Südamerika wählt links

In den vergangenen Jahren gab es in Südamerika einen politischen Linksruck. Zahlreiche konservative Regierungen wurden aus dem Amt gefegt, die Wähler übertrugen den Linken die Verantwortung. Das Buch „Lateinamerika im Aufbruch“ analysiert diesen Trend und sieht nach Jahrhunderten der Unterdrückung eine geopolitische Wende auf dem südamerikanischen Kontinent.
Merkwürdiges geschieht in Südamerika; im „Superwahljahr“ 2006 wurde der Kontinent förmlich überrollt. Die Präsidenten der wichtigsten Länder lieben dieselbe politische Farbe – rot. „Volkstribun“ Hugo Chavez in Venezuela, der Gewerkschafter „Lula“ da Silva in Brasilien, der Kokabauer Evo Morales in Bolivien, Nestor Kirchner in Argentinien, Michelle Bachelet in Chile – sie alle nennen sich „Linke“ oder werden von anderen so genannt.

Was also geschieht in der Region? Entwickelt sich dauerhafter Widerstand gegen das etablierte System? Ist der Erdteil mit Chavez gar unterwegs in einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“? Oder gelangte schlicht eine neue Generation von Populisten an die Macht?

Ein Sammelband aus dem Wiener Mandelbaum-Verlag spiegelt den Trend. „Lateinamerika im Aufbruch“. Elf Lateinamerika-Kenner – Soziologen, Anthropologen, Ökonomen, Journalisten, Juristen – untersuchen ein Phänomen: „Soziale Bewegungen machen Politik“. Einige Beiträge bieten klassische Länderporträts, Analysen der jüngeren Geschichte. Andere Texte ergründen „Alternativen im Vormarsch“ als „Bausteine einer anderen Welt“. Dies sollen sie sein, die Rezepte für die Komplettsanierung der menschlichen Gesellschaft: Solidarwirtschaft müsse die Marktwirtschaft ersetzen, eine Gruppe „pluriethnischer“ Autonomie-Gebilde den „neoliberalen Zentralstaat“, die „partizipative“ Demokratie schließlich die altehrwürdige repräsentative Demokratie.

Etliche der Autoren beackern ihr Feld mit wissenschaftlicher Akribie. Nur, leider, das ganze Projekt wird überformt von der ideologischen Intention anderer Verfasser (die Herausgeber gehören dazu). Bei ihnen steht nicht der forschende Anspruch im Vordergrund, sondern Wunschdenken. Die Wahlergebnisse signalisierten ihrer Auffassung nach nicht weniger als eine „geopolitische Wende“, hervorgerufen durch eine „Politisierung der durch Jahrhunderte unterdrückten Kulturen“. Das Ziel ist klar, weniger Armut, mehr Demokratie. Zu erreichen sei es durch den Sieg eines Bündnisses „sozialer, ökologischer und demokratiebewusster oppositioneller Kräfte“ (gemeint sind Volksorganisationen wie Brasiliens Landlosenbewegung oder Indígena-Konföderationen) über die herrschende Allianz aus Regierung und Großinvestoren. Kurz: Der Band beschwört einen die „Bevölkerungsmehrheiten“ mitreißenden Kampf gegen die Schimären Neoliberalismus und Globalisierung, während es den „ProtagonistInnen“ selbst schlicht ums Essen und ums Überleben geht.

Die Herausgeber haben den verklärenden Blick linker Romantiker. Doch die homogene und solidarische Masse, schon in den Schriften von Marx und Lenin zwingend notwendige Voraussetzung aller Umsturzpläne, existiert nicht. Und „politische Bewegungen neuen Typs“ – im Buch als Vorboten der Revolution gefeiert – hat es in Lateinamerika nach 1800 wohl zu jeder Zeit gegeben. Alle versprachen sie das Himmelreich und hinterließen Scherbenhaufen, wenn nicht Friedhöfe: die antispanischen „Freiheitskämpfer“, Peron samt seiner Evita, Castros Rebellen, die Guerilla-Verbände in Ches mitleidloser Tradition, Ortegas Sandinisten... Weltverbesserer ohne Zahl; fast alle stolperten in die immer selben Fallen – Amtsmissbrauch, Korruption, Macht- und Machbarkeitswahn, Gewalt und Repression. Von all dem ist im Buch nicht die Rede. Störende Fakten werden ausgeblendet, so auch die Skandale um Bachelet und „Lula“ oder die Pinochet-Begeisterung vieler Chilenen.

„Lateinamerika im Aufbruch?“ Einer der beiden Herausgeber des Bandes ist Priester, und eine religiöse Dimension hat das ganze Thesengerüst: Man muss daran glauben. Wer zahlt für diese Art Publikation? Zu Teilen die öffentliche Hand in Gestalt von Ämtern oder Ministerien. Die Dritte-Welt-Forschung ist mancherorts eine „Industrie“, die ihre Angestellten gut ernährt. Auf alter Schiene wird hier geforscht – als hätte es den Zusammenbruch des „real existierenden“ Sozialismus nicht gegeben. Ein Vorschlag an Verlag und Autoren: Man möge, bevor die nächste Zeitenwende ausgerufen wird, die Protagonisten des Wandels erst einmal zwanzig Jahre wirtschaften lassen.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Herbert Berger, Leo Gabriel (Hrsg.): Lateinamerika im Aufbruch. Soziale Bewegungen machen Politik
Mandelbaum Verlag, Wien 2007
309 Seiten, 17,80 Euro