Tägliche Tätlichkeiten
Anschläge auf Autos, Restaurants und Bauprojekte. - Nicht nur am 1. Mai kommt es zu Ausschreitungen der linksautonomen Szene. Die Gewalt ist längst zum Alltagsphänomen geworden.
Hamburg
Von Verena Herb
Samstagnachmittag: Das Straßenfest im Hamburger-Stadtteil Sternschanze ist in vollem Gang. Kleine Gruppen stehen zusammen, unterhalten sich, die Besucher nippen an ihren Bierflaschen. Zwei Mädchen tanzen Arm in Arm zur Musik von Michael Jackson. Dahinter: Polizisten mit dunklen Uniformen, das Visier ihres weißen Helms heruntergeklappt, schwarze Schlagstöcke sind zu erkennen, hängen in den Halterungen.
Blechschmidt: "Umgekippt ist die Stimmung dann um 18 Uhr am Abend des 4. Juli, weil dann eben die Polizeieinheiten im Umfeld dann in Zugstärke dann mit Helmen in großen Gruppen in das Fest hineingegangen sind, und damit für große Unruhe gesorgt haben."
Lässt Andreas Blechschmidt, Mitorganisator des Schanzenfestes und Sprecher des Autonomenzentrums Rote Flora, den ersten Teil des Abends Revue passieren.
Gegen 21.45 Uhr eskaliert es. Die erste Flasche fliegt. Steine hinterher. Die Polizei reagiert, massiv, mit Wasserwerfern teilweise. Eine Leuchtpistole trifft einen Einsatzwagen der Polizei, der daraufhin ausbrennt. Innerhalb von Minuten wird die Straße Schulterblatt vor dem Gebäude "Rote Flora" geräumt, die Polizei drängt die größtenteils aus der sogenannten Autonomenszene stammenden Gewalttäter, aber auch viele Passanten und Schaulustige in einen Park sowie in Nebenstraßen ab. Das Fest ist längst vorbei, die Schlacht auf der Straße dauert bis drei Uhr nachts.
Meyer: "Was wir sagen können, ist dass die ersten Auseinandersetzungen angefangen haben im Umfeld der roten Flora. Das waren schon Linksextremisten, die das initiiert haben. Die die ersten Steine geworfen haben. Dann allerdings kamen auch sehr schnell diese gewaltorientierten Jugendlichen auf den Plan",…"
sagt Ralf Meyer, der Sprecher der Hamburgischen Polizei. Insgesamt wurden nach Angaben der Polizei knapp 80 Beamte verletzt. 67 Randalierer seien festgenommen worden. Wie viele Verletzte es auf der anderen Seite gab, lässt sich nicht beziffern. Längst haben die Krawalle, die in jedem Jahr und regelmäßig nicht nur beim Straßenfest, sondern auch am 1. Mai im Viertel stattfinden, eine politische Dimension angenommen. Es geht in erster Linie um die Einsatzstrategie der Polizei. Ralf Meyer:
""Wir haben vier, fünf Jahre im Nachklapp immer diese Krawalle gehabt. Und wir wollten in diesem Jahr nicht wieder das Gleiche tun, sondern wir wollten versuchen, diese Krawalle zu verhindern. Vor allem aber auch die Vorbereitung zu verhindern."
So konnten im Vorfeld, nach Angaben der Polizei, Verdächtige festgenommen werden.
"Es waren einige da, die was mitgebracht hatten in Rucksäcken. Nebeltöpfe beispielsweise mit Drahtpräparationen. Und die konnten sich nicht so entfalten im Vorwege. Unsere Einsatzkräfte waren also nicht einer solchen Gefährdung eingesetzt, wie es gewesen wäre, wenn man sich in dieser Zeit ruhig dort hätte vorbereiten können ..."
Der Einsatz sei geglückt, ließ dann auch der Einsatzleiter am nächsten Tag verkünden. Die Polizei habe einen schwierigen Einsatz bewältigt und man sei überzeugt, dass das Konzept richtig war: Deeskalation durch Stärke, rechtfertigt der CDU-Innensenator Christoph Ahlhaus die Strategie. 1800 Beamte waren an diesem Abend im Einsatz – auch aus anderen Bundesländern.
Hackbusch: "Die Polizei ist aufgetaucht wie eine Besatzungsarmee in feindlichem Gelände."
So prompt die Reaktionen des Linken Bürgerschaftsabgeordneten Robert Hackbusch. Selbst Bewohner der Schanze, selbst Gast auf dem Straßenfest. Auch der Koalitionspartner der CDU, die Grün-alternative Liste kritisiert das Vorgehen. Die massive Präsenz der Polizei habe provoziert.
Ahlhaus: "Wer sich durch den bloßen Anblick von Polizeibeamten provoziert fühlt, der hat – das ist meine Meinung – irgendwie ein gestörtes Verhältnis zu unserem Rechtsstaat und zu unserer Demokratie."
Klare Worte des Innensenators Christoph Ahlhaus, die naturgemäß bei den Organisatoren des Festes, aber auch den Bewohnern des Schanzenviertels zu großer Kritik führen. Es seien nicht nur die "erlebnisorientierten Jugendlichen und Autonomen" gewesen, die sich den Polizisten entgegen gestellt haben, sagt Peter Hass. 61 Jahre alt. Er wohnt seit 32 Jahren in der Schanze, hat hier bis vor kurzem einen Buchladen betrieben.
"Was wir erlebt haben, ist auch einfach, dass sich viele an der Gegenwehr beteiligt haben, die man nicht als 'eventorientierte Jugendliche' bezeichnen kann, sondern es waren einfach Gäste. Man sieht ja, dass die Tische und Bänke auf der Piazza noch aufgebaut waren. Dass da Leute gesessen haben und gegessen haben und ihren Wein, ihr Bier oder ihr Wasser getrunken haben. Und dann vom Wasserwerfer also vom Platz gespritzt worden sind. Da haben wir viele hinter her wieder gesehen, die auch ne Flasche in die Hand genommen haben, und geworfen haben. Also die waren einfach so außer sich vor Wut ..."
Für viele ging die Initialzündung sichtbar von der Staatsmacht aus, die - so heißt es – eine Bagatelle zum Anlass nahm, das ganze Viertel aufzumischen. Die Stimmung heizt sich weiter auf. Die Organisatoren des Schanzenfestes haben ein neues Fest geplant, für den 12. September.
Blechschmidt: "Man möchte auch ein politisches Zeichen setzen, in dem die Initiativen sagen, wir wollen hier ein Schanzenviertelfest als politischen Ausdruck im Stadtteil organisieren. Und wollen dieses Fest nicht durch Polizeihundertschaften zerschlagen sehen."
"Schanzenfest 2009" heißt der Film, mit dem Handy aufgenommen, bei YouTube im Internet anzuklicken. Untertitel: Beginn der Schlacht. Randalierer, wurfbereit mit der Flasche in der einen und einer Kamera in der anderen prahlen mit ihren Taten im Netz. "Schöne Bilder" kommentiert ein User das brennende Polizeiauto. Ein anderer schreibt: "Das erinnert mich an den 1. Mai in Kreuzberg. Nächstes Jahr fahre ich auf jeden Fall zum Schanzenfest". Einträge wie diese dokumentieren die Gewaltbereitschaft, die seitens der Organisatoren gerne ignoriert wird. Wer auf welcher Seite wen wann provoziert hat, die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.
Berlin
Von Philip Banse
"Angst. Panische Angst, dass jemand etwas gegen unser Projekt hat und uns auch weiter schädigen will. Also wir haben da jetzt keine Informationen von irgendwem bekommen, aber die Art und Weise und vor allem die Stelle des Brandes – das haben wir schon so verstanden, dass es gegen dieses Haus sein sollte. Da hat jemand – so haben wir es empfunden – den Brand gegen dieses Haus gesetzt."
Helene Anders, 37, Anwältin, Mutter von drei Kinder. Sie steht vor dem Rohbau ihres Lebenstraums: Drei Öko-Häuser auf einer Industrie-Brache in Berlin-Friedrichshain. 30 Familien, 20 Kinder, ein Wunsch: gemeinsam, nachhaltig Leben in der Großstadt. Dann brennt eines Morgens um halb fünf die Bauplane. Die Polizei geht von Brandstiftung aus, es gibt aber kein Bekennerschreiben. Die Flammen wurden schnell gelöscht, der materielle Schaden ist gering. Jetzt überwachen Videokameras die Baustelle, die Panik der Bauherren ist gewichen:
"Ich kann jetzt nicht sagen, dass bei mir ein Feindbild gewachsen ist. Wenn jetzt alles in Scherben liegen würde und alle 30 Familien wären insolvent und die Kinder würden nicht ihre Ausbildung machen können, die sie alle vielleicht hätten machen können, und es wäre alles nachhaltig zerstört, dann wäre ich schon echt sauer, dann wäre da auch echt Wut. Aber da das nicht passiert ist und ich auch denke, dass das nie beabsichtigt war, vielleicht bin ich auch naiv, aber da glaube ich fest dran, dass niemand diese 30 Familien angreifen wollte, kann ich deshalb auch nicht richtig wütend sein."
Attacken auf Wohnhäuser, brennende Autos – die Politik reagiert nicht so gelassen. Volker Ratzmann, Chef der Berliner Grünen-Fraktion:
"Ich habe sie als selbst ernannte Kiez-Taliban beschrieben, ein zugegebener Maßen drastischer Begriff. Aber solche Art von Kleinst-Kiez-Terror gehört für mich nicht in den politischen Handwerkskasten und ich weigere mich, das auch anzuerkennen."
In der Hauptstadt wird seit Monaten erhitzt diskutiert über "Kiez-Taliban", "Kleinst-Terroristen" und eine "Welle der Gewalt". Fast schon gewöhnt hat sich Berliner Öffentlichkeit daran, dass in Szene-Vierteln parkende Autos angezündet werden: Im Schnitt brennt jede Nacht ein Wagen - seit fast zwei Jahren. Nobelkarossen, Lieferwagen, Familienautos. Auch Häuser und Firmenniederlassungen wurden Ziel von Farbbeuteln, Steinen und Brandsätzen. Allein im ersten Halbjahr 2009 gab es nach Polizeiangaben 600 Anschläge auf Wohnhäuser und Geschäftsvertretungen wie die des Softwareriesen SAP. Jüngster Höhepunkt der lose koordinierten Polit-Gewalt waren die sogenannten "Action Weeks", von linken Gruppen initiierte Aktionstage gegen, wie es hieß, eine "kapitalistische Stadtumstrukturierung". Zum Abschluss versuchten Hunderte Demonstranten, das Flugfeld des stillgelegten Flughafens Tempelhof "zu begehen", zu erstürmen. Gleichzeitig erlebte Kreuzberg dieses Jahr den gewalttätigsten 1. Mai seit vielen Jahren. Für die oppositionelle CDU im Berliner Landtag ergibt sich aus alle dem ein klares Bild. CDU-Fraktionschef Frank Henkel:
"Ich glaube, dass wir mittlerweile in Berlin einen Zustand erreicht haben, wo linksextreme Gewalt längst zu einem Alltagsphänomen geworden ist. Das gilt besonders für die Innenstadtbezirke: brennende Autos. Buttersäure-Anschläge auf Restaurants, Brandanschläge auf sogenannte Luxusbau- und Wohnprojekte. Mittlerweile Anschläge auf einfach Bauwagen, weil man Investoren aus der Stadt vertreiben will. Und das Phänomen ist jetzt aufgetreten mit einer anderen, einer drastischeren Qualität."
Seit Jahresbeginn wurden in Berlin rund 130 Wagen angezündet, 41 weitere durch übergreifende Flammen beschädigt. Wie durch ein Wunder wurde dabei niemand verletzt. Betroffen sind nach Polizeiangaben Privatwagen, besonders der Marken Mercedes, VW und BMW. Die Attacken treffen aber auch Firmenwagen der Telekom, der Bahn und von Stromversorgern wie Vattenfall oder E.On. Allein sieben DHL-Transporter wurden angezündet. Die meisten Anschläge erfolgen in den Szenevierteln der Stadt wie Friedrichshain/Kreuzberg, Pankow und Mitte. Dort werden auch Häuser und Bauprojekte mit Farbbeuteln und Steinen angegriffen. Hassobjekte sind noble Eigentumswohnungen, mit Autoparkplatz auf dem Balkon, aber auch drei Job-Center, das Haus der Unternehmensverbände, die SAP-Niederlassung, Banken und ein Amtsgericht. Wer genau diese Anschläge verübt, ist weitgehend unbekannt. Trotz intensiver Ermittlungen hat die Berliner Polizei bisher nur drei mutmaßliche Auto-Anzünder festgenommen. Auch über die Motive hinter vielen Anschlägen lässt sich oft nur spekulieren. Denn Bekennerschreiben sind die Ausnahme. "Nur etwa 20 bis 40 Prozent der Taten folgen Selbstbezichtigungsschreiben, die restlichen werden politisch nicht vereinnahmt", sagte der Leiter des Landeskriminalamts (LKA), Peter-Michael Haeberer. In diesem Jahr gingen laut Polizei elf Bekennerschreiben unterschiedlicher Kleinstgruppen ein. Darin werden die Brandanschläge und Sachbeschädigung mit klassischen Themen der linksautonomen, anarchistischen Szene begründet: So seien die DHL-Transporter in angezündet worden, weil das Tochterunternehmen der Post für die Bundeswehr arbeitet. Die beiden Autos vor dem Haus des innenpolitischen Sprechers der Berliner CDU-Fraktion hätten gebrannt, weil der Unions-Mann ein "rechter Hassprediger" sei, wie es in einem Bekennerschreiben hieß. Wirklich neu ist jedoch etwas anderes, sagt der Stadtsoziologe Andre Holm:
"Neu ist, dass Stadtpolitik in solchen Kampagnen so einen großen Schwerpunkt bildet."
So richten sich viele Bekennerschreiben gegen die "Gentrifizierung" sozial schwächerer Stadtviertel, also die Sanierung von Häusern und die damit einhergehende Mietpreissteigerung. An Wänden attackierter Häuser steht gesprüht: "Bonzen raus, "Diese Stadt ist aufgekauft" und "Kampf dem Kapital". Noch vor kurzem waren Sanierungsgebiete, steigende Mieten und innerstädtische Wanderungsbewegungen ein Nischen-Thema für wenige Experten, sagt Stadtsoziologe André Holm von der Universität Frankfurt/Main:
"Diese Situation hat sich seit ein, zwei Jahren völlig verändert. Jetzt widmen sich auch bürgerliche Kreise diesem Thema. Das bedeutet, dass es ein breites politisches Spektrum gibt, das sich mit stadtpolitischen Fragen auseinandersetzt. Und da gehört auch eine autonome, linke Szene auch mit dazu mit ihren eigenen Aktionsformen, die dann auch für Aufregung in der Stadt sorgen."
Am deutlichsten formulierten diese Kritik am stadtpolitischen Wandel die "Action Weeks". Diese teils gewalttätigen Aktionstage der linksautonomen Szene gipfelten in der versuchten Besetzung des Flugfelds des stillgelegten Flughafens Tempelhof.
"Das Anliegen war, den Widerstand gegen die Gentrifizierung in die öffentliche Diskussion zu bringen. Es geht darum, Gentrifizierung auch mal auf die Tagesordnung zu setzen, einfach diesen Prozess der Stadtumstrukturierung, der gerade passiert. Auch etwas dagegen zu tun, also kreativen Widerstand zu leisten."
Sagt Regina, Pressesprecherin der Initiative, die die "Action Weeks" organisiert hat. Regina will ihren richtigen Namen nicht im Radio hören. Reginas Initiative "Wir bleiben alle" hat die "Action Weeks angestoßen und für dem bis dato eher unkoordinierten Protest einen organisatorischen Rahmen gestellt: eine Website, das politische Programm, Pressesprecher, News-Ticker. Darüber hinaus war jeder aufgerufen, "kreativen Widerstand" zu leisten. Die Bilanz: Diverse Workshops zu stadtpolitischen Themen, 17 Brandanschläge, 30 angezündete Fahrzeuge, deren Feuer auf 6 weitere übergriff, 5 zerkratzte Autos, 2 Brandanschläge auf ein leer stehendes Haus, 13 Anschläge auf weitere Häuser.
"Es gibt keine Distanzierung von den Mitteln. Wir glauben, dass die Leute ihre Entscheidung verantwortungsvoll treffen. Wir distanzieren uns erstmal von nichts. Uns geht’s darum, dass die Leute überhaupt Widerstand machen."
Sagt die Sprecherin der "Action Weeks" und formuliert das politische Ziel so:
"Wir glauben halt daran, dass Mensch aus dieser Gesellschaft auch was anderes machen kann. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen frei Ihre Entscheidung treffen können und leben können wie und wo sie wollen."
Wie aber passt das zusammen mit Brandanschlägen auf Autos, die lediglich in einem Stadtviertel parken, in dem die Mieten gestiegen sind und Alteingesessene wegziehen mussten? Claudia, Anarchistin und Bewohnerin eines Hausprojekts in Berlin-Mitte, rechtfertigt Brandanschläge auf parkende Autos so:
"Wenn jemand sagt, ich brauche so ein Statussymbol, mit dem ich zeigen kann, wie viel Geld ich habe und das Geld kommt zum Teil eben auch daher, dass es andere Menschen in anderen Teilen der Welt nicht haben, und wenn ich das Symbol, was das repräsentiert, spazieren fahre und gleichzeitig sicher auch noch einen Beitrag dazu leiste, dass Leute aus den Wohngegenden, in denen sie sehr lange wohnen, verdrängt werden, dann muss ich mich auch nicht wundern, wenn mir das Auto angezündet wird."
Ähnlich argumentiert Tim Laumeyer, Sprecher der Antifaschistischen Linken Berlin. Mehrfach wurde das Car-Loft in Berlin-Kreuzberg mit Farbbeuteln beworfen, eine schicke Immobilie, dessen Bewohner ihre Autos mit in die Wohnung nehmen können. Vor den zersplitterten Scheiben dieses Hassobjekts der autonomen Szene rechtfertigt Tim Laumeyer die Sachbeschädigung:
"Das heißt, es bedarf solcher Aktionsformen, dass man zumindest versucht, das Gröbste zu verhindern. Und da ist das Car-Loft natürlich auch ein Symbol, was dafür steht und das dann auch als Symbol angegriffen wird."
"Wir reden über Menschen, die sich anmaßen, eine Ordnungsmacht in einem Bereich darzustellen und dieses Recht steht ihnen nicht zu."
Peter-Michael Haeberer, Leiter des Landeskriminalamts Berlin.
"Ich bin persönlich Nord-Neuköllner. Wer will mir eigentlich verbieten in diesem Bezirk zu wohnen oder in Kreuzberg zu wohnen? Und wer will mir verbieten so zu wohnen, wie ich es will? Selbstbestimmte Räume haben etwas zu tun mit den Menschen, die dort wohnen – und zwar aller Menschen, die dort wohnen. Ich jedenfalls möchte mir das nicht vorschreiben lassen."
Parkende Autos anzünden und Wohnhäuser attackieren - im Kampf für freie Räume, in denen Menschen selbstbestimmt leben können? Für Tim Laumeyer von der Antifaschistischen Linken Berlin kein Widerspruch:
"Der stärkste Eingriff in die Freiheit sind immer noch die sozialen Verwerfungen, die der Kapitalismus uns zu bieten hat und denen wir uns zu unterwerfen haben. Und es geht nicht darum, anderen seine Lebensweise vorzuschreiben, sondern Stadtumstrukturierung und Vertreibung zumindest insofern abzufedern, als dass nicht alles widerspruchslos hingenommen wird."
Ein Sonderfall linker Gewalt ist der 1. Mai. Nach friedlichen Demonstrationen mit klassischen linken Forderungen kommt es seit Jahren zu Gewaltausbrüchen.
Vermummte Punks, Migrantenkinder und Touristen in Bundfaltenhose – sie alle werfen Steine und Flaschen auf Polizisten, stundenlang. Hier geht es nicht um Stadtpolitik, hohe Mieten oder soziale Verwerfungen im Kiez. Die Randale am 1 Mai ist ein Ritual, ein "Katz- und Maus-Spiel", sagt die Anwältin Christina Clemm, die seit Jahren Beschuldigte verteidigt, die am 1. Mai festgenommen wurden:
"Das sagte der Richter eben ganz zutreffend: Das ist ein Räuber- und Gendarm-Spiel. Und so ist es da eben auch. Deswegen ist es ein Teil politischer Auseinandersetzung. Der größere Teil aber ist ein Katz- und Maus-Spiel. Man wird hin und her getrieben, es gibt Wasserwerfer-Einsätze und dann schmeißt man oder eben auch nicht."
"In der Strafsache gegen Thomas V. bitte alle Beteiligten in den Saal 1104 eintreten."
Amtsgericht Berlin-Tiergarten, fleckiger Teppich, der Richter berlinert und hat sich den Krawattenknoten gelockert wie nach einer Party. Verhandlung gegen Thomas V. Dem blassen Jungen mit Piercings in Nase und Lippe wird vorgeworfen, am 1. Mai sieben "Kleinpflastersteine" auf Polizisten geworfen und sich der Festnahme widersetzt zu haben. Thomas V. gesteht und bekommt zwei Jahre auf Bewährung. Politische Motive hat er keine, nur ein verkorkstes Leben: Schulabgang nach der achten Klasse, keine Ausbildung, keine Wohnung, kein Geld. Seine Anwältin Christina Clemm:
"Ein aus dem tiefsten Sachsen ursprünglich kommender Punk, der dann in Berlin mehrere Jahre wohnungslos ist, ist sicher kein untypischer Straftäter von diesem Tag. Es gibt viele Anwohner, viele junge Menschen, die dort leben, die auch mal Steine schmeißen, es gibt den ganz normalen Geschäftsmann, der da herum läuft und auch mal die Flasche wirft. Es gibt sicher auch einen Teil, der aus politischer Motivation dort wirft, aber das sicher der aller geringste Teil."
Dennoch war der 1. Mai 2009 gewalt-geschwängerter als in den Jahren zuvor. Mehr Festnahmen, mehr Verletzte. Die zurückhaltende Taktik der Berliner Polizei hatte in den letzten Jahren zur Befriedung des 1. Mai beigetragen. Dieses Jahr war die Stimmung aufgeheizt durch brennende Autos und gesellschaftliche Probleme, die kaum jemand in Berlin bestreitet: steigende Armut in der Wirtschaftskrise, steigende Mieten in sanierten Innenstadt-Bezirken, große soziale Verschiebungen. Die Rezepte für eine Lösung sind sehr unterschiedlich. Der Berliner CDU Partei- und Fraktionschef Frank Henkel fordert einen stärkeren Staat:
"Es passiert das, was immer passiert, wenn man seitens der Polizei, seitens des Staats nicht konsequent einschreitet, wenn man nicht konsequent bereit ist, Grenzen aufzuzeigen. Dann werden diese nicht vorhandenen Grenzen immer weiter ausgelotet und man geht dann auch immer weiter und genau das ist in Berlin passiert. Der rot-rote Senat ist nicht rechtzeitig und konsequent eingeschritten, so dass sich Straftäter nicht abgeschreckt fühlten sondern eher ermutigt."
Mehr Polizei, mehr Grenzen, mehr Druck – das hilft vielleicht bei der mühsamen Suche nach den Tätern, aber nicht die Probleme zu lösen, sagt der Chef des Berliner Landeskriminalamtes, Peter-Michael Haeberer:
"Es ist sicher kein Zufall, dass diese Konflikte in dieser Stadt deutlich werden. Da hilft aber wirklich nur eine politische Diskussion, weil die Polizei allein nicht in der Lage ist, grundsätzliche gesellschaftliche Konflikte zu lösen."
Diese sozialen Probleme anzugehen, dafür habe der rot-rote Senat kein Konzept, sagt Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann. SPD-Innensenator Erhard Körting sei von den Ursachen linksautonomer Gewalt überfordert:
"Körting hat völlig hilflos reagiert und sein Beitrag zur Debatte hier im Abgeordnetenhaus war unterirdisch. Er hat erkennen lassen, dass er überhaupt keine Antworten, nicht mal die Idee einer Reaktion hat, eine Öffentlichkeitskampagne zu starten, Verbündete zu suchen, in die Kieze zu gehen, die Elternbeiräte, die Migrantenverbände zu mobilisieren und zu sagen, wir müssen das Problem hier zusammen in den Griff kriegen. Wie wir es ja am 1. Mai in Kreuzberg gemacht haben. Da waren plötzlich alle auf der Straße, haben gesagt, das ist unser Kiez, wir haben die Schnauze voll, dass der jedes Mal am 1. Mai zerdeppert wird. Genauso müssen natürlich die Anwohner in Kreuzberg, Friedrichshain und Mitte die Möglichkeit haben zu sagen: Warum können wir unsere Autos hier nicht auf der Straße stehen lassen – egal welche wir haben? Diese Mobilisierung hinzukriegen, dazu fehlt dem Senat jede Initiative."
Berlins zuständiger Innensenator Erhard Körting ließ Interview-Anfragen unbeantwortet.
Von Verena Herb
Samstagnachmittag: Das Straßenfest im Hamburger-Stadtteil Sternschanze ist in vollem Gang. Kleine Gruppen stehen zusammen, unterhalten sich, die Besucher nippen an ihren Bierflaschen. Zwei Mädchen tanzen Arm in Arm zur Musik von Michael Jackson. Dahinter: Polizisten mit dunklen Uniformen, das Visier ihres weißen Helms heruntergeklappt, schwarze Schlagstöcke sind zu erkennen, hängen in den Halterungen.
Blechschmidt: "Umgekippt ist die Stimmung dann um 18 Uhr am Abend des 4. Juli, weil dann eben die Polizeieinheiten im Umfeld dann in Zugstärke dann mit Helmen in großen Gruppen in das Fest hineingegangen sind, und damit für große Unruhe gesorgt haben."
Lässt Andreas Blechschmidt, Mitorganisator des Schanzenfestes und Sprecher des Autonomenzentrums Rote Flora, den ersten Teil des Abends Revue passieren.
Gegen 21.45 Uhr eskaliert es. Die erste Flasche fliegt. Steine hinterher. Die Polizei reagiert, massiv, mit Wasserwerfern teilweise. Eine Leuchtpistole trifft einen Einsatzwagen der Polizei, der daraufhin ausbrennt. Innerhalb von Minuten wird die Straße Schulterblatt vor dem Gebäude "Rote Flora" geräumt, die Polizei drängt die größtenteils aus der sogenannten Autonomenszene stammenden Gewalttäter, aber auch viele Passanten und Schaulustige in einen Park sowie in Nebenstraßen ab. Das Fest ist längst vorbei, die Schlacht auf der Straße dauert bis drei Uhr nachts.
Meyer: "Was wir sagen können, ist dass die ersten Auseinandersetzungen angefangen haben im Umfeld der roten Flora. Das waren schon Linksextremisten, die das initiiert haben. Die die ersten Steine geworfen haben. Dann allerdings kamen auch sehr schnell diese gewaltorientierten Jugendlichen auf den Plan",…"
sagt Ralf Meyer, der Sprecher der Hamburgischen Polizei. Insgesamt wurden nach Angaben der Polizei knapp 80 Beamte verletzt. 67 Randalierer seien festgenommen worden. Wie viele Verletzte es auf der anderen Seite gab, lässt sich nicht beziffern. Längst haben die Krawalle, die in jedem Jahr und regelmäßig nicht nur beim Straßenfest, sondern auch am 1. Mai im Viertel stattfinden, eine politische Dimension angenommen. Es geht in erster Linie um die Einsatzstrategie der Polizei. Ralf Meyer:
""Wir haben vier, fünf Jahre im Nachklapp immer diese Krawalle gehabt. Und wir wollten in diesem Jahr nicht wieder das Gleiche tun, sondern wir wollten versuchen, diese Krawalle zu verhindern. Vor allem aber auch die Vorbereitung zu verhindern."
So konnten im Vorfeld, nach Angaben der Polizei, Verdächtige festgenommen werden.
"Es waren einige da, die was mitgebracht hatten in Rucksäcken. Nebeltöpfe beispielsweise mit Drahtpräparationen. Und die konnten sich nicht so entfalten im Vorwege. Unsere Einsatzkräfte waren also nicht einer solchen Gefährdung eingesetzt, wie es gewesen wäre, wenn man sich in dieser Zeit ruhig dort hätte vorbereiten können ..."
Der Einsatz sei geglückt, ließ dann auch der Einsatzleiter am nächsten Tag verkünden. Die Polizei habe einen schwierigen Einsatz bewältigt und man sei überzeugt, dass das Konzept richtig war: Deeskalation durch Stärke, rechtfertigt der CDU-Innensenator Christoph Ahlhaus die Strategie. 1800 Beamte waren an diesem Abend im Einsatz – auch aus anderen Bundesländern.
Hackbusch: "Die Polizei ist aufgetaucht wie eine Besatzungsarmee in feindlichem Gelände."
So prompt die Reaktionen des Linken Bürgerschaftsabgeordneten Robert Hackbusch. Selbst Bewohner der Schanze, selbst Gast auf dem Straßenfest. Auch der Koalitionspartner der CDU, die Grün-alternative Liste kritisiert das Vorgehen. Die massive Präsenz der Polizei habe provoziert.
Ahlhaus: "Wer sich durch den bloßen Anblick von Polizeibeamten provoziert fühlt, der hat – das ist meine Meinung – irgendwie ein gestörtes Verhältnis zu unserem Rechtsstaat und zu unserer Demokratie."
Klare Worte des Innensenators Christoph Ahlhaus, die naturgemäß bei den Organisatoren des Festes, aber auch den Bewohnern des Schanzenviertels zu großer Kritik führen. Es seien nicht nur die "erlebnisorientierten Jugendlichen und Autonomen" gewesen, die sich den Polizisten entgegen gestellt haben, sagt Peter Hass. 61 Jahre alt. Er wohnt seit 32 Jahren in der Schanze, hat hier bis vor kurzem einen Buchladen betrieben.
"Was wir erlebt haben, ist auch einfach, dass sich viele an der Gegenwehr beteiligt haben, die man nicht als 'eventorientierte Jugendliche' bezeichnen kann, sondern es waren einfach Gäste. Man sieht ja, dass die Tische und Bänke auf der Piazza noch aufgebaut waren. Dass da Leute gesessen haben und gegessen haben und ihren Wein, ihr Bier oder ihr Wasser getrunken haben. Und dann vom Wasserwerfer also vom Platz gespritzt worden sind. Da haben wir viele hinter her wieder gesehen, die auch ne Flasche in die Hand genommen haben, und geworfen haben. Also die waren einfach so außer sich vor Wut ..."
Für viele ging die Initialzündung sichtbar von der Staatsmacht aus, die - so heißt es – eine Bagatelle zum Anlass nahm, das ganze Viertel aufzumischen. Die Stimmung heizt sich weiter auf. Die Organisatoren des Schanzenfestes haben ein neues Fest geplant, für den 12. September.
Blechschmidt: "Man möchte auch ein politisches Zeichen setzen, in dem die Initiativen sagen, wir wollen hier ein Schanzenviertelfest als politischen Ausdruck im Stadtteil organisieren. Und wollen dieses Fest nicht durch Polizeihundertschaften zerschlagen sehen."
"Schanzenfest 2009" heißt der Film, mit dem Handy aufgenommen, bei YouTube im Internet anzuklicken. Untertitel: Beginn der Schlacht. Randalierer, wurfbereit mit der Flasche in der einen und einer Kamera in der anderen prahlen mit ihren Taten im Netz. "Schöne Bilder" kommentiert ein User das brennende Polizeiauto. Ein anderer schreibt: "Das erinnert mich an den 1. Mai in Kreuzberg. Nächstes Jahr fahre ich auf jeden Fall zum Schanzenfest". Einträge wie diese dokumentieren die Gewaltbereitschaft, die seitens der Organisatoren gerne ignoriert wird. Wer auf welcher Seite wen wann provoziert hat, die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.
Berlin
Von Philip Banse
"Angst. Panische Angst, dass jemand etwas gegen unser Projekt hat und uns auch weiter schädigen will. Also wir haben da jetzt keine Informationen von irgendwem bekommen, aber die Art und Weise und vor allem die Stelle des Brandes – das haben wir schon so verstanden, dass es gegen dieses Haus sein sollte. Da hat jemand – so haben wir es empfunden – den Brand gegen dieses Haus gesetzt."
Helene Anders, 37, Anwältin, Mutter von drei Kinder. Sie steht vor dem Rohbau ihres Lebenstraums: Drei Öko-Häuser auf einer Industrie-Brache in Berlin-Friedrichshain. 30 Familien, 20 Kinder, ein Wunsch: gemeinsam, nachhaltig Leben in der Großstadt. Dann brennt eines Morgens um halb fünf die Bauplane. Die Polizei geht von Brandstiftung aus, es gibt aber kein Bekennerschreiben. Die Flammen wurden schnell gelöscht, der materielle Schaden ist gering. Jetzt überwachen Videokameras die Baustelle, die Panik der Bauherren ist gewichen:
"Ich kann jetzt nicht sagen, dass bei mir ein Feindbild gewachsen ist. Wenn jetzt alles in Scherben liegen würde und alle 30 Familien wären insolvent und die Kinder würden nicht ihre Ausbildung machen können, die sie alle vielleicht hätten machen können, und es wäre alles nachhaltig zerstört, dann wäre ich schon echt sauer, dann wäre da auch echt Wut. Aber da das nicht passiert ist und ich auch denke, dass das nie beabsichtigt war, vielleicht bin ich auch naiv, aber da glaube ich fest dran, dass niemand diese 30 Familien angreifen wollte, kann ich deshalb auch nicht richtig wütend sein."
Attacken auf Wohnhäuser, brennende Autos – die Politik reagiert nicht so gelassen. Volker Ratzmann, Chef der Berliner Grünen-Fraktion:
"Ich habe sie als selbst ernannte Kiez-Taliban beschrieben, ein zugegebener Maßen drastischer Begriff. Aber solche Art von Kleinst-Kiez-Terror gehört für mich nicht in den politischen Handwerkskasten und ich weigere mich, das auch anzuerkennen."
In der Hauptstadt wird seit Monaten erhitzt diskutiert über "Kiez-Taliban", "Kleinst-Terroristen" und eine "Welle der Gewalt". Fast schon gewöhnt hat sich Berliner Öffentlichkeit daran, dass in Szene-Vierteln parkende Autos angezündet werden: Im Schnitt brennt jede Nacht ein Wagen - seit fast zwei Jahren. Nobelkarossen, Lieferwagen, Familienautos. Auch Häuser und Firmenniederlassungen wurden Ziel von Farbbeuteln, Steinen und Brandsätzen. Allein im ersten Halbjahr 2009 gab es nach Polizeiangaben 600 Anschläge auf Wohnhäuser und Geschäftsvertretungen wie die des Softwareriesen SAP. Jüngster Höhepunkt der lose koordinierten Polit-Gewalt waren die sogenannten "Action Weeks", von linken Gruppen initiierte Aktionstage gegen, wie es hieß, eine "kapitalistische Stadtumstrukturierung". Zum Abschluss versuchten Hunderte Demonstranten, das Flugfeld des stillgelegten Flughafens Tempelhof "zu begehen", zu erstürmen. Gleichzeitig erlebte Kreuzberg dieses Jahr den gewalttätigsten 1. Mai seit vielen Jahren. Für die oppositionelle CDU im Berliner Landtag ergibt sich aus alle dem ein klares Bild. CDU-Fraktionschef Frank Henkel:
"Ich glaube, dass wir mittlerweile in Berlin einen Zustand erreicht haben, wo linksextreme Gewalt längst zu einem Alltagsphänomen geworden ist. Das gilt besonders für die Innenstadtbezirke: brennende Autos. Buttersäure-Anschläge auf Restaurants, Brandanschläge auf sogenannte Luxusbau- und Wohnprojekte. Mittlerweile Anschläge auf einfach Bauwagen, weil man Investoren aus der Stadt vertreiben will. Und das Phänomen ist jetzt aufgetreten mit einer anderen, einer drastischeren Qualität."
Seit Jahresbeginn wurden in Berlin rund 130 Wagen angezündet, 41 weitere durch übergreifende Flammen beschädigt. Wie durch ein Wunder wurde dabei niemand verletzt. Betroffen sind nach Polizeiangaben Privatwagen, besonders der Marken Mercedes, VW und BMW. Die Attacken treffen aber auch Firmenwagen der Telekom, der Bahn und von Stromversorgern wie Vattenfall oder E.On. Allein sieben DHL-Transporter wurden angezündet. Die meisten Anschläge erfolgen in den Szenevierteln der Stadt wie Friedrichshain/Kreuzberg, Pankow und Mitte. Dort werden auch Häuser und Bauprojekte mit Farbbeuteln und Steinen angegriffen. Hassobjekte sind noble Eigentumswohnungen, mit Autoparkplatz auf dem Balkon, aber auch drei Job-Center, das Haus der Unternehmensverbände, die SAP-Niederlassung, Banken und ein Amtsgericht. Wer genau diese Anschläge verübt, ist weitgehend unbekannt. Trotz intensiver Ermittlungen hat die Berliner Polizei bisher nur drei mutmaßliche Auto-Anzünder festgenommen. Auch über die Motive hinter vielen Anschlägen lässt sich oft nur spekulieren. Denn Bekennerschreiben sind die Ausnahme. "Nur etwa 20 bis 40 Prozent der Taten folgen Selbstbezichtigungsschreiben, die restlichen werden politisch nicht vereinnahmt", sagte der Leiter des Landeskriminalamts (LKA), Peter-Michael Haeberer. In diesem Jahr gingen laut Polizei elf Bekennerschreiben unterschiedlicher Kleinstgruppen ein. Darin werden die Brandanschläge und Sachbeschädigung mit klassischen Themen der linksautonomen, anarchistischen Szene begründet: So seien die DHL-Transporter in angezündet worden, weil das Tochterunternehmen der Post für die Bundeswehr arbeitet. Die beiden Autos vor dem Haus des innenpolitischen Sprechers der Berliner CDU-Fraktion hätten gebrannt, weil der Unions-Mann ein "rechter Hassprediger" sei, wie es in einem Bekennerschreiben hieß. Wirklich neu ist jedoch etwas anderes, sagt der Stadtsoziologe Andre Holm:
"Neu ist, dass Stadtpolitik in solchen Kampagnen so einen großen Schwerpunkt bildet."
So richten sich viele Bekennerschreiben gegen die "Gentrifizierung" sozial schwächerer Stadtviertel, also die Sanierung von Häusern und die damit einhergehende Mietpreissteigerung. An Wänden attackierter Häuser steht gesprüht: "Bonzen raus, "Diese Stadt ist aufgekauft" und "Kampf dem Kapital". Noch vor kurzem waren Sanierungsgebiete, steigende Mieten und innerstädtische Wanderungsbewegungen ein Nischen-Thema für wenige Experten, sagt Stadtsoziologe André Holm von der Universität Frankfurt/Main:
"Diese Situation hat sich seit ein, zwei Jahren völlig verändert. Jetzt widmen sich auch bürgerliche Kreise diesem Thema. Das bedeutet, dass es ein breites politisches Spektrum gibt, das sich mit stadtpolitischen Fragen auseinandersetzt. Und da gehört auch eine autonome, linke Szene auch mit dazu mit ihren eigenen Aktionsformen, die dann auch für Aufregung in der Stadt sorgen."
Am deutlichsten formulierten diese Kritik am stadtpolitischen Wandel die "Action Weeks". Diese teils gewalttätigen Aktionstage der linksautonomen Szene gipfelten in der versuchten Besetzung des Flugfelds des stillgelegten Flughafens Tempelhof.
"Das Anliegen war, den Widerstand gegen die Gentrifizierung in die öffentliche Diskussion zu bringen. Es geht darum, Gentrifizierung auch mal auf die Tagesordnung zu setzen, einfach diesen Prozess der Stadtumstrukturierung, der gerade passiert. Auch etwas dagegen zu tun, also kreativen Widerstand zu leisten."
Sagt Regina, Pressesprecherin der Initiative, die die "Action Weeks" organisiert hat. Regina will ihren richtigen Namen nicht im Radio hören. Reginas Initiative "Wir bleiben alle" hat die "Action Weeks angestoßen und für dem bis dato eher unkoordinierten Protest einen organisatorischen Rahmen gestellt: eine Website, das politische Programm, Pressesprecher, News-Ticker. Darüber hinaus war jeder aufgerufen, "kreativen Widerstand" zu leisten. Die Bilanz: Diverse Workshops zu stadtpolitischen Themen, 17 Brandanschläge, 30 angezündete Fahrzeuge, deren Feuer auf 6 weitere übergriff, 5 zerkratzte Autos, 2 Brandanschläge auf ein leer stehendes Haus, 13 Anschläge auf weitere Häuser.
"Es gibt keine Distanzierung von den Mitteln. Wir glauben, dass die Leute ihre Entscheidung verantwortungsvoll treffen. Wir distanzieren uns erstmal von nichts. Uns geht’s darum, dass die Leute überhaupt Widerstand machen."
Sagt die Sprecherin der "Action Weeks" und formuliert das politische Ziel so:
"Wir glauben halt daran, dass Mensch aus dieser Gesellschaft auch was anderes machen kann. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen frei Ihre Entscheidung treffen können und leben können wie und wo sie wollen."
Wie aber passt das zusammen mit Brandanschlägen auf Autos, die lediglich in einem Stadtviertel parken, in dem die Mieten gestiegen sind und Alteingesessene wegziehen mussten? Claudia, Anarchistin und Bewohnerin eines Hausprojekts in Berlin-Mitte, rechtfertigt Brandanschläge auf parkende Autos so:
"Wenn jemand sagt, ich brauche so ein Statussymbol, mit dem ich zeigen kann, wie viel Geld ich habe und das Geld kommt zum Teil eben auch daher, dass es andere Menschen in anderen Teilen der Welt nicht haben, und wenn ich das Symbol, was das repräsentiert, spazieren fahre und gleichzeitig sicher auch noch einen Beitrag dazu leiste, dass Leute aus den Wohngegenden, in denen sie sehr lange wohnen, verdrängt werden, dann muss ich mich auch nicht wundern, wenn mir das Auto angezündet wird."
Ähnlich argumentiert Tim Laumeyer, Sprecher der Antifaschistischen Linken Berlin. Mehrfach wurde das Car-Loft in Berlin-Kreuzberg mit Farbbeuteln beworfen, eine schicke Immobilie, dessen Bewohner ihre Autos mit in die Wohnung nehmen können. Vor den zersplitterten Scheiben dieses Hassobjekts der autonomen Szene rechtfertigt Tim Laumeyer die Sachbeschädigung:
"Das heißt, es bedarf solcher Aktionsformen, dass man zumindest versucht, das Gröbste zu verhindern. Und da ist das Car-Loft natürlich auch ein Symbol, was dafür steht und das dann auch als Symbol angegriffen wird."
"Wir reden über Menschen, die sich anmaßen, eine Ordnungsmacht in einem Bereich darzustellen und dieses Recht steht ihnen nicht zu."
Peter-Michael Haeberer, Leiter des Landeskriminalamts Berlin.
"Ich bin persönlich Nord-Neuköllner. Wer will mir eigentlich verbieten in diesem Bezirk zu wohnen oder in Kreuzberg zu wohnen? Und wer will mir verbieten so zu wohnen, wie ich es will? Selbstbestimmte Räume haben etwas zu tun mit den Menschen, die dort wohnen – und zwar aller Menschen, die dort wohnen. Ich jedenfalls möchte mir das nicht vorschreiben lassen."
Parkende Autos anzünden und Wohnhäuser attackieren - im Kampf für freie Räume, in denen Menschen selbstbestimmt leben können? Für Tim Laumeyer von der Antifaschistischen Linken Berlin kein Widerspruch:
"Der stärkste Eingriff in die Freiheit sind immer noch die sozialen Verwerfungen, die der Kapitalismus uns zu bieten hat und denen wir uns zu unterwerfen haben. Und es geht nicht darum, anderen seine Lebensweise vorzuschreiben, sondern Stadtumstrukturierung und Vertreibung zumindest insofern abzufedern, als dass nicht alles widerspruchslos hingenommen wird."
Ein Sonderfall linker Gewalt ist der 1. Mai. Nach friedlichen Demonstrationen mit klassischen linken Forderungen kommt es seit Jahren zu Gewaltausbrüchen.
Vermummte Punks, Migrantenkinder und Touristen in Bundfaltenhose – sie alle werfen Steine und Flaschen auf Polizisten, stundenlang. Hier geht es nicht um Stadtpolitik, hohe Mieten oder soziale Verwerfungen im Kiez. Die Randale am 1 Mai ist ein Ritual, ein "Katz- und Maus-Spiel", sagt die Anwältin Christina Clemm, die seit Jahren Beschuldigte verteidigt, die am 1. Mai festgenommen wurden:
"Das sagte der Richter eben ganz zutreffend: Das ist ein Räuber- und Gendarm-Spiel. Und so ist es da eben auch. Deswegen ist es ein Teil politischer Auseinandersetzung. Der größere Teil aber ist ein Katz- und Maus-Spiel. Man wird hin und her getrieben, es gibt Wasserwerfer-Einsätze und dann schmeißt man oder eben auch nicht."
"In der Strafsache gegen Thomas V. bitte alle Beteiligten in den Saal 1104 eintreten."
Amtsgericht Berlin-Tiergarten, fleckiger Teppich, der Richter berlinert und hat sich den Krawattenknoten gelockert wie nach einer Party. Verhandlung gegen Thomas V. Dem blassen Jungen mit Piercings in Nase und Lippe wird vorgeworfen, am 1. Mai sieben "Kleinpflastersteine" auf Polizisten geworfen und sich der Festnahme widersetzt zu haben. Thomas V. gesteht und bekommt zwei Jahre auf Bewährung. Politische Motive hat er keine, nur ein verkorkstes Leben: Schulabgang nach der achten Klasse, keine Ausbildung, keine Wohnung, kein Geld. Seine Anwältin Christina Clemm:
"Ein aus dem tiefsten Sachsen ursprünglich kommender Punk, der dann in Berlin mehrere Jahre wohnungslos ist, ist sicher kein untypischer Straftäter von diesem Tag. Es gibt viele Anwohner, viele junge Menschen, die dort leben, die auch mal Steine schmeißen, es gibt den ganz normalen Geschäftsmann, der da herum läuft und auch mal die Flasche wirft. Es gibt sicher auch einen Teil, der aus politischer Motivation dort wirft, aber das sicher der aller geringste Teil."
Dennoch war der 1. Mai 2009 gewalt-geschwängerter als in den Jahren zuvor. Mehr Festnahmen, mehr Verletzte. Die zurückhaltende Taktik der Berliner Polizei hatte in den letzten Jahren zur Befriedung des 1. Mai beigetragen. Dieses Jahr war die Stimmung aufgeheizt durch brennende Autos und gesellschaftliche Probleme, die kaum jemand in Berlin bestreitet: steigende Armut in der Wirtschaftskrise, steigende Mieten in sanierten Innenstadt-Bezirken, große soziale Verschiebungen. Die Rezepte für eine Lösung sind sehr unterschiedlich. Der Berliner CDU Partei- und Fraktionschef Frank Henkel fordert einen stärkeren Staat:
"Es passiert das, was immer passiert, wenn man seitens der Polizei, seitens des Staats nicht konsequent einschreitet, wenn man nicht konsequent bereit ist, Grenzen aufzuzeigen. Dann werden diese nicht vorhandenen Grenzen immer weiter ausgelotet und man geht dann auch immer weiter und genau das ist in Berlin passiert. Der rot-rote Senat ist nicht rechtzeitig und konsequent eingeschritten, so dass sich Straftäter nicht abgeschreckt fühlten sondern eher ermutigt."
Mehr Polizei, mehr Grenzen, mehr Druck – das hilft vielleicht bei der mühsamen Suche nach den Tätern, aber nicht die Probleme zu lösen, sagt der Chef des Berliner Landeskriminalamtes, Peter-Michael Haeberer:
"Es ist sicher kein Zufall, dass diese Konflikte in dieser Stadt deutlich werden. Da hilft aber wirklich nur eine politische Diskussion, weil die Polizei allein nicht in der Lage ist, grundsätzliche gesellschaftliche Konflikte zu lösen."
Diese sozialen Probleme anzugehen, dafür habe der rot-rote Senat kein Konzept, sagt Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann. SPD-Innensenator Erhard Körting sei von den Ursachen linksautonomer Gewalt überfordert:
"Körting hat völlig hilflos reagiert und sein Beitrag zur Debatte hier im Abgeordnetenhaus war unterirdisch. Er hat erkennen lassen, dass er überhaupt keine Antworten, nicht mal die Idee einer Reaktion hat, eine Öffentlichkeitskampagne zu starten, Verbündete zu suchen, in die Kieze zu gehen, die Elternbeiräte, die Migrantenverbände zu mobilisieren und zu sagen, wir müssen das Problem hier zusammen in den Griff kriegen. Wie wir es ja am 1. Mai in Kreuzberg gemacht haben. Da waren plötzlich alle auf der Straße, haben gesagt, das ist unser Kiez, wir haben die Schnauze voll, dass der jedes Mal am 1. Mai zerdeppert wird. Genauso müssen natürlich die Anwohner in Kreuzberg, Friedrichshain und Mitte die Möglichkeit haben zu sagen: Warum können wir unsere Autos hier nicht auf der Straße stehen lassen – egal welche wir haben? Diese Mobilisierung hinzukriegen, dazu fehlt dem Senat jede Initiative."
Berlins zuständiger Innensenator Erhard Körting ließ Interview-Anfragen unbeantwortet.