Syriens Dreiteilung

Krise ohne Öffentlichkeit

25:24 Minuten
Drei Menschen verbrennen Müll in einer Feuertonne, um sich zu wärmen, in Idlib, Syrien.
Es ist kalt in der syrischen Stadt Idlib: Wer nicht frieren möchte, verbrennt Zweige und Müll. © picture alliance / AA / Muhammed Said
Von Sandra Bieger und Tilo Spanhel  · 09.01.2023
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Nach dem Kriegsausbruch 2011 manifestiert sich die Teilung Syriens: Die Kurden kontrollieren den Nordosten, die heterogene Opposition die Region Idlib und Machthaber Assad den Rest. Die humanitäre Lage ist überall schlecht, die Verhandlungen stocken.
Auch in Syrien ist aktuell Winter. Im Norden des Landes pustet der Wind Regen und Graupel über die hügelige Landschaft. Nachts können die Temperaturen bis unter den Gefrierpunkt fallen. "Wir haben ein sehr schwieriges und hartes Leben. Viele sammeln Plastikmüll, um ihn zu verbrennen und sich und ihre Kinder warm zu halten", berichtet Abu Wajih der Nachrichtenagentur AFP.
Die Region rund um Idlib, im Nordwesten, ist der kleinste Machtblock in Syrien und durch von der Türkei unterstützten Milizen kontrolliert. Dort gibt es besonders viele Flüchtlingscamps. Menschen wie Abu Wajih hausen oftmals in kaputten Zelten. Fließend Wasser und Strom gibt es fast nirgendwo.

Zukunft im Flüchtlingslager

Dass die Menschen aus den Flüchtlingslagern im Norden und Nordwesten Syriens bald in ihre Heimatdörfer zurückkehren können, glauben die wenigsten Beobachter. "Es gibt auch keine Angebote des Regimes", sagt Bente Scheller, Referatsleiterin Nahost bei der Heinrich-Böll-Stiftung. "Das Regime möchte diese Menschen nicht zurückhaben. Es beachtet sie als politisch unzuverlässig und als eine ökonomische Belastung. Deswegen möchte es alles tun, damit sie nie wieder zurückkehren."
Größere wirtschaftliche Belastungen könnte das Assad-Regime kaum noch stemmen. Fast überall gibt es für nur noch wenige Stunden am Tag Strom. Auch fließend Wasser ist keine Selbstverständlichkeit. Ein Grund, warum im letzten Jahr großflächig zu Cholera Fällen kam. In 13 der 14 von Präsident Baschar al-Assads kontrollierten Provinzen wurde Cholera bestätigt.

In dieser Folge des Weltzeit-Podcasts gibt es auch ein Interview mit Jacqueline Flory von der Hilfsorganisation Zeltschule, die seit 2016 in Syrien und dem Libanon in Flüchtlingscamps Schulen aufbaut und betreibt, um Tausenden Kindern eine Perspektive zu ermöglichen.

Selbst in der Hauptstadt Damaskus leiden die Menschen. Die wirtschaftliche Situation sei katastrophal, sagt Mohamed Khattab, ein Ladenbesitzer. "Es sind die hohen Preise, die den Menschen alle Hoffnung nehmen. Ich sehe jeden Tag wie sie darunter leiden. Es gibt nichts mehr, das sie glücklich macht."
Das Regime versucht, Proteste mit aller Härte zu unterbinden, berichten Menschenrechtsorganisationen. Wer widerspricht, dem droht Folter und Gefängnis, und trotzdem: In der Provinz Suwayda kam es vor einigen Wochen zu Protesten. Die Menschen wollten auf ihre schlechten Lebensbedingungen aufmerksam machen.
Nahost-Expertin Bente Scheller vermutet, dass es den Menschen, die in den von Kurden kontrollierten Gebieten leben, im Vergleich noch am besten gehen dürfte. Es ist der dritte Machtbereich in Syrien. "Hier gibt es Wasserzugang und wenig Zerstörung, weil der Krieg hier nur sehr begrenzt gewütet hat." Gerade im Nordosten sei viel Infrastruktur unversehrt geblieben.

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Etwa 30 Prozent der Fläche Syriens – im Norden und Nordosten – werden von kurdischen Milizen kontrolliert. Menschen, die in diesem Landesteil leben, gehe es möglicherweise nicht ganz so schlecht, mutmaßt Scheller. Dafür kam es hier letzten Jahr häufig zu Gewalt, einerseits durch IS-Terroristen und andererseits durch die Türkei. Die hat in den vergangenen Monaten vermehrt kurdische Stellungen angegriffen, wobei immer wieder auch Zivilisten gestorben sein sollen, berichten offizielle kurdische Stellen. Nabo Ramadan, ein Einwohner von Kobane, erzählt, dass die Leute aus Angst vor den Raketenangriffen nicht schlafen könnten. "Sie haben Angst, dass Kobane jederzeit wieder angegriffen werden könnte. Es ist schlimm."

Ukraine-Krieg trifft auch Syrer

Egal, in welchem der drei Einflussgebiet: Gut geht es den Menschen in Syrien nirgendwo. Der Ukraine-Krieg hat die Lage noch einmal verschlechtert. Grundnahrungsmittel und Benzin sind so teuer wie nie.
Aber vor allem ist die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit nicht mehr auf Syrien gerichtet. Dadurch fehlen Hilfsorganisationen die finanziellen Mittel, um den Menschen vor Ort zu helfen. Auch lasse der außenpolitische Druck auf die Konfliktparteien nach, bemängelt Bente Scheller. Dass Syrien in naher Zukunft wieder ein vereintes Land wird, glaubt sie nicht. "Es ist schwer vorzustellen, dass das wieder zusammenwächst. Denn diese Machtbereiche haben sich konsolidiert. Wir sehen hier sehr wenig Bewegung. Die informellen Grenzen haben sich verstetigt. Deswegen werden es wohl auf absehbare Zeit diese drei Machtbereiche bleiben."
Demonstranten tragen eine große syrische Flagge: Sie demonstrieren gegen eine Annäherung zwischen der syrischen Regierung und Ankara.
Demonstration gegen eine Annäherung zwischen der syrischen Regierung und Ankara.© picture alliance / NurPhoto / Rami Alsayed
Zuletzt gab es aus der Türkei Anzeichen, dass man seine Syrien-Politik in Zukunft ändern wolle. Der türkische Präsident Erdogan schloss ein Treffen mit seinem Amtskollegen Assad nicht mehr aus. Er könnte mit diesem Schritt lediglich einen Partner im Kampf gegen die Kurden suchen. Aber die Annäherung ans Assad-Regime könnte auch zu wirklichen Veränderungen in Syrien führen. Das haben die mehr als dreijährigen Verhandlungen in Genf für eine neue Verfassung bisher nicht geschafft.

Hohe Erwartungen an Verhandlungen

Initiiert 2015 im Zuge der UN Resolution 2254 waren die Erwartungen für das Komitee hoch – zu hoch, meinen Insider wie der deutsche Diplomat Carsten Wieland. „Es ist ja in dieser Region so, dass wir alle wissen, dass man mit einem Blatt Papier, also einer neuen Verfassung, die Realität am Boden kaum ändern kann, und schon gar nicht in Syrien, wo ein so brutales Regime seine eigene Bevölkerung massakriert hat. Dass ein solches System mit einer Verfassung zu korrigieren wäre, ist ein Teil der Traumwelt.“
Carsten Wieland weiß, wovon er spricht. Der deutsche Diplomat hat zwischen 2013 und 2019 für mehrere UN-Syrien-Envoys, also Sondergesandte, gearbeitet – zuletzt für den Norweger Geir Pedersen. Carsten Wieland war bei den UN-Vermittlungen im Syrienkrieg der Ansprechpartner für die Opposition. Er sagt, diese habe – anders als Präsident Assad – tatsächlich Interesse an einer neuen syrischen Verfassung. Letzterer habe sich auf das Unterfangen nur deshalb eingelassen, weil die Russen ihn dazu gezwungen hätten.

Putin und Assad wollen keine Reformen

Putin habe gewollt, dass die Verfassung, eigentlich nur ein Baustein der UN-Resolution 2254 für Syrien, als erstes angegangen wird. „Das war natürlich ein Manöver, das alle kritischen Fragen zur Regierungsführung und zu Reformen ausgeschaltet hat, die Assad ja niemals wollte und bis heute auch nicht will. Damit hat man diesen Prozess harmloser gestaltet für das syrische Regime, das ohnehin kein Interesse an den Verhandlungen in Genf hatte.“
Am 30. Oktober 2019 nahm das 150-köpfige Verfassungskomitee in Genf seine Arbeit auf – revolutionär war, dass erstmals Vertreter des Assad-Regimes, der Opposition und der Zivilgesellschaft zu gleichen Teilen und im direkten Austausch miteinander ins Gespräch kommen sollten. Kurden waren jedoch von Anfang an nicht dabei. Das hatte die Türkei zu verhindern gewusst. Trotzdem sei diese Verhandlungskonstellation auf Augenhöhe prinzipiell ein Fortschritt, sagt der Diplomat Carsten Wieland.
Ein Mann im Anzug telefoniert neben einem schwarzen Auto stehend: Ahmad Kuzbari, Mitglied der syrischen Regierung und Co-Vorsitzer des Verfassungskomitees.
Nichts geht voran: Ahmad Kuzbari verhandelt für die syrische Regierung beim Verfassungskomitee. Interesse an einer Einigung besteht wohl kaum.© picture alliance / Keystone / Salvatore di Nolfi
Dass daraus auch jenseits des Verhandlungstisches etwas Positives erwächst, habe das syrische Regime aber von Anfang an zu verhindern gewusst. „Das könnte ja auch eine Dynamik entwickeln, wo sich die Mitglieder besser kennenlernen. Aber das ist auch die Befürchtung des Regimes. Deshalb dürfen die Regierungsmitglieder des Verfassungskomitees nie an gemeinsamen Essen oder Treffen teilnehmen. Die werden immer gleich isoliert, müssen zurück ins Hotel.“

Etliche Verhandlungsrunden, keinerlei Ergebnis

So haben acht Verhandlungsrunden in mehr als drei Jahren bislang keinerlei Ergebnis gebracht – daran wird sich nach Ansicht des Syrienkenners Carsten Wieland so schnell auch nichts ändern. Nicht zuletzt, weil Assad dank russischer Militärhilfe im Krieg wieder die Oberhand hat. Deswegen sei er weniger denn je an einer erfolgreichen Arbeit des Komitees interessiert.
In jüngster Zeit hatte der russische Präsident Putin dann auch noch den Verhandlungsort Genf infrage gestellt: Weil die Schweiz im Ukrainekrieg die Sanktionen der EU gegen Russland mitträgt, sprach er ihr die nötige Neutralität ab. Carsten Wieland hält das für eine Verzögerungstaktik. "Erst war es Corona, dann waren es angeblich zu spät ausgestellte Visa und Zweifel an der Schweizer Neutralität. Man sieht, man sprich über Formalitäten statt über Inhalte. Das ist eben das Problem der UN.“ Die hält allem Frust und allen Rückschlägen zum Trotz weiter am Verfassungskomitee fest.
Es sind nach wie vor dicke diplomatische Bretter, die im Syrienkonflikt gebohrt werden müssen. Assad will auf jeden Fall an der Macht bleiben, auch, damit er für seine Taten im Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Für die sehr heterogene Opposition ist dagegen ein Syrien mit Assad nicht denkbar. Was bleibt, ist das Prinzip Hoffnung.
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