Südafrika

"Die schwarzen Menschen haben vergeben und nichts dafür zurückerhalten"

Ein Mann hält ein Portraitfoto des verstorbenen Nelson Mandela.
Ein Mann hält ein Porträtfoto des verstorbenen Nelson Mandela. © Kim Ludbrook / picture alliance / dpa
Antjie Krog im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 13.12.2013
Nelson Mandela hatte die Hoffnung, dass die Weißen in Südafrika sich ändern würden - aber das sei nicht geschehen, kritisiert Schriftstellerin Antjie Krog. Der Reichtum des Landes sei bisher nicht geteilt worden.
Susanne Führer: Antjie Krog ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Südafrikas, elf Gedichtbände hat sie bisher veröffentlicht. Sie wuchs in einem komplett weißen Umfeld auf, prangerte aber schon früh die Apartheid an. Eigentlich lebt Antjie Krog in Kapstadt, zurzeit aber lebt sie in Berlin, wo sie vom Tod Nelson Mandelas erfuhr. Und meiner Kollegin Sigrid Brinkmann hat sie dann erzählt, wie und wo sie Mandela kennengelernt hat.
Antjie Krog: 1994, nach der ersten demokratischen Wahl hatte das Fernsehen oder die Rundfunkanstalten in Südafrika, South African Broadcasting, neue Radio- und Fernsehteams zusammengestellt, die jetzt über das neue demokratische Parlament berichten sollten, und ich wurde Teil eines Radioteams und hab für das Radio gearbeitet und ich hab ihn oft gesehen, wenn ich aus dem Parlament berichtet habe. Auch hatte ich das Vergnügen, ihn 1994 mit zu den Vereinten Nationen begleiten zu dürfen, wo er eine Rede hielt, und das war eine großartige Erfahrung für mich, ihn begleiten zu können, und es war auch mein erstes Mal in New York. Und außerdem habe ich seine Autobiografie "Ein langer Weg zur Freiheit", "A long walk to freedom", ins Afrikaans übersetzt. Und er hatte ein Treffen mit seinen fünf Übersetzern, das hat ungefähr eine Stunde gedauert, da haben wir uns auch gut kennengelernt.
Außerdem war ich bei seinem letzten Interview, das er als Präsident von Südafrika gegeben hat, dabei. Da hat er uns durch sein Haus geführt und sozusagen die Zuschauer und Zuhörer daran teilnehmen lassen, und wir begleiteten ihn in seinem eigenen Haus. Und ein anderes Mal war es, dass er ein Gedicht gelesen hatte, das ich über seine Mutter geschrieben habe. Und das hat ihn so sehr bewegt, dass er uns als Familie, also mich, meinen Mann und meine Kinder zu sich zum Abendessen eingeladen hat. Es gab also einige Kontakte mit ihm – ich war da sehr privilegiert.
Brinkmann: Als Übersetzerin von Mandelas Autobiografie waren Sie natürlich vertraut mit den Etappen seines Lebens und auch mit seiner entschiedenen Art, die Gefahr abzuwehren, nach der jahrzehntelangen Haft zum geistigen Gefangenen zu werden. Er musste einfach vergeben, um leben zu können. Hat ihn diese Haltung einzigartig gemacht?
Krog: Es ist wichtig zu wissen, dass Mandelas Führung auf einer bestimmten afrikanischen Philosophie gründet. Diese Philosophie besagt, dass alles tief mit allem und allen verbunden ist, auch mit Fremden und Mördern ist man verbunden. Diese Verbindung hält alles zusammen, sozusagen. Und einmal wurde eine Frau in der Wahrheitskommission gefragt, ob sie denn an Vergebung und Versöhnung glauben würde. Und da sagte sie: Wenn dem Mann vergeben wird, wenn ich dem Mann vergeben werde, der mein Kind getötet hat, der dadurch seine Menschlichkeit verloren hat, dass er das getan hat – wenn ich ihm also vergebe, gebe ich ihm die Chance, seine Menschlichkeit wiederzuerlangen. Erst durch die Vergebung erhält er die Chance auf Besserung, auf Wiedererlangung seiner Menschlichkeit.
Und wenn ich ihm vergebe, erhalte ich dadurch auch die Chance, meine eigene Menschlichkeit, die so sehr verletzt worden ist dadurch, wiederzuerlangen. Und so hat auch Mandela gedacht, das Vergeben wurde sozusagen ausgeweitet. Er fühlte sich auch mit der ganzen Menschheit verbunden innerhalb dieser Philosophie. Durch das Vergeben hatte er die Hoffnung, dass wir als Weiße uns ändern würden. Die Tatsache, dass wir das nicht wirklich getan haben, ist etwas anderes. Und das ist ein Problem, was dann noch folgte. Und die meisten Leute haben auch immer gesagt, nur er kann vergeben, aber nicht die Schwarzen allgemein.
Brinkmann: Antjie Krog, Sie haben einmal gesagt, jeder Südafrikaner hat nur ein halbes Gedächtnis – ein weißes oderein schwarzes. Gilt das noch, heute?
Krog: Ich glaube schon. Und das liegt genau daran, dass wir diese afrikanische Philosophie eben nicht richtig beherzigen. Und das betrifft natürlich nicht nur Südafrika. Man hat es ja gesehen, die ganzen afrikanischen Diktatoren, die zur Trauerfeier gekommen sind, die ihn alle bewundern oder vorgeben, ihn zu bewundern, gleichzeitig aber ihre eigenen Völker unterdrücken. Oder wie Obama auch schreibt in seinem Vorwort zu seinem eigenen Buch, er bewundere Mandela. Mandela sei ein Vorbild, ein Mentor für ihn. Und in der gleichen Woche lässt er Osama Bin Laden umbringen. Diese Widersprüche, die tauchen immer wieder auf.
Und das liegt daran, dass Mandela immer wieder gezielt als Ausnahme dargestellt wird. Er wird als etwas Besonderes, Erhabenes präsentiert, dem nachzueifern man gar nicht erst versuchen muss, da wir ohnehin nie dahin kommen werden. Wir werden es gar nicht schaffen. Und das lässt einen vergessen oder soll einen vergessen machen, dass man vielleicht auch so leben könnte, wie Mandela das getan hat, und ihn nicht als eine Ausnahme betrachten sollte. Aber so wird so gesagt: Nein, nein, das ist Mandela. Das ist nichts für uns, wir können weiter Rache üben.
"Mandela ist bei den Vorfahren - ein großer Grund zur Freude"
Von daher kommen auch viele Missverständnisse. Zum Beispiel die ausländischen Fernsehteams und Reporter, die jetzt kommen, die wollen immer weinende Menschen sehen, und alles, was sie vorfinden, sind Leute, die tanzen und singen. Da könnten sie sich ja jetzt sagen, diese schwarzen Menschen, die tanzen ja immer nur und singen nur und keiner von denen weint. Aber man muss verstehen, dass die Verbindungen zu den Vorfahren sehr groß ist, und dass, wenn man jetzt weiß, dass Mandela bei den Vorfahren ist, dass das ein großer Grund zur Freude ist.
Brinkmann: Befürchten Sie, Frau Krog, dass das Land an den noch bestehenden Rassen- und Klassengegensätzen zerbrechen kann?
Krog: Ja. Ich glaube schon. Die schwarzen Menschen haben vergeben, und sie dachten, dass die Weißen sich ändern würden, und jetzt sehen sie, dass das nicht passiert ist. Sie dachten, sie würden den Reichtum des Landes teilen. Aber sie haben vergeben und nichts wirklich dafür zurückerhalten. Und das ist ein Punkt, an dem die Menschen anfangen, wütend zu werden und sich auch andere Optionen vorstellen zu können. Und daher kommt es, dass weiße Rechtsorientierte jetzt auch Angst haben, dass Leute getötet werden könnten nach Mandelas Tod.
Brinkmann: Bis zum Frühsommer wohnen Sie noch in Berlin, danach geht es zurück nach Kapstadt. Wie viel Gehör finden Lyriker und Erzähler in der südafrikanischen Gesellschaft?
Krog: Südafrika ist eine mündliche Kultur, eine Kultur der mündlichen Überlieferung. Poesie, Erzählungen, Singen und Tanzen sind sozusagen Grundgüter der Gesellschaft. Es gibt eine sehr hohe Analphabetenrate, also nicht viele Leute lesen, und es gibt eine große Armut, das heißt, nicht viele Leute können sich wirklich Bücher kaufen. Aber komischerweise sind Autoren im Land sehr gut anerkannt, und meine Bücher stehen zum Beispiel auf der Liste der Schullektüre. Und es kann mir passieren, dass auch schwarze Kinder auf mich zukommen und sagen: Ah, wir müssen dieses und jenes Gedicht von Ihnen lesen.
Seit der Freiheit explodieren die Künste. Es ist so viel Potenzial da, was endlich raus kann, aber es ist eben kein Geld vorhanden. Die Leute haben nicht die Möglichkeiten, das Geld, das alles umzusetzen. Aber es ist eine sehr lebendige Gesellschaft. Was bei uns stattfindet, ist, dass wir alle Probleme auf einmal haben. Bei uns trifft alles auf einmal. Hier in Berlin musste ich öfter lächeln über die Debatten über den Mindestlohn. Das ist bei uns ein ganz heißes Thema, da wird sehr drüber diskutiert. Oder die Frauenquote – die haben wir schon 1994 eingeführt und wurden dafür sehr belächelt. Aber wir haben gesagt, das ist wichtig, wir brauchen das. Dann wird über die schlechten Schulleistungen der Kinder gesprochen, dass sie nicht richtig lesen können. Das gleiche Problem haben wir auch. Vielleicht sind wir gar nicht so anders als die anderen, aber wir wollen halt Ausnahmen sein, wie Mandela.
Führer: Das sagt die südafrikanische Schriftstellerin Antjie Krog, gedolmetscht von Marei Amir, im Gespräch mit meiner Kollegin Sigrid Brinkmann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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