Sylvain Cambreling dirigiert Schubert und Bruckner

Unvollendete Romantik?

Der Dirigent mit grauem Haar, das zu einem Zopf zusammengebunden ist, schaut in einem hellen Raum nach links Richtung Fenster.
Sylvain Cambreling legte die Posaune zur Seite - das Dirigieren übte eine zu große Faszination auf ihn aus. © imago images / Kai Bienert
Moderation: Stefan Lang, Gast: Sylvain Cambreling · 13.12.2020
Sylvain Cambreling dirigiert einen vollendeten Torso: die "Unvollendete" Sinfonie Franz Schuberts, die nach zwei Sätzen abbricht. Danach die Vierte von Bruckner, die "Romantische", die der Komponist als unvollendet empfand und mehrmals überarbeitete.
Die Konzerthäuser bleiben weiter geschlossen. Doch Deutschlandfunk Kultur bietet ihnen auch heute wieder ein Konzert, das wir mit dem Rundfunk-Sinfonierochester Berlin und Sylvain Cambreling in einem Studiosaal für Sie aufgenommen haben.

Dankessinfonie bleibt liegen

Es sind nur zwei Sätze - und doch ein kompletter Torso einer Sinfonie. Franz Schubert hatte einen dritten Satz begonnen, ein Scherzo, doch dieser bricht nach wenigen Takten ab.
Diese Unvollendete entstand 1822 - zu dieser Zeit saß Ludwig van Beethvoen gerade über seiner Neunten. Schubert legte das Werk zur Seite. Erst 40 Jahre später gab sein Freund Hüttenbrenner das Manuskript frei. 1865 kam es schließlich in Wien zu einer Uraufführung.
Schubert selbst fühlte sich den Herausforderungen, den Qualitätsparametern des Umfelds nicht gewachsen. Er war Ehrenmitglied im Steiermärkischen Musikverein in Graz geworden und sollte sich für diese Auszeichnung erkenntlich zeigen - also ein Werk abliefern. Er versprach eine Sinfonie, und gewann dann die Einsicht, keine liefern zu können.
Idealisierte, nachkolorierte Zeichnung des sitzenden Komponisten mit kurzem, dunklen, lockigem Haar und kleiner, rundlicher Brille.
Franz Schubert hatte Freunde in der Steiermark, die er ab und zu besuchte.© imago images / Leemage
Er schrieb in die Steiermark: "Ich besitze fürs ganze Orchester eigentlich nichts, welches ich mit ruhigem Gewissen in die Welt hinaus schicken könnte."
Sein Freund Anselm Hüttenbrenner – selbst Mitglied des Musikvereins – erhielt dann Monate später das Manuskript der h-Moll Sinfonie. Er übergab es nicht dem Verein, er verleibte es seiner Privatbibliothek ein. Hüttenbrenner schob nie eine Aufführung an - Schubert erinnerte sich und ihn nicht daran.

Musik gegen Vaters Willen

Der Vater will in Franz die eigenen Lebenspläne verwirklichen – der 11-Jährige sollte im Stadtkonvikt zu Wien zu einem würdigen Untertanen, einem begnadeten Lehrer gedrillt werden. Franz versagte, verweigerte, um sich der Musik zu widmen.
Der Vater verbot das Elternhaus, zwang ihn zu Schule und Internat. Erst am Grab der Mutter konnte der Sohn dem Vater verzeihen: "Wollte ich Liebe singen, so ward sie mir zum Schmerz. Wollt ich aber Schmerz nur singen, wo ward er mir zur Liebe. So zertheilten mich die Liebe und der Schmerz." Die Pole des Traums hören wir in den beiden Sätzen der Unvollendeten.

Mit dem Hornruf in die Sinfonie

Bruckners Sinfonie Nr. 4 Es-Dur trägt den Beinamen "Romantische". Gleich zu Beginn gibt es einen eindringlich romantischen Hornruf, aus dem Nichts kommend, mit großer atmosphärischer Wirkung - klingender Inbegriff der Romantik.
Bruckner hatte ein Programm im Kopf: Mittelalterliche Stadt – Morgendämmerung – von den Stadttürmen ertönen Morgen-Weckrufe, die Tore öffnen sich, auf stolzen Rossen sprengen die Ritter hinaus ins Freie – der Zauber des Waldes umfängt sie – Waldesrauschen, Vogelgesang. So hat das Bruckner märchenhaft beschrieben. Und derart Bilder stellen sich dann wahrlich ein.
Nachkolorierte Fotografie des Komponisten mit grauem Haar, der seitlich zum Betrachter schaut.
Anton Bruckner war kein "romantischer Mensch", sondern voller Pflichtbewußtsein.© imago images / Leemage
Das alles stempelt Bruckner aber keineswegs zum Programmmusiker, auch sollte man vorsichtig sein, ihn selbst als romantischen Menschen zu bewerten. Seine Persönlichkeitsstruktur hält dagegen: von Pflichten geradezu besessen, als Musiker und als Lehrer. An der Wiener Universität war er ein gewissenhaft erfüllender Musikbeamter. Als Komponist war ihm das gottgegebene Talent bewusst – auch hier fühlte er sich geradezu zur sinfonischen Pflichterfüllung gezwungen.

Nach der Uraufführung drei Mal überdacht

Die Vierte Sinfonie begann Anton Bruckner im Januar 1874, am 22. November des Jahres war sie "um halb neun Uhr abends" vollendet – nach Bruckners Eintrag. War sie nicht. Denn Bruckner setzt noch drei Mal den Korrekturstift an: für die zweite Fassung 1878 schuf er ein neues Scherzo, die dritte Fassung 1880 sieht er neun Jahr später nochmal durch und findet endlich 1889 zur gültigen Form.
Aufzeichnung vom Nachmittag im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks Berlin
Franz Schubert
Sinfonie h-Moll D 759 ("Unvollendete")
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur WAB 104 ("Romantische")
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