum wird der eine zum Mörder und der andere nicht?
Scheithauer: Wir gehen davon aus, dass es keine einfache Antwort gibt und keine, die nur in einem Bereich liegt, sondern aus der Rekonstruktion früherer Taten wissen wir, dass ja nicht nur die Rachefantasien im Einzelnen, sondern noch weitere Faktoren hinzukommen, die erklären können, warum es zu einer Tat gekommen ist. Das heißt, wir haben oftmals Täter, die vielleicht eine gewisse psychische Struktur auch aufgewiesen haben, die vielleicht eher eine depressive Persönlichkeit, Persönlichkeitsstruktur haben, vielleicht auch im Sinne einer narzisstischen Kränkung sehr extrem auf negative Rückmeldung aus ihrem sozialen Umfeld reagieren. Wenn dann noch hinzukommt, dass vielleicht jemand aufgrund einer depressiven Symptomatik auch schon Todessehnsüchte hat und über Suizid und Selbstmord nachdenkt, ist das eine ganz bestimmte Kombination einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, die dann vielleicht in eine Richtung gehen, dass ein Täter tatsächlich eine solche Tat nicht nur in Gedanken plant, sondern irgendwann sagt, ich setze das um. Gerade wenn dann noch bestimmte Lebensereignisse zum Beispiel hinzukommen – zum Beispiel macht ein Täter die Erfahrung, dass sich auch noch der letzte und einzige Freund von ihm abwendet oder die einzige Partnerin abwendet oder jemand in der Familie stirbt – und das bringt dann eventuell in einem bestimmten Moment das Fass sozusagen zum Überlaufen.
Bürger: Ein Jahr nach dem Schulmassaker in Winnenden sprechen wir im Deutschlandradio Kultur mit dem Entwicklungspsychologen Herbert Scheithauer darüber, ob und wie man solche Attentate künftig verhindern kann. Sie haben eingangs schon die Rolle der Medien angesprochen, die Bilder von solchen Schulmassakern verbreiten, die sich doch sehr von der Aktenlage unterscheiden. Inwieweit unterscheiden die sich?
Scheithauer: Zum einen ist es so, dass wir feststellen, dass beispielsweise Bilder von Tätern mit ihren Beweggründen, warum sie diese Tat begangen haben, eventuell bei anderen Personen, die ebenso für sich das Gefühl haben, nicht dazuzugehören, außen vor zu stehen, Opfer zu sein, dazu führen, dass sie sagen: Ha, dem geht es genauso wie mir, und er hat einen Weg bestritten, den auch ich bestreiten werde. Wir finden also sehr häufig Bezüge zu früheren Taten. Das heißt, ein Täter hat sich gedanklich mit den Gründen und Beweggründen früherer Täter auseinandergesetzt, und da spielen die Medien natürlich eine ganz wichtige Rolle. Und unter Medien verstehe ich auch die Möglichkeiten von Web2, das World Wide Web, dass ja einige Täter auch manchmal sogar post mortem, als sie schon verstorben waren, ihre Botschaften noch über YouTube in die Welt gesandt haben. Das sind wirklich, ja, man kann es fast als gefährliche Materialien bezeichnen, die eventuell dazu beitragen, dass andere Personen sich angeregt fühlen, einen ähnlichen Weg zu gehen. Deshalb sollte man versuchen, so etwas in den Medien nicht in dieser Art und Weise darzustellen.
Bürger: Wie wäre denn eine sinnvolle Berichterstattung Ihrer Ansicht nach?
Scheithauer: Wenn es nach mir ginge, würde ich dafür plädieren, dass überhaupt nicht der Täter und Bilder vom Täter beispielsweise und seine Beweggründe entsprechend in die Öffentlichkeit geraten, dass, wenn über solche Taten berichtet wird, über die Opfer berichtet wird, über die schlimmen Folgen solcher Taten und dass insgesamt möglichst wenig – so ähnlich, wie wir das auch im Umgang mit Suizidphänomenen schon bereits haben in der Berichterstattung – dass möglichst wenig über diese Taten berichtet wird.
Bürger: Ein Sonderausschuss des Stuttgarter Landtags hat soeben 100 Empfehlungen vorgelegt, mit denen Amokläufe an Schulen in Baden-Württemberg künftig erschwert werden sollen. Dazu gehören auch mehr Gewaltpräventionsberater, mehr Schulpsychologen, mehr Beratungslehrer. Könnte dieses Stuttgarter Modell dann auch bundesweit wegweisend werden, oder ist das jetzt so ein Alleingang?
Scheithauer: Also ich glaube, gerade nach den schlimmen Taten, die in Deutschland geschehen sind, ist es so, dass natürlich immer relativ schnell nach Lösungsansätzen gesucht wird. Gerade nach Winnenden haben wir jetzt die Situation, dass sehr intensiv mit sehr viel fachlicher Begleitung auch nach Lösungsansätzen gesucht wird. Dennoch bin ich der Ansicht, dass wir bei einigen der geforderten Maßnahmen auch wirklich schauen müssen, welche Wirkung sie tatsächlich haben werden. Ich glaube schon, dass wir mit wissenschaftlichen Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen, in die Evaluation solcher Strategien gehen müssen, nur dann werden wir herausfinden, welche Maßnahmen unter welchen Bedingungen für wen eigentlich genau sinnvoll sind, um möglicherweise Taten zu verhindern. Ein zweites Problem ist ja, dass wir gar nicht unbedingt nur Taten verhindern wollen, sondern dass wir an den Schulen eine ganz große Verunsicherung wahrnehmen, dass Lehrer, Schüler, Eltern verunsichert sind, Angst haben vor dem, was vielleicht passieren könnte. Und hier gilt es, tatsächlich an den Schulen einerseits wieder dieses Sicherheitsgefühl zu fördern und andererseits Handlungskompetenzen im Umgang auch mit angedrohten Taten, die ja viel häufiger passieren als tatsächliche Taten, zu vermitteln. Und der zweite Weg ist sicherlich, darüber auch nachzudenken, was Schule generell ist und wie Schule funktioniert, damit wir über ein verbessertes Schulklima, ein verbessertes soziales Miteinander auch die Zeit und die Möglichkeiten haben, dass sich Lehrer viel intensiver um Schüler kümmern können und vielleicht auch hingucken können und wahrnehmen können, dass es einem Schüler schlechtgeht. Dafür braucht man auch schlichtweg einerseits die Ausbildung, andererseits die Möglichkeiten und Ressourcen.
Bürger: Ein Frühwarnsystem für Amokläufe. Darüber forscht der Berliner Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer, und darüber sprachen wir am heutigen ersten Jahrestag des Amoklaufs an der Albertville-Realschule in Winnenden. Herr Scheithauer, vielen Dank!
Scheithauer: Ich danke Ihnen auch!
Herbert Scheithauer: Ja, schönen guten Morgen, ich grüße Sie recht herzlich!
Bürger: Sie haben Ihre Untersuchungen ja bereits vor dem Attentat in Winnenden begonnen, was haben Sie aber an jenem 11. März 2009 gedacht, als Sie vom Amoklauf an der Albertville-Realschule erfahren haben?
Scheithauer: Als ich davon erfahren habe, war mir sehr schnell klar, dass wir mit unseren Forschungen noch sehr am Anfang stehen. Wir glauben immer, sehr viel zu wissen, aber wir stehen tatsächlich, insbesondere in Deutschland, mit den Forschungen sehr am Anfang und müssen auch noch mehr Zeit investieren, um mehr herauszufinden über die Hintergründe solcher Taten, damit wir sie möglichst an Schulen verhindern können. Und mein zweiter Gedanke war, wie fürchterlich, dass es wieder passiert, und natürlich geht man im Geiste schon die bekannten Merkmale durch, ob hier vielleicht eine ähnliche Situation vorlag. Wir wissen aus der retrospektiven Betrachtung früherer Fälle, dass sich ja im Vorfeld immer gewisse Warnzeichen gezeigt haben, und als Erstes liegt da natürlich der Gedanke nahe, gab es die vielleicht auch hier.
Bürger: Und gab es sie?
Scheithauer: Das ist sehr schwer zu beurteilen, aus dem einfachen Grund: Das, was wir in den Medien immer an Berichterstattungen zu den einzelnen Themen wahrnehmen, unterscheidet sich teilweise schon sehr zu dem, was wir auf der Basis harter Befunde und Fakten zum Beispiel in den entsprechenden Prozessgerichtsakten in den Zeugenaussagen finden. Wir haben uns in unserer Forschung im Berliner Leaking-Projekt intensiv mit den in Deutschland geschehenen Fällen passiert auf der Basis solcher Akten und haben teilweise schon Unterschiede gefunden zu den Berichterstattungen in den Medien. Da uns bisher die Akten aus Winnenden noch nicht vorliegen, bin ich zunächst erst mal sehr vorsichtig in meinen Aussagen zu dem konkreten Fall.
Bürger: Sie haben es eben angesprochen, das Leaking-Projekt – Leaks, das ist die englische Bezeichnung für Lecks, also Lecks in der Persönlichkeit von in diesem Fall wohl fast immer jungen Männern, die dann zu Mördern werden. Was sind das für Lecks?
Scheithauer: Tatsächlich ist es so, dass wir sowohl bei den im internationalen Raum, zum Beispiel in den USA, geschehenen Fällen als auch bei den in Deutschland geschehenen Fällen immer wieder in der retrospektiven Betrachtung feststellen, dass es im Vorfeld gewisse Hinweise auf eine Tat gab. Das heißt, im Vorfeld einer solchen Tat, manchmal auch über längere Zeiträume wiederholt, haben Täter auf sich, auf ihr Befinden, auf ihre Rachefantasien oder sogar auf eine konkrete Tat hingewiesen.
Bürger: Das sind versteckte Hinweise, die Sie – Sie hatten ja Zugang zu sehr vielen Akten vieler Schulschießereien in Deutschland – versteckte Hinweise, die Sie dann wo gefunden haben?
Scheithauer: Also tatsächlich muss man zunächst noch mal sagen, so häufig ist dieses Phänomen zum Glück nicht, dass man von sehr vielen Akten sprechen kann. Tatsächlich haben wir einerseits die in Deutschland geschehenen Taten – und dabei sind auch Taten, die nicht so spektakulär, sprich mit sehr vielen Opfern glücklicherweise abgelaufen sind oder wo eine Tat auch noch verhindert werden konnte – angeschaut, das sind ungefähr innerhalb der letzten zehn Jahre zehn Taten für den deutschen Sprachraum. Weitaus häufiger sind allerdings auch die uns vorliegenden Akten zu Androhungen solcher Taten. Wir bekommen die Kenntnisse über solche Phänomene tatsächlich immer aus den Akten, aus den Materialien, die gesammelt wurden, zum Beispiel von der Schule oder von der Polizei. Im Nachhinein in den geschehenen Fällen wird geschaut auf den Rechnern beispielsweise der Täter oder im Kinderzimmer der Täter. Oder es liegen eben auch – damit es überhaupt zu einer Anzeige kam – entsprechende Merkmale vor. Das heißt, ein Täter hat zum Beispiel gedroht, und es wurde dann bei ihm auch eine entsprechende Liste mit Namen gefunden, bevor eine Tat geschehen ist. Und diese Merkmale, diese Materialien stehen uns dann zur Verfügung, sodass wir sie wissenschaftlich auswerten können.
Bürger: Und haben Sie Erkenntnisse darüber, was Menschen unterscheidet, die mit einem Amoklauf in Gedanken spielen, dann von denen, die es tatsächlich machen?
Scheithauer: Ja, tatsächlich gehen wir davon aus, dass alle Taten oder alle Täter, die später eine solche Tat begangen haben, im Vorfeld tatsächlich sich gedanklich sehr genau mit solchen Taten auch auseinandergesetzt haben. Es gibt auch gerade bei den amerikanischen Fällen, die teilweise dadurch, dass sie sehr detailgetreu dokumentiert wurden, weil beispielsweise während die Tat geschehen ist, Überwachungskameras das Geschehen gefilmt haben. Aus diesen Taten wissen wir, dass teilweise die Täter sogar über längere Zeiträume, manchmal ein, zwei Jahre die Tat genau geplant haben und bis ins Detail genau sich überlegt haben, wie sie vorgehen werden. Und es ist sehr schwer abzugrenzen, wann sozusagen solche Fantasien gefährlich werden. Wir wissen aber, dass natürlich auch als eine ganz normale Emotionsregulationsstrategie – so reguliere ich zum Beispiel Wut, wenn ich wütend bin – wir ab und an Gewaltfantasien haben. Tatsächlich gibt es noch sehr wenig Forschung dazu. Wir haben selbst auch über Fragebogenverfahren zunächst erst mal versucht, uns einen Eindruck darüber zu verschaffen, wie normal ist das eigentlich, dass man Rachefantasien hat und sich vielleicht auch mal vorstellt, jemanden wirklich zu verletzen, und worin unterscheiden sich vielleicht Personen, dass sie dann irgendwann beginnen, aus diesen anfänglichen Rachefantasien aus einer sehr subjektiven Betroffenheit vielleicht Opfer oder benachteiligt zu sein, nach und nach tatsächlich eher eine Tat zu planen.
Bürger: Aber welche Antwort gibt es darauf, warum wird der eine zum Mörder und der andere nicht?
Scheithauer: Wir gehen davon aus, dass es keine einfache Antwort gibt und keine, die nur in einem Bereich liegt, sondern aus der Rekonstruktion früherer Taten wissen wir, dass ja nicht nur die Rachefantasien im Einzelnen, sondern noch weitere Faktoren hinzukommen, die erklären können, warum es zu einer Tat gekommen ist. Das heißt, wir haben oftmals Täter, die vielleicht eine gewisse psychische Struktur auch aufgewiesen haben, die vielleicht eher eine depressive Persönlichkeit, Persönlichkeitsstruktur haben, vielleicht auch im Sinne einer narzisstischen Kränkung sehr extrem auf negative Rückmeldung aus ihrem sozialen Umfeld reagieren. Wenn dann noch hinzukommt, dass vielleicht jemand aufgrund einer depressiven Symptomatik auch schon Todessehnsüchte hat und über Suizid und Selbstmord nachdenkt, ist das eine ganz bestimmte Kombination einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, die dann vielleicht in eine Richtung gehen, dass ein Täter tatsächlich eine solche Tat nicht nur in Gedanken plant, sondern irgendwann sagt, ich setze das um. Gerade wenn dann noch bestimmte Lebensereignisse zum Beispiel hinzukommen – zum Beispiel macht ein Täter die Erfahrung, dass sich auch noch der letzte und einzige Freund von ihm abwendet oder die einzige Partnerin abwendet oder jemand in der Familie stirbt – und das bringt dann eventuell in einem bestimmten Moment das Fass sozusagen zum Überlaufen.
Bürger: Ein Jahr nach dem Schulmassaker in Winnenden sprechen wir im Deutschlandradio Kultur mit dem Entwicklungspsychologen Herbert Scheithauer darüber, ob und wie man solche Attentate künftig verhindern kann. Sie haben eingangs schon die Rolle der Medien angesprochen, die Bilder von solchen Schulmassakern verbreiten, die sich doch sehr von der Aktenlage unterscheiden. Inwieweit unterscheiden die sich?
Scheithauer: Zum einen ist es so, dass wir feststellen, dass beispielsweise Bilder von Tätern mit ihren Beweggründen, warum sie diese Tat begangen haben, eventuell bei anderen Personen, die ebenso für sich das Gefühl haben, nicht dazuzugehören, außen vor zu stehen, Opfer zu sein, dazu führen, dass sie sagen: Ha, dem geht es genauso wie mir, und er hat einen Weg bestritten, den auch ich bestreiten werde. Wir finden also sehr häufig Bezüge zu früheren Taten. Das heißt, ein Täter hat sich gedanklich mit den Gründen und Beweggründen früherer Täter auseinandergesetzt, und da spielen die Medien natürlich eine ganz wichtige Rolle. Und unter Medien verstehe ich auch die Möglichkeiten von Web2, das World Wide Web, dass ja einige Täter auch manchmal sogar post mortem, als sie schon verstorben waren, ihre Botschaften noch über YouTube in die Welt gesandt haben. Das sind wirklich, ja, man kann es fast als gefährliche Materialien bezeichnen, die eventuell dazu beitragen, dass andere Personen sich angeregt fühlen, einen ähnlichen Weg zu gehen. Deshalb sollte man versuchen, so etwas in den Medien nicht in dieser Art und Weise darzustellen.
Bürger: Wie wäre denn eine sinnvolle Berichterstattung Ihrer Ansicht nach?
Scheithauer: Wenn es nach mir ginge, würde ich dafür plädieren, dass überhaupt nicht der Täter und Bilder vom Täter beispielsweise und seine Beweggründe entsprechend in die Öffentlichkeit geraten, dass, wenn über solche Taten berichtet wird, über die Opfer berichtet wird, über die schlimmen Folgen solcher Taten und dass insgesamt möglichst wenig – so ähnlich, wie wir das auch im Umgang mit Suizidphänomenen schon bereits haben in der Berichterstattung – dass möglichst wenig über diese Taten berichtet wird.
Bürger: Ein Sonderausschuss des Stuttgarter Landtags hat soeben 100 Empfehlungen vorgelegt, mit denen Amokläufe an Schulen in Baden-Württemberg künftig erschwert werden sollen. Dazu gehören auch mehr Gewaltpräventionsberater, mehr Schulpsychologen, mehr Beratungslehrer. Könnte dieses Stuttgarter Modell dann auch bundesweit wegweisend werden, oder ist das jetzt so ein Alleingang?
Scheithauer: Also ich glaube, gerade nach den schlimmen Taten, die in Deutschland geschehen sind, ist es so, dass natürlich immer relativ schnell nach Lösungsansätzen gesucht wird. Gerade nach Winnenden haben wir jetzt die Situation, dass sehr intensiv mit sehr viel fachlicher Begleitung auch nach Lösungsansätzen gesucht wird. Dennoch bin ich der Ansicht, dass wir bei einigen der geforderten Maßnahmen auch wirklich schauen müssen, welche Wirkung sie tatsächlich haben werden. Ich glaube schon, dass wir mit wissenschaftlichen Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen, in die Evaluation solcher Strategien gehen müssen, nur dann werden wir herausfinden, welche Maßnahmen unter welchen Bedingungen für wen eigentlich genau sinnvoll sind, um möglicherweise Taten zu verhindern. Ein zweites Problem ist ja, dass wir gar nicht unbedingt nur Taten verhindern wollen, sondern dass wir an den Schulen eine ganz große Verunsicherung wahrnehmen, dass Lehrer, Schüler, Eltern verunsichert sind, Angst haben vor dem, was vielleicht passieren könnte. Und hier gilt es, tatsächlich an den Schulen einerseits wieder dieses Sicherheitsgefühl zu fördern und andererseits Handlungskompetenzen im Umgang auch mit angedrohten Taten, die ja viel häufiger passieren als tatsächliche Taten, zu vermitteln. Und der zweite Weg ist sicherlich, darüber auch nachzudenken, was Schule generell ist und wie Schule funktioniert, damit wir über ein verbessertes Schulklima, ein verbessertes soziales Miteinander auch die Zeit und die Möglichkeiten haben, dass sich Lehrer viel intensiver um Schüler kümmern können und vielleicht auch hingucken können und wahrnehmen können, dass es einem Schüler schlechtgeht. Dafür braucht man auch schlichtweg einerseits die Ausbildung, andererseits die Möglichkeiten und Ressourcen.
Bürger: Ein Frühwarnsystem für Amokläufe. Darüber forscht der Berliner Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer, und darüber sprachen wir am heutigen ersten Jahrestag des Amoklaufs an der Albertville-Realschule in Winnenden. Herr Scheithauer, vielen Dank!
Scheithauer: Ich danke Ihnen auch!