Swetlana Alexijewitsch

"Wir sind Gefangene einer Kriegskultur"

Swetlana ALEXIJEWITSCH, Weissrussland, Schriftstellerin, Preistraegerin Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2013, Gestik, Geste, am 11.10.2013.
Die weißrussische Autorin und Journalistin Swetlana Alexijewitsch. © dpa / picture-alliance / Anke Waelischmiller
Von Sabine Adler · 15.03.2016
Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch schreibt seit fast 40 Jahren über die Ex-Sowjetzeit und deren Folgen. Jetzt könne sie das Leid nicht mehr sehen, sagt sie - und arbeitet deshalb an einem Buch über die Liebe.
Die CDU-Chefin und Kanzlerin Angela Merkel bekommt von unerwarteter Seite Lob und Anerkennung. Die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat gestern Abend bei ihrem Berlin-Besuch die hierzulande umstrittene Flüchtlingspolitik als vorausschauend und einzigartig bezeichnet.
"Das ist strategisch weise von Merkel, weil es in den nächsten 10, 20 Jahren noch Millionen Umweltflüchtlinge geben wird. Wir werden uns daran gewöhnen und darauf vorbereiten müssen, mit Fremden zu leben. Das ist ein strategisches, sehr kluges Denken der Kanzlerin, das ich bei niemandem sonst sehe."
Die Weißrussin ist einer breiten deutschen Öffentlichkeit mit ihrem "Tschernobyl"-Buch bekannt geworden. Die Erfahrungen nach dem ersten GAU, der sich am 16. April zum 30. Mal jährt, seien wertvoll für die Aufräumarbeiten heute in Fukushima.

"Tschernobyl hat die Menschen wissender gemacht"

"Ich habe Fukushima-Überlebende getroffen und mit Wissenschaftlern gesprochen. Bei Tschernobyl waren wir ahnungslos, die Regierung schickte Militärtechnik und Soldaten mit Waffen. Ich weiß noch, wie ich sie fragte, ob sie damit auf die Radioaktivität schießen wollen. In Fukushima hilft unser Wissen aus Tschernobyl sehr.
Heute würde keiner neben einem explodierten Reaktor angeln oder alles Hab und Gut, einschließlich der Einweckgläser mit Himbeeren aus der verstrahlten Zone rausbringen. Es würde auch keiner mehr wie bei uns mit seinen Kinder nachts zum brennenden Reaktor fahren, weil das nachts so besonders schön aussieht. Das Vertrauen in die Wissenschaft ist gesunken, der Fortschritt wird als eine andere Form des Krieges angesehen. Tschernobyl hat die Menschen wissender gemacht."
Die 67-jährige Nobelpreisträgerin schreibt auf Russisch, ist Kind eines weißrussischen Vaters und einer ukrainischen Mutter. Sie wünscht den Aktivisten des Maidan den Erfolg, der ihnen nach der Orangenen Revolution noch versagt blieb.
"Die Ukraine hat das gemacht, was wir noch vor uns haben, wozu Russland und Weißrussland bislang nicht fähig waren. Die Ukraine hat jetzt zwei Feinde: Russland und den Feind im Inneren: die Korruption. Und ich weiß nicht, welcher schlimmer ist."
Russland bewege sich ihrer Meinung nach rückwärts, in ihrer Heimat Weißrussland habe Präsident Lukaschenko die Zeit angehalten und damit dem Land eine Entwicklung wie im Baltikum z.B. verwehrt.

"Bei uns gab es immer Krieg"

Zentrales Thema der Literaturnobelpreisträgerin, die nach wie vor in Minsk lebt, ist die Sowjetzeit, "rote Zivilisation" wie sie sagt. Ihre Bücher will sie als eine Warnung vor der grausamen Utopie verstanden wissen.
"Wir sind Gefangene einer Kriegskultur. Es geht nicht um Sowjetmentalität, bei uns gab es immer Krieg. Bürgerkrieg in der Revolution, zu Stalins Zeiten, der Zweite Weltkrieg, in den 90er-Jahren erschossen sich die Geschäftsleute auf offener Straße, dann Tschetschenien, jetzt die Ukraine.
Unser Fehler zum Ende der Sowjetunion war, dass wir auf die Straße gingen und 'Freiheit' riefen und glaubten, allein daraus entsteht die Freiheit. Das Land war ein einziges großes Straflager und die Freiheit musste erst aufgebaut, erarbeitet und erklärt werden. So wie Putin das heute macht. Sein Programm wird massiv vom Fernsehen begleitet, das die Leute bearbeitet."
Fast 40 Jahre hat sie über die Ex-Sowjetunion und deren Kriege geschrieben. Sie könne das Leid nicht mehr hören, nicht mehr sehen. Deswegen arbeitet sie derzeit an einem Buch über die Liebe, obwohl die auch nicht immer lustig sei.
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