Tabubruch auf Polnisch

06.11.2007
Die öffentliche Toilette heißt Blechdose, Achteck, Rotunde oder einfach Pissoir. Sie war, schreibt Michał Witkowski, für Polens Schwule zu Zeiten des Kommunismus so etwas wie heute ein Einkaufszentrum für die neue Mittelklasse: der Treffpunkt schlechthin. Über den Boden flossen die Abwässer, es stank nach Pisse und Desinfektionsmittel.
Michał Witkowski, der 1975 in Breslau geboren wurde und heute in Warschau lebt, gilt als intellektuelle Stimme der polnischen Schwulen. In "Lubiewo", seinem 2005 im polnischen Original veröffentlichten Roman, erkannten Landsleute auf Anhieb den Wert einer literarischen Milieustudie und billigten ihm zugleich den Rang eines Manifests zu. Jetzt ist "Lubiewo" in der Übersetzung von Christina Marie Hauptmeier bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen.

Ein Ost-West-Transfer dieser Art könnte misslingen. Homosexualität ist bis heute für weite Teile der nationalkonservativ und katholisch geprägten polnischen Gesellschaft ein Tabu. Für nicht wenige Polen verkörpern Schwule sogar den Lieblingsfeind schlechthin. Im vordergründig liberalen modernen Deutschland sieht das etwas anders aus. Nicht einmal das politische Establishment erlaubt sich hier Ausgrenzungen, von den Vertretern der Kultur und Kunst nebst alternativer Szene ganz zu schweigen. Witkowskis Text könnte also zur puren Bestätigung des bekannten Vorurteils vom rückständigen Nachbarn im Osten dienen. Das aber wäre wohl ein – in der Sprache des Autors gesprochen - ausgelutschtes Thema.

Es liegt an Witkowskis Gedankenschärfe, aber auch an seiner literarischen Einbildungskraft, dass sich derlei Lesebefürchtungen bald zerstreuen. Gewiss leben seine Helden ziemlich weit unten und klar abgegrenzt vom bürgerlichen Mainstream. Aufdringlich wimmelt es in diesem aus Erinnerungen, Miniaturen, Klosprüchen und Mailbotschaften komponierten Roman von Schwänzen und Sekreten. Im schier überbordenden Stoffwechsel treffen Tunten und Heten oder Kerle aufeinander. Neben Elend und Sehnsucht geht es dabei immer wieder um brutale Gewalt. Zugleich wird eine selten befriedigte, aber umso unverbrüchlichere Lebenslust spürbar. Gerade sie aber speist sich aus der mit Stolz angenommenen Außenseiterexistenz. Witkowskis Protagonisten sagen ja zu den Verhältnissen, die nein zu ihnen sagen, Lukrecja und Patrycja , zwei alte Männer in einem heruntergekommenen Breslauer Plattenbau, Jessica, der an AIDS zugrunde gehende Krankenpfleger oder die Pensionistinnen am Ostseestrand von Lubiewo.

In einer Mischung aus lakonischer Reportage, ironischer Selbstbezichtigung und Voyeurismus gelingt es dem Erzähler, seiner skurrilen Welt Glaubwürdigkeit zu verleihen. In seiner Schwulen-Perspektive verbirgt sich ein Außenseiterblick, mit dem die Konflikte der gesamten Gesellschaft eingefangen werden. Nichts liegt dem Autor dabei ferner, als das von ihm gezeichnete Milieu mit seinen Wurzeln im sozialistischen Polen verurteilen oder gar bemitleiden zu wollen. Vielmehr ist Witkowski die vornehmlich aus dem Westen Europas eindringende klinisch reine, politisch korrekte, nach Hygiene und Ästhetik geradezu gierende Schicht von emanzipierten Homosexuellen ein Graus. Seine Helden, erklärt er uns am Ende, seien schließlich keine guten anständigen Gays aus der liberal-kapitalistischen Konsumgesellschaft, sondern Leute, die das System in Frage stellen.

Rezensiert von Martin Sander

Michał Witkowski: Lubiewo
Roman
Aus dem Polnischen von Christina Marie Hauptmeier
Suhrkamp Verlag 2007
339 Seiten, 19.80 Euro