Süßes für den Geist

27.07.2010
Marcel Proust als Hirnforscher, George Eliot als Biologin: Der US-Amerikaner Jonah Lehrer zeigt auf unterhaltsame Weise, welche naturwissenschaftlichen Einsichten die Kunst bereithält.
Wie lernen wir hören? Warum können wir uns an manche Erlebnisse so gut erinnern? Wie schmecken, fühlen oder sehen wir? Und wer kann uns diese Fragen besser beantworten, die Kunst oder die Wissenschaft?

Wer jetzt noch glaubt, die Wissenschaft habe natürlich die besseren Erklärungen für all die Phänomene des Lebens, der wird in "Prousts Madeleine" einige Überraschungen erleben. Außergewöhnlich spannend erzählt der amerikanische Wissenschaftsautor Jonah Lehrer, wie Paul Cezanne, George Eliot, Igor Strawinsky, Virginia Woolf und weitere berühmte Künstler Erkenntnisse der Hirnforschung beschrieben haben, lange bevor die Wissenschaft sie untersucht hat. Ein wunderbares Buch, das sehr anschaulich zeigt, wie das genaue Beobachten der Künstler oft schneller und besser die Fragen der Wissenschaft formuliert, als eine Versuchsanordnung im Labor.

Marcel Prousts Madeleine – dieses kleine süße Gebäck, schmückt auch das Buchcover – hat den französischen Autor in seinem Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" fast 100 Jahre früher als die Neurowissenschaften zu der Erkenntnis geführt, dass Erinnerungen keine einmal festgeschriebenen Fakten sind, sondern sich ständig verändern. Der Verzehr des kleinen Kuchens ließ den Schriftsteller außerdem erkennen, dass Geschmack und Geruch die entscheidenden Komponenten für das Erinnern sind. Heute weiß die Neurowissenschaft, dass der Geschmacks- und der Geruchsinn direkt mit dem Hippocampus verbunden sind, dem Zentrum des Langzeitgedächtnisses im Gehirn.

Ähnlich vorausschauend beschrieb der amerikanische Dichter Walt Whitman in seinen Gedichten, lange bevor es die Medizin tat, den Phantomschmerz. Er entdeckte damit die Einheit von Körper und Geist. Ebenfalls visionär erkannte die Schriftstellerin George Eliot die enorme Wirkung von Umwelteinflüssen auf die Genetik. In ihrem Roman "Middlemarch" schrieb sie, wenn auch indirekt, so doch äußerst detailliert über die Individualität der Evolution. Eliot erkannte zu einer Zeit, als man sich das Leben noch als perfekte Schöpfung vorstellte, dass auch in der Biologie der Zufall mitregiert.

Jonah Lehrer zeigt auf unterhaltsame Weise, welche naturwissenschaftlichen Einsichten die Kunst bereithält. Verständlich zeichnet er dazu die Gedankengänge und Umgebung der verschiedenen Schriftsteller, Maler und Musiker nach und erläutert im Anschluss die naturwissenschaftlichen Details. Diese Einblicke in die Arbeitsweisen der Künstler sind dem Autor extrem gut gelungen, so dass man problemlos versteht, wie der jeweilige Dichter oder Maler zu den revolutionären Erkenntnissen der Hirnforschung gelangte.

Jonah Lehrer, der Theologie, Literatur und Neurowissenschaften studiert hat, vereint beeindruckend, was im gängigen Wissenschaftsbetrieb meist weit von einander getrennt wird. Warum eigentlich?, fragt er. Beschreibt doch gerade die Kunst, was die Wissenschaft oft nicht in Worte fassen kann. Sein Buch hilft in jedem Fall beim Umdenken. Es wirkt wie eine Art natürliches Gehirndoping, mit dem die Neuronen der Leser auf neue Wege geführt werden.

Besprochen von Susanne Nessler

Jonah Lehrer: Prousts Madeleine. Hirnforschung für Kreative
Piper-Verlag, München 2010
302 Seiten, 21,95 Euro