Szenen des Liebeslebens

In der Tradition der traktathaft-essayistischen Literatur steht Brigitte Girauds Buch "Die Liebe ist doch sehr überschätzt". Es geht um die kleinen, aber oft so bedeutenden Momente im Leben, in denen die Liebe kommt oder sich verflüchtigt.
Vergeblich sucht der Leser auf dem Umschlag dieses Buches eine Gattungs- oder Genreangabe. Unter dem Titel "Die Liebe wird doch sehr überschätzt" steht weder Roman, noch Erzählung oder Novelle. Ein Sachbuch indes ist der neue Text der 1960 in Algerien geborenen und in der Banlieu von Lyon aufgewachsenen Französin Brigitte Giraud auch nicht.

Sie erzählt auf literarische Weise von Alltagsmomenten der Liebe, aber diese Momente verbindet keine durchgehende Geschichte. Brigitte Girauds kleines Buch steht in der großen französischen Tradition traktathaft-essayistischer Literatur von Montaigne bis Roland Barthes. Ihre Texte über Liebende, Verheiratete, Getrennte, Geschiedene, Verwitwete gehen vom anschaulichen Erlebnis aus und suchen den Weg in die allgemeine Reflexion.

"Wie sagen wir es den Kindern",

heißt ein Text beispielsweise. Er beschreibt den Moment, den viele Paare kennen: Sie haben sich vorgenommen, es besser zu machen als andere, ihre Scheidung nicht auf dem Rücken der Kinder auszutragen. Und am Ende machen sie es wie alle anderen auch.

Ein anderer Text erzählt vom Seelenzustand einer Frau, die tatsächlich seit zwei Jahren geschieden ist, allein lebt und für eine Nacht einen Mann in ihrer Wohnung empfängt, von dem sie schon vorher weiß, dass er in ihrem Leben nicht Platz nehmen wird.

Der allererste Text des Bandes skizziert den Moment, in dem jener Riss entsteht, der sich im Lauf von Jahren zur Kluft weiten und in eine Trennung münden wird. Es ist ein unscheinbarer Moment: Eine Frau bemerkt ärgerlich, dass ihr Mann sich so vor dem Wohnzimmerfenster postiert hat, dass er ihr die Sonne verdeckt und sie im Schatten sitzt.

Eine kurze, alltägliche, aber symbolische Szene. Und aus eben solchen Szenen setzt sich die Brigitte Girauds kleine Phänomenologie des Liebeslebens zusammen.

Rezensiert von Ursula März

Brigitte Giraud: Die Liebe ist doch sehr überschätzt
Aus dem Französischen von Anne Braun
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2008
91 Seiten, 14,00 Euro