Sudabeh Mortezai über ihr Flüchtlingsdrama "Joy"

Opfer, die zu Täterinnen werden

Szene aus dem Film "Joy"
"Sie sind Komplizinnen in einem System, wo sie Opfer und Täterin zugleich sind", sagt Regisseurin Sudabeh Mortezai über ihre Protagonistinnen. © FreibeuterFilm
Sudabeh Mortezai im Gespräch mit Patrick Wellinski · 08.09.2018
In "Joy" kommt eine Frau aus Nigeria nach Wien und arbeitet als Prostituierte. Sudabeh Mortezai hat monatelang für diesen Film recherchiert. Um in Europa überhaupt eine Chance zu haben, gebe es für diese Frauen nur eine Möglichkeit, sagt die Regisseurin.
Sudabeh Mortezai: Die Genese war ein bisschen kompliziert, aber um es jetzt mal sehr stark zu vereinfachen: Ich habe eigentlich schon bei "Macondo" Interesse bekommen an der nigerianischen Community in Wien, weil ich ein paar Menschen aus Nigeria kennengelernt habe und habe Lust gehabt, irgendwas mit Nigeria zu machen. Ich bin bei der Recherche sehr schnell auf dieses Thema Frauenhandel gestoßen, habe einige Bücher gelesen und Artikel zu dem Thema. Es hat mich wahnsinnig schockiert, dass Frauen andere Frauen ausbeuten und dass diese Madames auch eigentlich immer selber ehemalige Prostituierte und Opfer von Menschenhandel selber sind und den Spieß umgedreht haben, und das war für mich natürlich wahnsinnig faszinierend als Filmemacherin und als Frau besonders schockierend. Wie gibt es das oder wie kann das funktionieren, dass eine Frau, die das selbst erlebt hat, jetzt zur Täterin wird, und da hat es sich dann angefangen zu entwickeln.
Wellinski: Können Sie vielleicht erzählen, wie Sie dann die Geschichte aus Ihren Recherchen konstruiert haben? Haben Sie auch mit betroffenen Frauen gesprochen?
Mortezai: Ja, ganz, ganz viel. Also ich habe sehr viele Gespräche mit betroffenen Frauen geführt. Am Anfang war es sehr, sehr schwierig, an sie heranzukommen und überhaupt, dass sie sich öffnen, und dann ist es aber immer besser geworden, je besser ich verstanden habe, wie ich auch das Gespräch führen kann. Ich habe eine Recherchereise nach Nigeria gemacht, also dort auch speziell nach Benin City, wo die meisten Frauen herkommen. Dort habe ich auch mit sehr vielen Menschen geredet, auch Frauen, auch NGOs. Es ist natürlich ein Spielfilm, es ist eine fiktionalisierte Geschichte, aber sehr viele echte Geschichten und dokumentarische Recherche sind eingeflossen in den Film.

"Das hat sehr viel mit sehr traumatischen Dingen zu tun"

Wellinski: Das wollte ich gerade sagen, so viel Recherche, da kann man ja sich ja fast schon einen Dokumentarfilm vorstellen. Was konnten Sie denn jetzt mit einem fiktionalen Spielfilm noch mehr herausarbeiten an dem Stoff, als zum Beispiel an einem ganz klassischen Dokumentarfilm?
Mortezai: Gut, abgesehen mal davon, dass ich wirklich gerne einen Spielfilm machen wollte, auch aus künstlerischer Hinsicht, muss man auch sagen, ich würde das ethisch auch sehr merkwürdig finden, jetzt mit betroffenen Frauen einen Dokumentarfilm zu machen. Es ist sehr privat, das hat sehr viel mit sehr traumatischen Dingen zu tun. Ich glaube, die meisten Frauen würden das gar nicht wollen, dass sie vor der Kamera diese Sachen von sich preisgeben, und ich würde es auch nicht wollen von ihnen, und dann die Gesichter zu verpixeln oder solche Dinge. Das ist dann so reportagehaft, das hätte mich sowieso nicht interessiert, und so habe ich Darstellerinnen, die Rollen spielen, die zwar sozusagen diese Welt sehr gut kennen und auch ihre eigenen Geschichten und Erlebnisse mit einbringen, aber das ist nicht ihre Geschichte, die erzählt wird, und nicht ihre Person, die da auf dem Spiel steht.
Wellinski: Es gibt viele Orte, die wir in dem Film besuchen, und ein besonders interessanter Ort ist natürlich dort, wo die Frauen zusammen wohnen. Es ist ja eine Gemeinschaft. Die kennen sich natürlich erst vor Ort, das ist ja keine Familie, und trotzdem habe ich das Gefühl, diese Frauen, obwohl sie sich prostituieren, obwohl ihre Pässe eingezogen sind und sie sich nicht gegen die Madame wirklich durchsetzen können, flechten sie sich die Haare, lästern auch ein bisschen gemeinsam. Wieso war es Ihnen wichtig, auch diese Gemeinschaft so quasi als Familie, als Ersatzfamilie zu zeigen?
Mortezai: Weil ich es sehr oft so erlebt habe in Recherche, weil ich das Gefühl hatte, dass die Frauen in dieser Notgemeinschaft, in der sie zusammengewürfelt sind, sich wirklich eine neue Familie auch bauen, und ich glaube, das ist auch was sehr Menschliches. Egal, wie verfahren die Situation ist oder wie hoffnungslos, wir holen uns was daraus, und die Lebenslust und Lebensfreude ist ja trotzdem da. Das finde ich jetzt nicht einmal so erstaunlich, es ist menschlich, und ich fand es aber auch einerseits schön, andererseits auch sehr ambivalent, weil zugleich kämpft jede für sich allein, sie sind ja auch Rivalinnen, sie sind Komplizinnen in einem System, wo sie Opfer und Täterin zugleich sind, aber trotzdem ist auch so eine Sisterhood, hatte ich das Gefühl, wo sie sich sehr nahekommen, teilweise auch, weil sie auch sehr eng zusammen wohnen müssen, und da entsteht auch natürlich sehr viel Intimität, und da machen sie das Beste draus.

"Sie schwören, dass sie alle Schulden abbezahlen werden"

Wellinski: Das Interessante ist ja in dem Moment, wo Joy Precious – so heißt die junge Frau, die sie in den Job letztendlich einführt, merken wir, dass Joy ja doch auch Möglichkeiten hat. Zum einen hat sie eine Tochter, zum anderen hat sie auch einen Freier, der sagt, ich kaufe dich hier frei. Die Frauen bleiben häufig trotzdem da, und das Interessante ist, das ist eine Klammer nach Nigeria, sie sprechen nämlich von einem Fluch, von einem Zauber?
Mortezai: Ja, das ist so ein integraler Bestandteil von diesen Systemen Human Trafficking oder Menschenhandel aus Nigeria, dieser Juju-Fluch oder Juju-Schwur. Das ist auch ein anderer Name einfach nur für das, was wir als Voodoo kennen gemeinhin. Da gibt es diese native doctors, die ihren Schrein haben, und normalerweise, wenn eine junge Frau oder ein Mädchen nach Europa will oder getraffickt wird, wird sie zu so einem native doctor gebracht und muss dort einen Schwur leisten. Sie schwören, dass sie alle Schulden abbezahlen werden und dass sie niemals mit der Polizei zusammenarbeiten werden, die Trafficker nicht verraten und, und, und. Und die haben wirklich wahnsinnige Angst davor, dass sie sterben, wenn sie nicht Wort halten oder dass sie krank werden, wahnsinnig werden, dass die Familienmitglieder zu Schaden kommen. Also das ist ein sehr starkes Kontrollinstrument.

Wellinski: Sie werfen uns in "Joy" auch richtig rein in diese Community. Ich fand das sehr beeindruckend, auch was für Orte Sie gefunden haben, an denen Sie gedreht haben. Können Sie vielleicht erzählen, wie Sie dann auch – letztendlich ist es auch Recherche – die Drehorte – es gibt natürlich den Straßenstrich, dann Wohnung ist jetzt vielleicht zu viel gesagt, wo die Frauen wohnen –, wie sind Sie da vorgegangen, um eine gewisse, na ja, was heißt gewisse, eine sehr harte Authentizität zu erzeugen?
Mortezai: Diese harte Authentizität war mir total wichtig. Also ich freue mich auch, dass Sie es so ausdrücken, weil ich wollte die Zuschauer wirklich so mitten hineinstoßen, und alles, von der Ausstattung bis in die Kameraarbeit, Kostüme, ist so drauf ausgerichtet, dass es für uns als Zuschauer auch überhaupt kein Entkommen gibt, sondern dass wir mittendrin stecken mit den Frauen. Es basiert natürlich alles sehr stark auf Recherche. Die Orte sind schon sehr genau ausgewählt und auch sehr genau hergestellt. Dort, wo sie quasi jetzt nicht so vorgefunden wurden, diese Wohnung haben wir eingerichtet. Nur das war dann für mich zum Beispiel und auch für die Ausstatterinnen ein Riesenkompliment, als die Frauen das erste Mal in der Wohnung gedreht haben und eine der Frauen gesagt hat, und wo sind die Bewohner, sind die für die Zeit des Drehs ausgezogen. Sie war überzeugt, dass da Nigerianer wohnen, weil sie gemeint hat, selbst die richtigen Lebensmittel sind in der Küche, und das war mir halt so wichtig, dass die Details sehr genau stimmen, nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für die Darstellerinnen, dass sie sich sehr stark einfühlen können in diese Räume.


Wellinski: Das spielt zwar in Österreich, und hin und wieder öffnet sich der Film dann auch in das Österreich, das wir zum Beispiel kennen. Es gibt eine Szene, wo Joy vor einer Mitarbeiterin einer NGO sitzt, die ihr da raushelfen will. Es heißt, letztendlich soll ein Deal geschlossen werden. Joy sagt aus gegen die Madame und kommt vielleicht frei, vielleicht auch nicht frei. Also so richtig ein guter Deal ist das für sie gar nicht. Sie ist letztendlich, egal, was sie machen will, machtlos, hatte ich das Gefühl.
Die Regisseurin Sudabeh Mortezai bei der Verleihung des Österreichischen Filmpreises 2015
Die Regisseurin Sudabeh Mortezai bei der Verleihung des Österreichischen Filmpreises 2015.© picture alliance/dpa/Foto: Robert Newald
Mortezai: Ja, das wollte ich auch zeigen, wie wahnsinnig wenige Perspektiven diese Frauen haben, und ich glaube, wenn man das einmal wirklich versteht, versteht man auch, warum ein Opfer zur Täterin wird. Also wenn es keine anderen Perspektiven gibt und die einzige Methode, da rauszukommen, ist, einfach zur Täterin zu werden, dann wird es jeder Mensch machen, also dann wird es plötzlich nicht so etwas Spezielles, sondern das ist dann universell. Das mit der NGO ist eben so eine Sache. Also es ist in Österreich zum Beispiel so, wenn man in einem Asylverfahren ist, darf man ja nicht arbeiten. Es gibt eine Ausnahme davon, man darf in der Prostitution arbeiten. Das ist sehr speziell das Recht in Österreich. In anderen europäischen Ländern ist es natürlich teilweise anders.
Das heißt, dass diese Frauen stellen oft einen Asylantrag, die Madame weiß ganz genau, irgendwann mal werden sie abgeschoben, und hat kein Mitleid mit ihnen, sie sollen Hauptsache Geld machen bis dahin, und während aber dieses Verfahren läuft, können sie ganz legal als Prostituierte arbeiten. Es gibt staatliche Hilfe, und es gibt NGOs, die versuchen, die Frauen da rauszuholen, aber die Gesetzgebung hinkt da total nach. Sie können diesen Frauen nicht so viel anbieten. Also es gibt zwar Schutzwohnungen und Opferschutzprogramme, und da wird auch viel getan für die Frauen, aber letzten Endes ist es durchaus realistisch, dass die Frau trotzdem abgeschoben wird. Es gibt keine Restsicherheit, dass sie sagt, ich sage jetzt aus, und deswegen kann ich auch Asyl bekommen und ein Bleiberecht bekommen. So funktioniert das nicht. Und das wollte ich eben auch zeigen: Es gibt sozusagen immer wieder so Hoffnungsfenster für Joy, die sich so ein bisschen einen Spalt öffnen und dann wieder zugehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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