Szenarien der Entwurzelung
In ihrem Roman schildert die polnische Autorin Olga Tokarczuks Schicksale von Polen, die aus dem Osten des Landes vertrieben und im ehemals deutschen Westen angesiedelt wurden. Jede der drei „Letzten Geschichten“ erzählt von einer Frau. Sie handeln von Endstationen und sind ein um den Tod kreisendes Triptychon.
Dass Polen im 19. Jahrhundert von der Landkarte verschwunden war, stärkte die metaphysischen Tendenzen der polnischen Kunst. In Bild und Schrift galt es, die nationale Einheit zu wahren und die staatliche Wiedergeburt vorzubereiten. Diese Tradition führt die 1962 geborene Olga Tokarczuk auf erstaunliche Weise weiter. Ihr metaphysisches Interesse gilt nun dem, was in dem 1945 nach Westen verschobenen Polen aus dem Bewusstsein verschwand.
In ihrem preisgekrönten Roman „Taghaus, Nachthaus“ (2001) erweitert sie die Realität eines niederschlesischen Dorfes mit phantastischen Elementen, mit Legenden und Mythen, so dass hinter der Gegenwart viele Vergangenheiten sichtbar werden, darunter auch die der vertriebenen Deutschen. In ihrem neuen Roman „Letzte Geschichten“ schildert sie Schicksale von Polen, die aus dem Osten des Landes vertrieben und im ehemals deutschen Westen angesiedelt wurden.
Jede der drei „Letzten Geschichten“ erzählt von einer Frau: Ida Marzec, 54, kommt im Schneetreiben mit dem Auto von der Straße ab, findet leicht verwirrt Unterschlupf bei zwei Alten und entdeckt nach einigen Tagen, dass ihre freundlichen Gastgeber eine Vielzahl sterbender Tiere pflegen.
Die Greisin Paraskewia lebt mit ihrer Ziege in einer hoch gelegenen, eingeschneiten Berghütte und stapft große Buchstaben in den Schnee, um die Leute im Tal auf den Tod ihres Mannes aufmerksam zu machen.
Maja, eine junge Frau Mitte 30, reist mit ihrem 11-jährigen Sohn durch Asien und begegnet einem krebskranken Zauberkünstler. Die „Letzten Geschichten“ handeln von Endstationen. Das Buch ist ein um den Tod kreisendes Triptychon.
Die Erzählungen können für sich gelesen werden, und erst spät fällt dem Leser auf, dass die drei Frauen Großmutter, Tochter und Enkelin sind. Bis in die dritte Generation hinein sind ihre Schicksale von der Vertreibung aus dem östlichen Polen, heute Ukraine, gezeichnet, die die Großmutter erleben musste. Deren Folgen sind Unruhe, Ortlosigkeit und Isolation: Die drei sind Fremde im eigenen Leben. Die Enkelin recherchiert in Asien für einen Reiseführer, die Mutter arbeitet als Reiseführerin, und die Großmutter hielt der eifersüchtige Ehemann auf einem einsam gelegenen Berghof fest.
Olga Tokarczuk hat wohl gewusst, dass von diesem bestürzenden Szenario der Entwurzelung, das durch die Todesnähe zusätzlich aufgeladen wird, nur auf zurückhaltende Weise erzählt werden kann. Also verzichtet sie auf ein ausgedehntes Motivgeflecht und lässt mit Hilfe extremer Wetterlagen beängstigende, zeitenthoben schwebende Stimmungen entstehen.
Doch bei der Innenausstattung ihrer Figuren, denen ihre Erzählerin immer gleich nah ist, vergisst Tokarczuk zuweilen alle guten Vorsätze: Tochter Ida wird mit ominösen Herzproblemen und einer Anstellung bei der Touristikfirma „Herz Europas“ versehen, Enkelin Maja möchte aufs Essen verzichten, um eine „vollkommene Monade“ zu werden. So weit, so plakativ.
Noch schlimmer kommt es, wenn eine der Frauen in ihrem Hass auf den eigenen Körper die blutigen Gewebefetzen der Menstruation imaginiert. Im Leiden schließt Tokarczuk (Frauen-) Körper und Zeitgeschichte kurz, nicht anders, als es in der deutschen Literatur zuletzt in den achtziger Jahren beliebt war.
Wer erfahren will, auf welch traumwandlerisch sichere Weise sie von Grenzüberschreitungen zu erzählen vermag, sollte nicht zu den „Letzten Geschichten“, sondern zu ihrem ebenfalls neuen Erzählungsband „Spiel auf vielen Trommeln“ (Matthes & Seitz Berlin) greifen.
Olga Tokarczuk: Letzte Geschichten. Roman.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Deutsche Verlags-Anstalt.
München 2006. 298 S., 22,90 Euro
In ihrem preisgekrönten Roman „Taghaus, Nachthaus“ (2001) erweitert sie die Realität eines niederschlesischen Dorfes mit phantastischen Elementen, mit Legenden und Mythen, so dass hinter der Gegenwart viele Vergangenheiten sichtbar werden, darunter auch die der vertriebenen Deutschen. In ihrem neuen Roman „Letzte Geschichten“ schildert sie Schicksale von Polen, die aus dem Osten des Landes vertrieben und im ehemals deutschen Westen angesiedelt wurden.
Jede der drei „Letzten Geschichten“ erzählt von einer Frau: Ida Marzec, 54, kommt im Schneetreiben mit dem Auto von der Straße ab, findet leicht verwirrt Unterschlupf bei zwei Alten und entdeckt nach einigen Tagen, dass ihre freundlichen Gastgeber eine Vielzahl sterbender Tiere pflegen.
Die Greisin Paraskewia lebt mit ihrer Ziege in einer hoch gelegenen, eingeschneiten Berghütte und stapft große Buchstaben in den Schnee, um die Leute im Tal auf den Tod ihres Mannes aufmerksam zu machen.
Maja, eine junge Frau Mitte 30, reist mit ihrem 11-jährigen Sohn durch Asien und begegnet einem krebskranken Zauberkünstler. Die „Letzten Geschichten“ handeln von Endstationen. Das Buch ist ein um den Tod kreisendes Triptychon.
Die Erzählungen können für sich gelesen werden, und erst spät fällt dem Leser auf, dass die drei Frauen Großmutter, Tochter und Enkelin sind. Bis in die dritte Generation hinein sind ihre Schicksale von der Vertreibung aus dem östlichen Polen, heute Ukraine, gezeichnet, die die Großmutter erleben musste. Deren Folgen sind Unruhe, Ortlosigkeit und Isolation: Die drei sind Fremde im eigenen Leben. Die Enkelin recherchiert in Asien für einen Reiseführer, die Mutter arbeitet als Reiseführerin, und die Großmutter hielt der eifersüchtige Ehemann auf einem einsam gelegenen Berghof fest.
Olga Tokarczuk hat wohl gewusst, dass von diesem bestürzenden Szenario der Entwurzelung, das durch die Todesnähe zusätzlich aufgeladen wird, nur auf zurückhaltende Weise erzählt werden kann. Also verzichtet sie auf ein ausgedehntes Motivgeflecht und lässt mit Hilfe extremer Wetterlagen beängstigende, zeitenthoben schwebende Stimmungen entstehen.
Doch bei der Innenausstattung ihrer Figuren, denen ihre Erzählerin immer gleich nah ist, vergisst Tokarczuk zuweilen alle guten Vorsätze: Tochter Ida wird mit ominösen Herzproblemen und einer Anstellung bei der Touristikfirma „Herz Europas“ versehen, Enkelin Maja möchte aufs Essen verzichten, um eine „vollkommene Monade“ zu werden. So weit, so plakativ.
Noch schlimmer kommt es, wenn eine der Frauen in ihrem Hass auf den eigenen Körper die blutigen Gewebefetzen der Menstruation imaginiert. Im Leiden schließt Tokarczuk (Frauen-) Körper und Zeitgeschichte kurz, nicht anders, als es in der deutschen Literatur zuletzt in den achtziger Jahren beliebt war.
Wer erfahren will, auf welch traumwandlerisch sichere Weise sie von Grenzüberschreitungen zu erzählen vermag, sollte nicht zu den „Letzten Geschichten“, sondern zu ihrem ebenfalls neuen Erzählungsband „Spiel auf vielen Trommeln“ (Matthes & Seitz Berlin) greifen.
Olga Tokarczuk: Letzte Geschichten. Roman.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Deutsche Verlags-Anstalt.
München 2006. 298 S., 22,90 Euro